Viele junge Eltern wollen heute anders mit ihren Kindern umgehen als die Generationen zuvor. Dennoch finden sie sich häufig in Verhaltensweisen wieder, die sie eigentlich vermeiden wollen. Um aus dieser Falle herauszufinden, müssen Eltern sich mit sich und ihren Bedürfnissen auseinandersetzen – und einen liebevolleren Umgang mit sich selbst finden. Expertin Annette Müller erklärt, wie das geht, und verrät Notfallstrategien für besonders stressige Situationen.

Annette Müller. Foto: Sabrina Reifenberg

Annette Müller war Industriekauffrau. Als sie schwanger wurde, wünschte sie sich eine harmonische Beziehung mit ihrem Kind. Sie wünschte sich, es so zu stärken, dass es andere Erfahrungen machen würde als sie selbst, die in der frühen Kindheit Mobbing erlebt hatte.

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Als ihr erstes Kind drei Jahre alt war, musste Müller feststellen: Von einer harmonischen Beziehung mit ihm war sie weit entfernt. Regelmäßig reagierte sie anders, als sie es sich wünschte. Sie ließ sich von äußeren Ratschlägen leiten, zweifelte an sich, verurteilte sich.

Sie beschloss: So geht es nicht weiter.

Vielen jungen Eltern erleben ähnliches wie Annette Müller. Sie wollen anders mit ihren Kindern umgehen, als es frühere Generationen getan haben, wollen gelassen und bedürfnisorientiert auf sie eingehen.

Doch kaum ist zum Beispiel der Morgen wieder einmal stressig, finden sich viele in alten Mustern wieder, schreien ihre Kinder an und sind plötzlich ganz weit weg von der Vorstellung, die sie von sich selbst als Eltern haben. Stattdessen sehen sie sich Verhaltensweisen wiederholen, die sie selbst als Kinder erlebt haben.

Woher komme ich?

In dem Moment, wo Erwachsene Eltern werden, kommt ganz viel von der eigenen Herkunftsfamiliengeschichte wieder, sagt Nina Tackenberg von der Katholischen Ehe-, Lebens- und Familienberatung. Eigene, neu gewonnene Vorstellungen von Erziehung kollidieren dann mit alten Glaubenssätzen wie „Du darfst das Kind nicht verwöhnen“ oder „Du darfst nicht für dich selbst sorgen“. 

Siehe auch: Familienrat: Die Krise als Normalfall

Damit, sagt sie, sollte man sich auseinandersetzen. Am besten schon bevor ein Kind geboren wird, denn sobald man 24 Stunden mit einem Baby beschäftigt sei, könne man sich damit (erst einmal) kaum mehr rational beschäftigen.

Vielen Eltern, insbesondere Müttern, fehlt die Verbindung zu sich selbstAnnette Müller

Annette Müller begann sich damit auseinanderzusetzen, als ihr erstes Kind vier Jahre alt war und ihr zweites knapp eins. Nachdem sie beschlossen hatte, dass sich etwas ändern musste, absolvierte sie eine Ausbildung zur Selbstbehauptungs- und Resilienztrainerin, dann eine weitere zur Starkmacher-Mentorin.

Sie sagt: „Es beginnt bei uns.“ Von der Betroffenen ist sie zur Expertin geworden, die heute andere Eltern, Pädagog:innen und Kinder stärkt.

„Vielen Eltern, insbesondere Müttern, fehlt die Verbindung zu sich selbst“, sagt Müller. Sie glauben, sie „müssen funktionieren“, sie dürfen ihren Kindern nicht sagen, dass sie einen Moment für sich brauchen. Sie lassen sich von negativen Gedanken und Gefühlen leiten. „Wie wir denken, so wird auch unser Alltag sein“, sagt Müller.

Wenn das Kind dann im morgendlichen Stress nicht die Mütze anziehen will, obwohl draußen Schnee liegt, passiert es: Der ganze aufgestaute Druck entlädt sich, wie ein Vulkan, der überbrodelt.

Selbst-Bewusstsein: Wer bin ich, was brauche ich?

Was Eltern benötigen, damit das irgendwann nicht mehr passiert: Selbst-Bewusstsein. Die Erlaubnis, sich – gerade in stressigen Situationen – einen Moment zu nehmen, in sich hinein zu spüren und sich zu fragen: Was brauche ich?

Aber wie lernt man das als erwachsener Mensch, der es ein Leben lang anders gemacht hat?

Annette Müller sagt: „Ganz am Anfang steht die Entscheidung, etwas zu ändern.“

Dann geht es erst einmal darum, sich Wissen anzueignen. Sei es online, in Büchern, Podcasts oder Kursen.

Es muss nicht perfekt sein!Annette Müller

Sie erzählt, mit welchen Fragen sie sich damals selbst auseinandersetzte: Was will ich eigentlich? Welche Bedürfnisse habe ich, und welche davon sind vielleicht nicht erfüllt? Wie kann ich anders leben?

Ruheinseln im Alltag schaffen. Symbolbild: Pexels

Wenn man gelernt hat, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, empfiehlt Müller, mit der Familie in Kommunikation zu gehen. Kindern (und Partner:in) zu sagen, was man braucht, was man will. Und, für sich selbst, aber auch gemeinsam mit ihnen zu überlegen, wie man diese Bedürfnisse erfüllen kann.

Wichtig sei es, sich regelmäßig Ruheinseln im Alltag zu schaffen. Dinge, die einem kurzfristig Energie geben. Wie die aussehen, ist ganz individuell: eine Tasse Kaffee, eine Runde Yoga, kurz rausgehen. Für Müller ist es das Klavierspielen. „Ein Lied, und ich bin wieder da.“ Auch wenn ihr Kleiner, inzwischen drei Jahre alt, mitklimpert.

Denn, auch das ist ihr wichtig: „Es muss nicht perfekt sein!“

Kostenloser Starkmacher-Kurs: Im Februar startet der Online-Kurs „Starkmacher“, für alle, die sich einen neuen Umgang mit Kindern wünschen. Eltern lernen dort in ihrem eigenen Tempo sich und ihre Bedürfnisse kennen, stärkende Kommunikation und wie sie eine tiefe Verbindung zu ihren Kindern aufbauen können. Der Kurs ist dank der Förderung durch die Bergisch Gladbacher Isotec Jugendhilfe kostenfrei.

Das „Growth Mindset“

Eine weitere Ebene, auf der man sich als Eltern stärken kann und sollte, ist eine ganz grundsätzliche Einstellung. Annette Müller nennt es das „Growth Mindset“. Anstatt sich selbst zu sagen „das kann ich nicht“, kann man üben, sich zu sagen: „Das kann ich noch nicht. Aber ich kann es lernen.“ Oder auch „Das ist nicht mein Potenzial. Aber das ist okay, ich kann andere Dinge.“

Müller sagt: „Die meisten Eltern sind zu streng mit sich.“ Sie denken: Ich muss leisten, ich darf nicht krank werden, ich bin schon wieder laut geworden.

Stattdessen könne man (immer wieder) liebevoll zu sich selbst sagen: „Ich bin eine gute Mutter, ein guter Vater. Ich gebe das Beste, was ich gerade geben kann. Ich kann lernen und wachsen.“ Herausforderungen werden so zu Wachstumsmöglichkeiten.

Anstatt in Selbstvorwürfe zu gehen, wenn man doch einmal wieder in alte Muster gefallen und zum Beispiel laut geworden ist, kann man sich sagen: Es ist okay. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, aber ich kann daraus lernen. Man kann sich bei seinem Kind entschuldigen und, vielleicht mit ihm zusammen, reflektieren: Warum bin ich laut geworden? Was kann ich, was können wir morgen anders machen?

Wenn es zum Beispiel immer wieder am Morgen knallt, kann man überlegen, ob man die Situation auf Dauer entstressen kann, indem man zehn Minuten früher aufsteht.

Notfallstrategien

Wer lernt, in sich hinein zu spüren, stellt frühzeitig fest, wenn der innere Vulkan beginnt zu brodeln – und kann reagieren, bevor es zu einer Explosion kommt.

Zum Beispiel, indem man überlegt, wo man hin will – im übertragenen Sinn oder ganz buchstäblich, etwa am Morgen: „Ich will mein Kind in die Schule bringen, und wir müssen pünktlich sein.“ Das sorgt für Klarheit, sich selbst und dem Kind gegenüber.

Dieser Text ist zuerst im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer erschienen. Er richtet sich an die Eltern (und Großeltern) jüngerer Kinder, hier können Sie ihn kostenlos bestellen.

Hilfreich sind auch Notfallstrategien. Zum Beispiel: in einen Spiegel schauen, sagen „ich schaffe das“ und dreimal tief ein- und ausatmen. Das reguliert den Körper.

Oder ein Ortswechsel, vielleicht ein Spiel: Wer kann schneller seine Schuhe anziehen?

Dann empfiehlt Müller, mit dem Kind in die Kommunikation zu gehen, etwa so: „Ich fühle mich gestresst, das macht was mit mir, und das überträgt sich auch auf dich. Ich brauche jetzt deine Hilfe, zieh dir bitte deine Schuhe an.“

Liebe gegen Wut

Symbolbild: Pixabay

Manchmal funktioniert das – manchmal nicht. Denn: Kinder haben feine Antennen, sie spüren, wenn ihre Eltern unter Druck stehen. Und schaffen es dann mitunter nicht, selbst aus dem Druck herauszukommen und zu kooperieren.

In diesem Fall wäre eine mögliche Strategie, aus der Situation herauszugehen. Wenn es zum Beispiel beim Schuhe-Anziehen hakt, werden die Schuhe erst einmal links liegen gelassen und die Jacke angezogen.

Derweil kann man sich fragen: Wie kann ich das Kind dahin bringen, dass es den Weg mit mir gemeinsam geht? Was braucht das Kind? Was brauche ich?

„Das sind manchmal banale Sachen, die so eine Situation auflösen“, sagt Annette Müller. Gerade, wenn die Wut brodelt, ist es häufig der Gegenpol, der uns hilft: Liebe. „Vielleicht sagt man dann: Weißt du was, ich setze mich mal zu dir auf die Treppe und atme dreimal ein und aus, und dann brauche ich eine Umarmung von dir.“

Ganz oft, sagt Müller, ist es auch das, was Kindern unter Druck hilft.


Annette Müller arbeitet in Bergisch Gladbach und Umgebung als Mentorin für Familien. Ab Februar wird sie einen Starkmacher-Kurs für Kinder und Eltern in Moitzfeld anbieten. Nähere Infos dazu finden Interessierte in Kürze auf ihrem Instagram-Profil oder auf Anfrage per E-Mail an annette-sandra@web.de. Ihr könnt sie auch über ihr Profil bei Stark ins Neue kontaktieren.

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ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

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