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30 Jahre Ausnahmezustand in der Börsengeschichte gehen zu Ende
Weiß ein Fisch, dass er im Wasser schwimmt? Solange er nicht auf dem Trockenen zappelt, wahrscheinlich nicht. Das Beispiel soll verdeutlichen, wie schwierig es sein kann, das Paradigma, in dem man lebt, zu erkennen – bis es zu einer abrupten Veränderung kommt.
Zinsen sind die Belohnung dafür, dass Sparer ihren Konsum in der Gegenwart aufschieben. Ohne positive Zinssätze werden Marktsignale in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten verzerrt. Ohne Zinsen werden auch unrentierliche Projekte finanziert, Vermögenswerte aufgebläht und Kapital fehlgeleitet.
In den 2010er-Jahren war das wirtschaftliche und finanzielle Umfeld von sehr niedrigen Zinsen geprägt, die teilweise den Nullpunkt erreichten und sogar in den negativen Bereich abrutschten. Die Finanzmärkte bewegten sich folglich in einem Umfeld außergewöhnlicher Renditen, unterdurchschnittlicher Volatilität und niedriger als durchschnittlicher Korrelation. Bis 2022, als sich das Paradigma verschob.
Was sind drei Jahrzehnte gegenüber drei Jahrhunderten?
Vom Zinsschock des Jahres 2022 noch immer erschüttert, sehen sich Investoren mit einer scheinbaren Anomalie konfrontiert: der inzwischen wieder positiven, über Jahrhunderte tradierten Korrelation zwischen Aktien und Anleihen. Doch die schmerzhafte Realität ist, dass das Jahr 2022 bei einer langfristigen Betrachtung gar nicht so speziell war. Es dient vielmehr als Beispiel für die Gefahren, die entstehen, wenn man zulässt, dass die jüngere Vergangenheit langanhaltende historische Muster verdeckt. Das Paradigma ist lediglich zu seiner natürlichen Form zurückgekehrt, da die Zinsen sich zu normalisieren beginnen.
Schon früher haben wir davor gewarnt, dass die vergangenen Jahrzehnte negativer Korrelation nicht nachhaltig sein können. Die historische Korrelation wird in der nachstehenden Grafik veranschaulicht. Sie reicht in Großbritannien drei Jahrhunderte zurück, in den Vereinigten Staaten zwei Jahrhunderte.
Grafik: Über Jahrhunderte waren Aktien- und Anleiherenditen im Allgemeinen korreliert
Der Paradigmenwechsel ist eine eindringliche Erinnerung daran, dass Investoren gut beraten sind, ihre Anlagestrategien im Kontext langfristiger Trends und nicht nur anhand kurzfristiger Marktbewegungen zu bewerten. Es ist ein Weckruf für alle, die sich in der trügerischen Sicherheit der jüngsten Vergangenheit gewiegt haben.
Wie der Fisch im eingangs erwähnten Beispiel sind viele Marktteilnehmer heute überrascht, weil ihre bisherigen Erfahrungen ihnen etwas anderes vermittelt haben.
Die Essenz aller Anlagen: Cashflows
Anleger fassen unterschiedliche Investitionen unter Etiketten wie Aktien und Anleihen, öffentliche und private Schulden, Wachstums- und Value-Aktien usw. zusammen. Obwohl diese Unterscheidungen natürlich ihre jeweiligen Bedeutungen haben, basieren sie alle letztlich auf einer Hoffnung und einem Versprechen: Cashflows.
Jede Investition erfordert eine Kapitalbindung seitens eines Sparers im Austausch für zukünftige Renditen, die ihn nicht nur für die Zeitbindung, sondern auch für das Risiko entschädigen, dass das Projekt scheitern könnte. Betrachtet man Sub-Asset-Klassen auf diese Weise, gibt es nur eine Asset-Klasse: Cashflows. Je vorhersehbarer oder stabiler die zukünftigen Cashflows sind, desto geringer sollte die Volatilität des Assets im Vergleich zu Assets mit größerem Zeit- und Cashflow-Risiko sein. Hier liegen normalerweise die Vorteile der Diversifikation: Ein Portfolio, dessen Renditequellen (zukünftige Cashflows) über Zeit und Risikostufen hinweg diversifiziert sind.
Die Illusion der Diversifikation: Aktien und Festverzinsliche
Obwohl es Diversifikationsvorteile zwischen Aktien und festverzinslichen Wertpapieren gegeben hat und weiterhin geben wird, wurden diese Vorteile in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund niedriger Inflation und künstlich gedrückter Zinsen überbewertet. Anleger, die in Aktien und Anleihen investiert waren, erfreuten sich nicht nur an überdurchschnittlichen Renditen bei abnormal niedriger Volatilität, sondern auch an außergewöhnlich hohen risikobereinigten Renditen.
Warum ist das wichtig?
Der Inflations- und Zinsschock von 2022 hat das Umfeld – das Wasser des Fisches – verändert. Während wir den Endwert der realen Zinssätze nicht vorhersagen können, sind wir sicherlich näher an einer normaleren Zinsumgebung als zuvor, was eine Normalisierung der langfristigen Beziehung zwischen Aktien und Anleihen impliziert. Anleger, die auf der Grundlage der jüngsten Vergangenheit bislang darauf vertrauten, Aktienfonds anhand der Sharpe Ratio direkt mit einem Anleihen-, Geldmarkt- oder auch einem Hedgefonds vergleichen zu können, sollten sich auf schmerzliche Underperformance einstellen.
Aktive Kapitalanlage wird wieder wichtig
Mit der Zeit werden jetzt Bereiche, in denen Kapital fehlallokiert wurde, offengelegt. Zum Beispiel werden Projekte und erwartete Cashflows unter der Last hoher Schuldenlasten zusammenbrechen. Schlecht laufende Projekte müssen rekapitalisiert werden.
Während sich die Korrelationen von Asset-Klassen wie Aktien und Anleihen normalisieren, kommt der Bedeutung der aktiven Wertpapierauswahl dadurch wieder eine immense Bedeutung zu.
Wir alle kennen das Zitat eines berühmten Investors: „Der Preis ist das, was man zahlt, aber der Wert ist das, was man bekommt.“ Unserer Ansicht nach sind viele Asset-Preise zwar hoch, aber der Wert einer Reihe von Finanzanlagen ist zu niedrig. Das Paradigma extrem niedriger Kapital- und Arbeitskosten hat sich gewandelt. Es wird – um noch einmal in unserem Bild zu bleiben – Fische geben, die günstigstenfalls in der Nahrungskette abrutschen und andere, die unwiederbringlich gefressen werden. Im Gegensatz dazu dürften die Fische, die in der Lage sind, auch im neuen Markumfeld Anlegern wiederkehrende Cashflows zu liefern, eine gesuchte Spezies sein.