Agilität - Praxisbeispiel: agiles Krisenmanagement (Teil 7)
Das Beispiel der Rhine-TEC GmbH zeigt, wie agile Unternehmensführung in der Krise funktioniert. Das Unternehmen überlebte die Krise nicht nur, sondern ging gestärkt aus ihr hervor, weil es gelang, alle Mittel und Kräfte auf das Entscheidende zu fokussieren und die entscheidenden Maßnahmen voranzutreiben.
Bei Rhine-TEC handelt es sich um ein Spin-off aus der FH Niederrhein. Man hatte die Idee für ein Medizinprodukt, mit dem sich eine wesentlich höhere Erfolgsquote bei Hornhauttransplantationen erreichen ließ. Gemeinsam mit der Uni Düsseldorf entwickelte und testete das Team von Prof. Dahmen den Prototypen und stellte ihn mehreren Medizinproduktehändlern vor. Als ein großer amerikanischer Fachhändler eine Erstbestellung über 10 Geräte und eine Anzahlung leistete, gründete Prof. Dahmen mit einem Partner die RHINE-TEC GmbH.
Bei der Recherche der technischen und gesetzlichen Forderungen teilte ihm ein „Experte“ mit, dass man als Hersteller dieses Produkts weder ein zertifiziertes QM-System noch ein Produktzertifikat benötige, weil es der niedrigsten Risikoklasse (1) angehöre. So fokussierte sich das Team zuerst auf Produktentwicklung und -erprobung.
Erst als sie Mitte September das Mustergerät in die USA versenden wollten, teilte man ihnen mit, dass es sich tatsächlich um ein aktives Medizinprodukt der Risikoklasse 2a handelte, für die man sowohl ein zertifiziertes QM-System (ISO 9001 / ISO 13485) als auch die Produktzertifizierung nach Anhang II der Richtlinie 93/42 EWG braucht.
Der Geschäftsführer erkannte sofort, dass das Unternehmen in eine existenzielle Krise gerutscht war. Er würde Anfang Januar Insolvenz anmelden müssen, wenn Rhine-TEC nicht die erforderlichen Zertifikate erhielt. Da niemand im Unternehmen über die erforderliche QM-Expertise verfügte, fragte er bei benannten Stellen nach einem Spezialisten für schwierige Fälle.
Als der Geschäftsführer mich anrief, war es eigentlich schon viel zu spät, da ein solches Projekt normalerweise 12-18 Monate dauert. Da eine Zertifizierung in so kurzer Zeit
als unmöglich galt, betraute er mich erst einmal nur mit einer Machbarkeitsanalyse. Hierfür führte ich gemeinsam mit einem Zertifizierungsauditor ein Systemaudit bzw. eine Risikoanalyse für das Produkt durch. Im Ergebnis erhielten wir einen ganzen Katalog von Abweichungen, den es schnellstens abzuarbeiten galt.
Als wir diese Abweichungen mit EFP bewerteten, erhielten wir eine nachvollziehbare und eindeutig priorisierte Maßnahmenliste, auf der ich ein zweistufiges Konzept zur Krisenbewältigung entwickelte.
Die erste Stufe enthielt alle Aufgaben zur Umsetzung der MUSS-Forderungen aus den jeweiligen Regelwerken. Die Nichterfüllung einer einzigen Forderung hätte zu einer Hauptabweichung und zur Nichterteilung des Zertifikats geführt.
Im nächsten Schritt bewertete ich den Ressourcenbedarf der Maßnahmen aus der ersten Konzeptphase mit EFP. Als ich dem Team danach mitteilte, dass das Projekt zu schaffen sei, wenn wir vom Notfall- auf den Krisenmodus umschalten. Hierfür vereinbarten wir folgende Regeln:
Danach machte ich mich an die Planung der 2. Konzeptstufe, die alle SOLL-Anforderungen aus den jeweiligen Regelwerken erhielt. Deren Nichterfüllung würde lediglich zu Nebenabweichungen führen, für deren Abstellung man normalerweise eine Nachfrist von 3-6 Monaten erhält. Bei der Bewertung ihrer Dringlichkeit und ihrer Auswirkungen erhielten diese entsprechend niedrigere Werte. Nachdem ich auch diese Bewertungsergebnisse und das Gesamtkonzept erläuterte, sagte das gesamte Team seine volle Unterstützung zu und der Geschäftsführer beauftragte mich mit der Projektleitung.
Im ersten Schritt richtete ich im Pausenraum eine Infowand ein. Neben dem Projektplan, den wir als Backlog nutzten, verfügte sie über ein Kanban-Board mit dessen Hilfe die Feinabstimmung mit Hilfe von selbstklebenden Post-its vornahmen. Da auf den Karten neben der Priorität (EPZ) auch der Fertigstellungstermin und der Verantwortliche stand, wusste jeder im Team, wie wichtig eine Maßnahme für den Projekterfolg ist und bis wann und durch wen die jeweilige Maßnahme umzusetzen ist.
Schon bald gehörten die 15-minütigen Standup-Meetings im Pausenraum zur täglichen Routine. Um 8:00 Uhr sagte jeder, was er am Vortag fertiggestellt hatte, woran er an diesem Tag arbeiten würde und ob er Unterstützung brauchte, weil ansonsten eine Terminüberschreitung drohe.
Freitags abends fand die wöchentliche Feedback-Runde statt. In ihr sprachen wir über alles, was gut funktioniert hatte und wo es noch klemmte. Wenn zusätzliche Maßnahmen beschlossen wurden, kamen auch diese ans Kanban-Board, wurden gemeinsam mit EFP bewertet und terminiert. Dasselbe machten wir auch mit den Abweichungen, die ich bei den internen Audits fand.
Gegen Ende November stieg die Nervosität, da jeder wusste, dass die Arbeitsplätze erst wieder sicher wären, wenn das Zertifizierungsaudit ohne Hauptabweichungen bestanden würde. Als die Zertifizierungsauditoren in der letzten Adventswoche erschienen, waren Sie sehr überrascht, was das Team in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt hatte.
Als der Leadauditor am Abend des 2. Tages verkündete, dass die meisten Forderungen zwar nur knapp erfüllt waren und dass er der DQS die Erteilung der Zertifikate empfehlen würde, atmeten alle erleichtert auf. Weil die Ausstellung der Zertifikate normalerweise 4-6 Wochen dauert, hatten wir mit dem Kunden vereinbart, dass er das Akkreditiv freigibt, sobald die DQS schriftlich bestätigt, dass Rhine-TEC die Unternehmens- und Produktzertifizierung erfolgreich bestanden hat.
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Als diese am 22.12. bei Rhine-TEC einging, leitete man diese sofort an den Kunden weiter. Sofort nach Freigabe des Akkreditivs wurden die 10 Geräte per Luftfracht verladen und termingerecht ausgeliefert.
Ab Mitte Januar arbeiteten wir die Aufgaben der 2. Phase in gewohnter Weise aber deutlich entspannter ab. Obwohl die Produktion in Q2 aufgrund neuer Aufträge von Einzel- auf Serienfertigung umgestellt werden musste, wurde das für Juni vereinbarte Nachaudit ohne eine einzige Abweichung bestanden.
Danach sagte der Geschäftsführer Herr Dimic über das EFP-basierte Krisenmanagement:
„Die ermittelten Prioritäten und das agile Vorgehen gaben uns allen die Sicherheit und die Struktur, die wir brauchten, um die schwere Zeit durchzuhalten. Erst so konnten wir uns voll auf das gemeinsame Ziel fokussieren und Rhine-TEC aus der Krise zum Erfolg führen.“
Für alle Seiteneinsteiger in diese Artikelreihe, hier ein kleiner Überblick der anderen Teile
Teil 7 Agilität - Praxisbeispiel: agiles Krisenmanagement
www.convek.com