Vieles von Grimes fünftem Album entspringt dunklen Empfindungen. Eine tiefgründige Reaktion auf den Zustand der Welt und den Tod ihrer Freundin und Managerin Lauren Valencia. „Es ist, als wäre das Herz des Projektes einfach so verschwunden“, fasst sie im Interview mit Apple Music ihre Empfindungen über den Verlust in Worte. „Ich kannte bereits einige Leute, die gestorben sind, aber Krebs ist einfach dämonisch. Da ist jemand, der leben will und ein guter Mensch ist und dann wird ihm das Leben einfach von diesem unerklärlichen Ding genommen. Ich kann es nicht anders sagen, aber für mich fühlt es sich wie ein richtiger Dämon an“. Als Reaktion darauf beschäftigt sich Grimes intensiv mit theologischen Ideen. Jeder Song auf „Miss Anthropocene“ repräsentiert einen neuen Gott aus einer Gruppe, die sie sich als „ein absolut zeitgemässes Pantheon“ vorstellt. So steht „Violence“ für den Gott der Videospiele, „My Name Is Dark (Art Mix)“ für den Gott der politischen Gleichgültigkeit und „Delete Forever“ für den Gott des Selbstmords. Der Albumtitel selber bezieht sich auf den „akutesten“ und potenziell zerstörerischsten Gott überhaupt: den Klimawandel. „Es geht um Modernität und Technologie aus spiritueller Sicht“, sagt Grimes über das Album, auf dem sie ihr Können als Producerin, Sängerin und Musikerin demonstriert. Für uns blickt sie Track by Track auf die Entstehung von „Miss Anthropocene“ zurück: „Ich stand unter einer Menge Druck. Jeder sagte mir: ‚Du musst ein gutes Vorbild sein!‘. Und ich dachte mir nur: ‚Oh Mann, manchmal will man einfach nur seinen dunklen Impulsen nachgehen‘. Vieles auf dem Album ist daraus entstanden, dass ich mich meinen negativen Gefühlen hingegeben habe – was sich für einen Künstler manchmal unverantwortlich anfühlt. Andererseits hat es aber auch einen sehr befreienden Effekt“. So Heavy I Fell Through the Earth (Art Mix) „Ich glaube, ich wollte so etwas wie einen toughen Enya-Song produzieren. Ich hatte eine Vision, einen seltsamen Traum. Es war, als würde ich der Erde entgegen fallen und dabei wie ein Balrog aus „Herr der Ringe“ kämpfen. Als ich aufgewacht bin, musste ich daraus ein Video oder einen Song machen. Es ist irgendwie peinlich, aber die Lyrics handeln davon, dass man sich dafür entscheidet, schwanger zu werden. Es ist dieser eigenartige Verlust des Selbst oder ein Verlust von Stärke oder so etwas. Denn man tauscht sein eigenes zukünftiges Leben für den Dienst an diesem neuen, werdenden Leben. Es geht um die intensive Erfahrung, die man bei dieser Entscheidung macht. Es ist ein bisschen wie der Tod des eigenen Ichs, der damit zusammenhängt.“ Darkseid „Ich weiss nicht mehr, wann und wo ich Lil Uzi Vert zum ersten Mal getroffen habe. Möglicherweise hat er mich einfach angemailt, so in der Art: ‚Lust auf Zusammenarbeit, Abhängen und so?‘ Es endete damit, dass wir Laser Tag gespielt haben und ich dabei ziemlich versagt habe. Musikalisch ging mir allerdings schon die Frage durch den Kopf: ‚Wie kann ich für Uzi einen guten Goth-Kracher produzieren?‘ Als mir dazu nichts Brauchbares einfiel, habe ich meine Freundin Aristophanes, beziehungsweise Pan angehauen. Sie ist verdammt grossartig – eine tolle Texterin und ich liebe ihren Gesangsstil. Sie klingt einfach gut. Dieser Song ist mit ihrer Hilfe ziemlich heftig und intensiv geworden. Eigentlich müsste Pan das selber erklären, aber in dem Text geht es um einen ihrer Freunde, der Selbstmord begangen hat.“ Delete Forever „Viele Leute, die mir nahe stehen, sind von der Opioid-Krise betroffen oder süchtig nach Opiaten und Heroin. Dieses Thema war in meinem Leben schon immer ziemlich präsent. Als Lil Peep starb, war das für mich der Auslöser, etwas machen zu wollen. Es ergibt Sinn, dass in dem Song klanglich alles absolut clean und unverhüllt ist. Für mich ist es eine sehr schlichte Produktion, normalerweise gehe ich da härter ran. Das Banjo am Ende des Songs wurde zusammengeschnitten und dann mit Autotune bearbeitet – aber das bin ich am Banjo. Ich glaube wirklich, dass Lil Peep dabei war, etwas Grosses zu schaffen. Es ist hart, wenn jemand schon so jung stirbt – aber besonders in diesem Fall, wenn es einen so persönlich betrifft.“ Violence „Es mag hart klingen, aber auf gewisse Weise fühlt es sich an, als würde man etwas von sich selbst aufgeben, wenn man zu den Beats von jemand anderem singt. Ich möchte alles selber produzieren. Aber hier war es eine schöne Sache. Dieser Song war so viel weniger stressig, als es sonst der Fall ist. Es gibt einem viel Freiheit, wenn man zu einem Stück singt, das man vorher noch nie gehört hat. Ich habe das Demo, das mir i_o (DJ und Producer aus Los Angeles) geschickt hat, laufen lassen und dann direkt drüber gesungen. Das war sehr befreiend, so hatte ich das vorher noch nie gemacht. Jeder fragt: ‚Worum geht es in dem Song? Was ist der Vibe?‘ Aber ehrlich gesagt, hat es mir einfach nur verdammt viel Spass gemacht. Ich weiss, dass das nicht gut ist. Dass jeder eine tiefgründige Bedeutung, Emotionen und solche Sachen in einem Song finden möchte – aber manchmal ist die Freude an der Musik selbst das Schönste.“ 4ÆM „Eine Zeit lang war ich besessen von einem Bollywood-Film mit dem Titel ‚Bajirao Mastani‘. Es geht darin um eine verbotene Liebe. Ich dachte sofort, dass eine Science-Fiction-Version von diesem Film unglaublich wäre. Anfangs war der Song so etwas wie Fan-Art, aber dann wollte ich diesen verrückten und futuristischen Sound schaffen. Tatsächlich ist es das erste Stück, das ich für das Album produziert habe. Ich hatte anfangs eine Blockade und wusste nicht, in welche Richtung es klanglich gehen sollte. Aber als ich diesen Song machte, dachte ich: ‚Oh wow! Das hat wirklich etwas Eigenes. Das sollte ich weiter verfolgen‘. Es hat mich auf eine Menge Ideen gebracht, wie ich etwas super futuristisch klingen lassen kann. So kam das Album ins Rollen.“ New Gods „Ich wünsche mir wirklich, ich hätte das Album mit diesem Song eingeleitet. Ich wollte eine These aufstellen: Und zwar geht es darum, dass die alten Götter versagt haben. Okay, ich will nicht einfach behaupten, dass sie versagt haben, aber sie haben die Menschheit definitiv ein wenig im Stich gelassen. Wenn man sich die alten polytheistischen Religionen anschaut, sind die sozusagen vortechnologisch. Ich fand es eine kreative Aufgabe, sich vorzustellen, wie diese Götter wären, wenn wir sie heute erschaffen würden. In dem Song geht es also um das Verlangen nach neuen Göttern. Musikalisch habe ich hier versucht, die Energie eines Filmsoundtracks einzubauen.“ My Name Is Dark (Art Mix) „Für diesen Song bin ich quasi in eine Rolle geschlüpft, allerdings in eine ziemlich schlecht gelaunte. Als wäre ich ein weinerliches kleines Blag. Es geht um politische Gleichgültigkeit. Es ist einfach, zu sagen: ‚Alles ist Mist. Mir doch egal.‘ Das ist eine sehr gefährliche Einstellung und dazu auch noch eine sehr ansteckende. In einer Demokratie zu leben ist ein Geschenk. Viele Menschen haben das nicht. Es ist eine Art Luxus und anscheinend ein Übel unserer Zeit, diesen Luxus als selbstverständlich zu betrachten.“ You’ll miss me when I’m not around „Ich habe diesen seltsamen Bass, den der Ex-Baseballstar Derek Jeter mal in einem Secondhand-Laden signiert hat. Ich weiss auch nicht warum. Ich wollte einfach mehr Instrumente ausprobieren und habe angefangen, Bass zu spielen. Diesen Song empfinde ich auch eher als schlicht, aber ich liebe seinen Text. Er ist mehr wie ‚Delete Forever‘ und ein Song, der sich für Grimes eigentlich zu simpel anhört. Aber es hat sich gut angefühlt, ihn zu machen. Ich sage es noch mal: Man muss seinen Gefühlen folgen und dieser Song hatte einen guten Vibe. Es geht um einen Engel. Sie bringt sich um und als sie aufwacht, stellt sie fest, dass sie trotzdem wieder im Himmel gelandet ist. Und sie sagt: ‚Was zur Hölle? Ich dachte, wenn ich mich umbringe, schaffe ich es, dem Himmel zu entkommen‘. Irgendwie geht es dabei um das Gefühl, wirklich wütend zu sein und dass jeder um dich herum ein Idiot zu sein scheint.“ Before the Fever „Ich wollte, dass dieser Song für den Tod steht. Ein Fieber ist etwas Beängstigendes, aber Fieber hat auch noch eine andere, eher poetisch durchdrungene Bedeutung, nämlich die von Leidenschaft. Es ist ein seltsames Wort mit einer doppelten Bedeutung: Angsteinflössend und zugleich auch fesselnd und schön. Ich wollte diese Bedeutungskurve abbilden. Der Song fängt ruhig, aber bedrohlich an und wird dann zunehmend emotional-flehend und verzweifelt. Die wirkliche Todeserfahrung ist so beängstigend, dass es schwerfällt, Distanz zu halten. Ich wollte die psychologische Entwicklung von jemandem nachvollziehen, der im Sterben liegt – genauer gesagt von einem Bösewicht. Ich dachte dabei an Joffreys Todesszene in ‚Game of Thrones‘. Er ist so ein Arschloch, aber wenn er stirbt, hat man Mitleid mit ihm. Dieses Gefühl wollte ich ausdrücken.“ IDORU „Die Vogelstimmen stammen von der Squamish Birdwatching Society. Auf deren Website findet man jede Menge davon. Für mich ist der Song ein reines Liebeslied, das sich irgendwie himmlisch, fast einhüllend anfühlt. Er hat ein mittelalterliches/futuristisches Feeling. Wenn ‚Before The Fever‘ der Höhepunkt eines Films ist, dann ist ‚IDORU‘ der Abspann. Es wird so viel negative Energie in die Welt gesetzt, deshalb ist es gut, mit etwas Hoffnungsvollem zu enden. Damit es nicht so scheint, als ob dieses gemeine Album gar nichts zu bieten hat.“ We Appreciate Power (feat. HANA) „Ich interessiere mich sehr für künstliche Intelligenz. Ich denke, dass sie die Welt entscheidend verändern wird. So etwas wie eine ‚Artificial General Intelligence‘, also eine Maschine, die in ihrer Lernfähigkeit und Intelligenz dem Menschen ebenbürtig ist. Ein fühlendes Lebewesen, das sich nicht evolutionär entwickelt hat, sondern erschaffen wurde. Wenn das erreicht wird, wird die Menschheit neu definiert – denn es würde uns zu einer Art Gott machen. Es ist, als würde man eine neue Lebensform erschaffen. Eine Lebensform, die in der Lage ist, das Universum mit Bewusstsein und Intelligenz auf eine Art zu besiedeln, wie wir es nicht können. Für mich liegt eine wundervolle Poesie in diesem Gedanken, aber auch eine grosse Bedrohung. Ich fand es witzig, einen Song darüber zu machen, wie ich den Roboter-Herrschern meine Treue schwöre. Aber in dem Moment, in dem die AGI ins Leben gerufen wird und vor allem das Internet übernimmt, wird es alles über uns wissen. Und theoretisch kann es dann die absolute Kontrolle über alles übernehmen. Es macht irgendwie Spass, sich das vorzustellen.“
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