(Über)Leben mit Reflexen
Warum ist die Erfassung der frühkindlichen Restreflexe in der KJP-Praxis so wichtig? Viele Erkrankungsbilder, mit denen Familien mit ihren Kindern uns aufsuchen haben Wahrnehmungsstörungen, Konzentrationsdefizite oder affektive Auffälligkeiten zum Inhalt. Es wäre im Rahmen einer ganzheitlichen Diagnostik und Therapie sträflich, mögliche Reflexeinflüsse zu übersehen, denn dadurch würde der Erfolg einer Behandlung verschlechtert bzw. manchmal ganz in Frage gestellt: Was genau könnte passieren? • Bei Aufmerksamkeitsstörungen könnte es geschehen, dass zu früh und zu hoch dosiert Medikamente eingesetzt werden, denn um wirksam zu sein muss das Medikament im Fall des Falles gegen den Reflex arbeiten. Was dabei herauskommt nennen die Forschungen eine Nichtansprechensquote auf ein Medikament und diese wird momentan mit 30% angesetzt. • Bei Impulsivität (dominanter MORO-Reflex) würden möglicherweise unnötigerweise Neuroleptika eingesetzt oder entsprechend höher dosiert mit der Möglichkeit von Nebenwirkungen • Bei Angststörungen (dominanter ATNR) könnte möglicherweise eine Psychotherapie – auch über Jahre durchgeführt – unwirksam sein. Wir müssen uns das so vorstellen, dass unser Körper durch Ereignisse vor, während oder kurz nach der Geburt gelernt hat, dass lebensbedrohliche Ereignisse eingetreten sind und er nur durch den Einsatz seines Alarm- und Lebensrettungssystems überleben konnte. Können wir uns vorstellen, wie es wäre in einem Land zu leben, in dem Bombenanschläge, der Einmarsch von Truppen oder Naturkatastrophen, wo Einbrüche und Plünderungen, wo Erschießungen auf offener Straße zum Alltag gehören? Nein? Wir wären in einem ständigen Alarmzustand. Wir würden um den Preis unserer Sicherheit in Kauf nehmen, dass uns unsere Vorsichtsmaßnahmen selbst einschränken. Das Überleben ist ja das Wichtigste überhaupt. Stellen Sie sich vor, der Einbruchalarm geht los und die Polizei wird benachrichtigt, nur weil Sie unvorsichtigerweise den Bewegungsmelder zwischen Wohnzimmer und Bad selbst ausgelöst haben. Nach dem dritten Mal regieren die Helfer sicherlich unwirsch. Sie müssen viele Unannehmlichkeiten aushalten, aber… Sie sind sicher und überleben! Und in genau so einem permanenten Alarmzustand befinde, Sie sich oder Ihr Kind, wenn diese Reflexe sich nicht ausreichend integriert haben (d.h. vom Alarmzustand 100% auf mindestens 25% herunter gegangen sind). Bei völlig unproblematischem Schwangerschafts- und Geburtsverlauf ist diese Integration bis zum Ende des ersten Lebensjahres bereits abgeschlossen. Von pathologisch restaktiven frühkindlichen Reflexen sprechen wir, wenn deren Aktivität über 25% liegt und auch noch nach dem 4,5.Lebensjahr nachweisbar sind. Und je nachdem, welcher Auslöser bei Ihrem Kind vorhanden war, gibt es eine individuelle Verteilung der noch restaktiven Reflexe, die die Handlungsmuster Ihres Kindes im Alltag beeinflussen. Ganz allgemein gilt: das Kind versucht über ein großes Mass an Kontrolle äußerer Abläufe die unabsichtliche Auslösung des (Reflex-)Alarms zu vermeiden. „Ich will bestimmen, was und wie wir es machen.“ „Ich mag Rituale und feste Abläufe aber keine spontanen Überraschungen.“ „Ich will bestimmen, was ich esse oder anziehe.“ „Ich mag keine zarte Berührung.“ „Ich mag bestimme Konsistenzen von Nahrung nicht im Mund haben.“ „Ich bin überempfindlich gegen Geräusche oder bestimmte Geschmacksrichtungen oder Gerüche.“ „Ich mag keine Berührungen von hinten.“ Man könnte hier noch mehr Beispiele anführen, aber ich bin sicher, dass einige Leser jetzt schon besondere Verhaltensweisen ihrer Kinder in einem neuen Licht sehen werden.
So geht es mir jedenfalls im Gespräch mit Eltern in der Praxis.