Die Coronapandemie ist nicht vorbei. Dieser Eindruck entsteht zumindest in Bezug auf Hauptversammlungen. Denn obwohl wir Abstandsregeln und Masken längst ad acta gelegt haben, wollen die meisten Unternehmen ihre Hauptversammlungen weiterhin virtuell abhalten. Dadurch verlieren deutsche Konzerne stark an Glaubwürdigkeit.
Statt lebhaften Debatten heißt es im virtuellen Sinne: „1,5 Meter Abstand, bitte!” Denn die Fragen müssen bei Online-Hauptversammlungen vorab schriftlich eingereicht werden. Nur dann sind Rückfragen erlaubt. Das vermittelt einen schlechten Eindruck. Denn wer gut führt, muss sich vor vermeintlich gefährlichen Fragen auch nicht fürchten. Wenn sich Vorstände dieser Situation nicht stellen, bleibt ein fader Beigeschmack.
Allzu leicht lässt sich eine unbeantwortete Frage auf das Format schieben. Auch bei virtuellen Pressekonferenzen gibt es dieses Phänomen: Die unbequeme Frage haben wir im Chat leider übersehen. Schade, dann bis zum nächsten Jahr!
Dazu kommt, dass es bei virtuellen Veranstaltungen nun mal viel schwerer ist, einen Eindruck des Gegenübers zu bekommen. Unternehmen werden von Menschen geführt und diese Menschen wollen wir kennenlernen. Bei Veranstaltungen hört man immer wieder: „Schön, dass wir uns wieder treffen können.“ Einige Vorstände denken offenbar eher: „Schön, dass wir weiterhin auf Abstand sind.“
Ganz absurd wird es, wenn Unternehmen argumentieren, es sei nachhaltiger, Hauptversammlungen virtuell durchzuführen. Obwohl sie durch Online-Formate verhindern, dass Klimaaktivisten protestieren können oder Aktionäre kritische Fragen zu Nachhaltigkeitszielen stellen. Dialog? Nein danke! Auch an dieser Stelle gilt: Wer auf offene Fragen gute Antworten hat, muss sich nicht verstecken.
Nun ist es wieder Zeit für Abstand vom Abstand: Unternehmen sollten vollständig auf virtuelle Hauptversammlungen verzichten und sich wieder trauen, Veranstaltungen von Angesicht zu Angesicht durchzuführen. Zudem sollte der Bundestag den Beschluss rückgängig machen, wonach Unternehmen entscheiden dürfen, wie viele Fragen sie zulassen.
Eva Brendel ist Redakteurin bei FINANCE und DerTreasurer. Sie hat Kommunikationswissenschaft, VWL und Politik in Bamberg und Jena studiert. Neben dem Studium arbeitete Eva Brendel als freie Nachrichtenmoderatorin bei einem Lokalsender und moderierte eine eigene Podcast-Reihe.