Die französische Renaissance-Delegation im EU-Parlament wehrt sich vehement gegen den Migrationsdiskurs ihrer eigenen Regierung. Sie fürchten, die harte Linie des Innenministers könne zum Scheitern der gemeinsamen EU-Migrationspolitik beitragen.
Es ist eines der ersten Male, dass die Delegation, die 2019 nach Macrons Vorbild gegründet wurde, so lautstark Kritik an der neuen Koalitionsregierung übt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen im Sommer bildeten eine zersplitterte politische Landschaft in Frankreich und mit ihr eine ebenso fragile Regierungskoalition.
Der französische Innenminister Bruno Retailleau hat in der Migrationsfrage eine sehr repressive Haltung eingenommen. Die Europaabgeordneten der französischen Renaissance-Delegation in der Renew Europe-Fraktion wollen diese Haltung abmildern.
„Die Positionen des Innenministers [Retailleau] basieren zu oft allein auf Ideologie, auf Kosten der Nützlichkeit öffentlichen Handelns“, schrieben die Renaissance-Europaabgeordneten Valérie Hayer und Fabienne Keller am Dienstag (22. Oktober) in Le Monde.
Die Botschaft des Gastbeitrages ist umso bedeutender, als sie von der Fraktionsvorsitzenden von Renew sowie der Migrationsexpertin der Renaissance-Delegation und ehemaligen Berichterstatterin für den Migrationspakt verfasst wurde.
In vielerlei Hinsicht ist die Spaltung eine unvermeidliche Realität von Koalitionsregierungen, die für Frankreich neu ist. Sowohl die konservative Partei Les Républicains von Retailleau als auch die zentristische Renaissance, die Demokratische Bewegung (MoDem) und Horizons (alle Teil derselben liberalen Delegation im EU-Parlament) sind Koalitionspartner.
Bei einem politisch so sensiblen Thema wie der Migration besteht jedoch die Gefahr, dass die ideologische Spaltung die europäische Botschaft von Emmanuel Macron verwässert. Was im Europäischen Rat gesagt wird, spiegelt sich möglicherweise nicht in den Verhandlungen der Minister im Rat der EU wider, in dem Retailleau sitzt.
Macron gegen Retailleau
Retailleau hat sich wiederholt für die Idee der ‚Rückführungszentren‘ der Europäischen Kommission ausgesprochen. Dabei betonte er immer wieder, dass er sich vom Vorgehen der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni in der Migrationspolitik inspirieren lassen würde.
Emmanuel Macron hingegen äußerte sich „skeptisch“ gegenüber der Idee der ‚Rückführungszentren‘.
„[Seine] Faszination für sogenannte ‚innovative‘ Lösungen [einschließlich Rückführungszentren], die von rechtspopulistischen Staats- und Regierungschefs der EU vorgeschlagen werden, lässt uns fragen, wie nah Bruno Retailleaus Positionen an einigen der Argumente des Rassemblement National und seiner europäischen Verbündeten sind“, hieß es in dem Gastbeitrag von Hayer und Keller.
Die EU-Abgeordneten von Renaissance, mit denen Euractiv gesprochen hat, machen auch sehr deutlich, dass eine wirksame EU-Migrationspolitik mit der wirksamen Umsetzung des Migrationspakts beginne. Dabei handelt es sich um ein Paket neuer Gesetze, die im vergangenen Mai verabschiedet wurden und bis spätestens Mitte 2026 in nationales Recht umgesetzt werden müssen.
Andererseits möchte Retailleau, dass die Umsetzung des Pakts beschleunigt wird und mehr für die Abschiebung irregulärer Migranten getan wird. Gleichzeitig sollten Abkommen mit Drittstaaten unterzeichnet und Sanktionen gegen Herkunftsländer verhängt werden, die ihre Bürger nicht zurücknehmen wollen.
„Seine Haltung und seine Worte deuten darauf hin, dass er bereit ist, [den Migrationspakt] zu ignorieren“, erklärte der Europaabgeordnete Bernard Guetta von Renaissance gegenüber Euractiv „Ich bin mit der Regierung [in Einwanderungsfragen] nicht einer Meinung.“
Retailleau kündigte schließlich an, er werde in den ersten Monaten des Jahres 2025 einen neuen nationalen Einwanderungsgesetzentwurf vorlegen – den zwanzigsten in 20 Jahren. Die letzte Fassung wurde im Dezember 2023 mit Stimmen der Rechtspopulisten mühsam verabschiedet, die dies als „ideologischen Sieg“ feierten.
National orientierte Gesetze „tragen nicht zur effizienten Umsetzung [einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik] bei und führen zu einem Mangel an nachhaltigen Lösungen und einem fehlenden EU-weiten Dialog“, erklärte die Vorsitzende der EU-Delegation, Marie-Pierre Vedrenne, gegenüber Euractiv.
Die Ansicht, dass Retailleaus Darstellung ein Problem sei, werde von allen Delegationsmitgliedern „weitgehend geteilt“, meinte die Renaissance-Europaabgeordnete Stéphanie Yon-Courtin.
Sie befürchtet jedoch, dass zwei Jahre Wartezeit bis zur Umsetzung des Paktes „ein Gefühl der Leere und Tatenlosigkeit hinterlassen, das gefährlich ist und allen Europafeinden in die Hände spielt […]. Wir können Retailleau nicht dafür verantwortlich machen, dass er versucht, Lösungen zu finden, solange diese legal sind!“
Das Kabinett des französischen Ministers hat bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht auf die Bitte um einen Kommentar reagiert.
Die neue Regierung wurde am 21. September offiziell bekannt gegeben. Sie wird vom ehemaligen EU-Kommissar und Brexit-Unterhändler Michel Barnier angeführt.
Ganz oben auf der Agenda stand zuerst eine dringende Haushaltsreform, um das Defizit auszugleichen.
Die harte Linie in der Einwanderungspolitik steht auch unter dem Stern der neuen Mehrheitsverhältnisse in der französischen Nationalversammlung, die auf eine Unterstützung des rechtspopulistischen Rassemblement National angewiesen ist.
In der Praxis habe dies Retailleau, „freie Hand“ gegeben, seine Sicht der Dinge zu verbreiten, erklärte Keller vor einigen Wochen gegenüber Euractiv.
[Bearbeitet von Rajnish Singh/Kjeld Neubert]