Eines der Vorzeigeprojekte Europas gerät ins Wanken: Der grenzfreie Schengen-Raum wird von einer wachsenden Zahl von Ländern untergraben. Unter dem Vorwand der Migrations- oder Terrorismusbekämpfung werden die Grenzkontrollen zusehends ausgeweitet.
1995 schuf Europa einen Raum ohne Grenzen – Schengen. Die derzeitige Europäische Kommission hat ihn als „Kronjuwel der europäischen Integration“ und „das schlagende Herz Europas“ bezeichnet.
In den letzten 20 Jahren ist das Reisen durch Europa ohne Grenzunterbrechungen zur Norm geworden. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen durch übereifrige nationale Behörden, welche größtenteils mit der Migrationskrise im Jahr 2015 begannen, wirft hierbei einen Schatten auf eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration.
Wer heute mit dem Zug von Österreich nach Deutschland fährt, hat das Gefühl, dass Schengen nie existiert hat. Beim Überqueren der Grenze stoppt die Reise. Alle Türen außer einer sind geschlossen. Gut ausgerüstete Polizisten schlendern in den Zug und beginnen mit der Identitätskontrolle.
Die unmittelbaren Kosten: Verspätung bei jeder Fahrt und wirtschaftliche Verluste, da der Warentransport verlangsamt wird.
Aber eigentlich ist der wahre Schaden, dass jede einzelne Grenzkontrolle ein weiterer Fleck ist, der eines der greifbarsten Vorzeigeprojekte der EU besudelt.
Heute kann ein Reisender auf der Durchreise durch Europa mehr als ein Dutzend Mal angehalten werden, weil sich eine Gruppe von Ländern seit langem weigert, den Geist des Schengen-Raums aufrechtzuerhalten.
Ist Schengen also ein Scherbenhaufen? Die Meinungen gehen auseinander.
„Schengen befindet sich nicht in einer Krise. Was wir erleben, ist eine Gruppe von Mitgliedsstaaten, die sich nicht an die Rechtsstaatlichkeit halten“, sagt Sergio Carrera, Senior Fellow beim Brüsseler Think-Tank Centre for European Policy Studies (CEPS).
Heutzutage hat Frankreich an jeder seiner Grenzen wieder Grenzkontrollen eingerichtet – im Namen der Terrorismusbekämpfung. Unterdessen kontrolliert Deutschland seine Grenze zu Österreich und plant weitere Kontrollen an der polnischen und tschechischen Grenze. Österreich unterzieht slowenische Reisende einer ähnlichen Kontrolle.
Und dann sind da noch die nordischen Länder.
Norwegen, das zwar kein EU-Mitglied ist, aber dem Schengen-Raum angehört, führt Kontrollen in den Hafenstädten durch, in denen Reisende vom europäischen Festland ankommen. Schweden führt an allen seinen Grenzen Kontrollen durch, gibt aber kaum Einzelheiten bekannt. Regierungsbeamte haben auf Anfragen von Euractiv nicht geantwortet.
Kommission zeigt sich unbeeindruckt
Einige Beobachter befürchten jedoch, dass Schengen unter den Händen seiner reichsten Mitglieder leiden könnte.
„Schengen ist zumindest angeknackst“, sagte Leon Züllig, ein Schengen-Forscher an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Das Wesen von Schengen wurde „durch die Wiedereinführung von Kontrollen in den letzten Jahren untergraben“, bestätigte Sylvie Guillaume, eine sozialdemokratische EU-Abgeordnete aus Frankreich, die an der Spitze der Bemühungen um eine Reform des Systems steht.
Die europäische Herangehensweise an Schengen ist von einem gewissen Zwiespalt geprägt, den Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg gut auf den Punkt brachte.
„Wir Österreicher sind große Befürworter von Schengen als Staat in der Mitte Europas und große Profiteure davon“, sagte er am Mittwoch (27. September).
Aber „das System ist dysfunktional“, fügte er jedoch schnell hinzu. Ein Viertel der Schengen-Länder habe Grenzkontrollen eingeführt, von denen die Hälfte der Bevölkerung im Schengen-Raum betroffen sei.
Er erinnerte daran, dass Bundeskanzler Olaf Scholz gesagt habe, die deutschen Grenzkontrollen – die gut ausgerüsteten Polizisten, die in den Zug steigen – seien „unabdingbar.“
Und so sei Österreich „leider“ gezwungen, eigene Kontrollen an der slowenischen und ungarischen Grenze durchzuführen.
Die Europäische Kommission, die nicht übermäßig besorgt zu sein scheint, betrachtet insgesamt fünf Dimensionen, aus denen sich der Pakt zusammensetzt.
Dabei handelt es sich um den Schutz der Außengrenzen, die Wirksamkeit der Rückführung abgelehnter Asylbewerber, die Visapolitik, die polizeiliche Zusammenarbeit und das Funktionieren der groß angelegten Informationsmechanismen. Im Schengen-Bericht der EU für das Jahr 2023 wurden alle diese Bereiche mit über 75 Prozent bewertet.
Ist dieser Ansatz sinnvoll? Nicht für jeden.
„Dass die Kommission dem Schengen-Raum einen guten Zustand bescheinigt, erscheint angesichts der vielfältigen Grenzkontrollen, die tagtäglich durchgeführt werden, zumindest zweifelhaft“, erklärt Erik Marquardt, EU-Abgeordneter der Grünen aus Deutschland.
Populismus pur?
Im Vorfeld eines Treffens der EU-Innenminister schossen politische Erklärungen zur Einführung zusätzlicher Grenzkontrollen im Schengen-Raum wie Pilze aus dem Boden.
Angesichts der jüngsten Bilder tausender überwiegend junger männlicher Migranten, die auf der italienischen Insel Lampedusa ankamen, erklärte Wien schnell, dass es an seiner eigenen Grenze zu Italien Kontrollen durchführen werde.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die von ihrem laufenden Wahlkampf in Hessen geplagt ist, zog schnell nach und kündigte Grenzkontrollen an der polnischen und tschechischen Grenze an.
Bei Schengen-Experten stieß dieser Schritt auf wenig Gegenliebe. „Das können sie nicht machen. Das widerspricht der Idee des Schengen-Raums und den Verträgen“, sagte Carrera vom CEPS.
Die polnische Regierungspartei PiS kündigte Kontrollen auf der polnischen Seite der Grenze zu Deutschland und an der slowakischen Grenze an.
Marquardt sagte, die neuen Grenzkontrollen seien „nichts weiter als eine populistische Reaktion auf ein bestehendes Problem im Ausland.“ Er betonte, dass Maßnahmen wie die gut bewaffneten Polizisten, die im Zug nach Deutschland Ausweise kontrollieren, das Problem nicht lösen können.
„Abgesehen von Verzögerungen haben die Grenzkontrollen in Schengen wenig greifbare Auswirkungen: Eine Zurückweisung von Flüchtlingen ist nicht möglich, die Grenzpolizei kann nur den Asylantrag aufnehmen“, betonte der grüne Abgeordnete.
Elisabeth Christen, eine leitende Ökonomin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, vertrat eine ähnliche Ansicht und betonte auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Grenzkontrollen.
„Für jeden Grenzübertritt im Schengen-Raum reduziert sich der bilaterale Warenfluss laut Modellrechnungen um 2,7 Prozent“, so Christen.
Auch deutsche Wirtschaftsvertreter kritisierten die Entscheidung zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen. Sie befürchten die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Grenzregionen und die unvermeidliche Beeinträchtigung des Handels.
Leuchtet das Berlaymont noch?
Der Schengen-Experte Carrera nannte die heutige Situation eine „Rechtsstaatskrise“, während Züllig beklagte, dass „die Europäische Kommission so gut wie nichts tut, obwohl sie als Hüterin der Verträge eigentlich den Schengen-Raum verteidigen müsste.“
Carrera sagte, Brüssel solle aufhören, sich auf „diplomatische Verhandlungen hinter verschlossenen Türen mit den abtrünnigen Regierungen zu verlassen, da diese sich als völlig ineffektiv erwiesen haben.“
Leute wie Züllig – der selbst mitten in einer konzertierten Aktion steckt, um ein entscheidendes Gerichtsurteil zu Grenzkontrollen zu erzwingen, indem er sich weigert, polizeilichen Anordnungen Folge zu leisten – bekommen zunehmend Unterstützung vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.
Im Jahr 2022 urteilten die obersten Richter der EU, dass Österreichs Grenzkontrollen – die bis heute andauern – rechtswidrig sind, da sie über einen längeren Zeitraum andauern und weit über eine angemessene Vorsichtsmaßnahme hinausgehen.
Doch die Europäische Kommission scheint nicht bereit zu sein, sich darauf einzulassen. „Im Moment ist das Thema einfach zu politisch heikel. Und deshalb lässt sie die Finger davon“, fügte Züllig hinzu.
Schengen-Befürworter hoffen, dass eine neue Europäische Kommission nach den Europawahlen im Juni nächsten Jahres in der Lage sein wird, das Schengen-Thema in Angriff zu nehmen – vorausgesetzt, sie erhält starke Unterstützung vom Parlament.
In der Zwischenzeit sollte die wachsende Zahl von Ländern, die Grenzkontrollen einführen, „sofort vor Gericht gebracht werden und aufhören, dieses Thema zu politisieren“, sagte Carrera.
Die EU-Kommission sagt, sie arbeite daran, die „Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der wieder eingeführten Grenzkontrollen“ zu klären, sagte Kommissionssprecherin Anitta Hipper gegenüber Euractiv.
„Wir scheuen keine Anstrengungen, um die Mitgliedstaaten zu gemeinsamen Lösungen zu bringen“, fügte sie hinzu und verwies dabei auf den laufenden „Dialog“ mit den EU-Staaten.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic/Benjamin Fox]