"1001 Wahrheit" Textschnipsel Teil 2

Warum dieses Buch?

Wenn ich in diesen Tagen Bilder von Flüchtlingen sehe, die in Deutschland

ankommen – oder sich nichts dringlicher wünschen als das –, dann

erinnere ich mich an meine eigene Flucht aus Teheran. Ich spüre noch

deutlich, wie sich der 5-jährige Reza wimmernd mit „Mama, Mama“ an

mich klammert. Mein Kopftuch ist verrutscht, und Reza befürchtet, ich

könne verhaftet werden.

Wenn wir in diesen Tagen fragen, ob der Islam zu Deutschland gehöre

und Willkommenskultur wieder durch „Leitkultur“ ersetzt wird,

so erinnere ich mich deutlich daran, wie skeptisch meine Familie meinen

iranischen Freund behandelte. Und wie ich im Iran meinen ersten

Kulturschock erlebte, als ich mit einer übergroßen Herzlichkeit

und Freude von einer mir bis dahin fremden Frau empfangen wurde

– meiner zukünftigen Schwiegermutter.

Im Iran erlebte ich gleich drei Epochen: Kaiserzeit, Revolution und

Krieg. Als ich begann, meine Abenteuer aufzuschreiben, tat ich das

zunächst für meine Kinder. Ich wollte ihnen die Geschichten erzählen,

wie es dazu gekommen war, dass sie eine glückliche Kindheit in

einer Villa erlebten und wir uns später nur mit dem Nötigsten retten

konnten.

Ich wollte ihnen erklären, was die nächtlichen Schüsse aus dem

Evin-Gefängnis bedeuteten, warum der Papa tagelang verschwunden

war, als die Luftschutz-Sirenen in Teheran heulten und wieso ich

um ein Haar von einem Pasdaran* erschossen worden wäre. Doch

während des Schreibens ist mir etwas ganz anderes klar geworden: Das

Leben in dieser fremden Kultur hat mein Leben enorm bereichert. Ich

habe Dinge erlebt, die noch heute mein Herz jubeln lassen.

Und ich habe Dinge erlebt, die auch jetzt noch mein Blut in Wallung

bringen. Trotzdem habe ich keinen Hass auf die, die mich bedrohten,

entwürdigten oder gar in Lebensgefahr brachten. Im Gegenteil: Ich

empfinde tiefe Dankbarkeit für all die Erlebnisse, die damit verbundenen

Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse.

Als ein paar Jahre nach meiner Rückkehr nach Deutschland unsere Ehe

zerbrach, war ich gezwungen, alleine drei kleine Kinder durchzubringen.

Die Erfahrung, sich von den Machenschaften und der Willkür der

Mullahs und Sittenwächter nicht unterkriegen zu lassen, half mir sehr,

auch mit den Widrigkeiten deutscher Bürokratie fertig zu werden. Die

Erfahrung, dass mein Leben mehr als nur einmal am seidenen Faden

hing, verlieh mir den Mut, mein Leben neu zu gestalten und mich als

Unternehmensberaterin selbständig zu machen. Und heute bin ich mir

sehr sicher, dass es mir ohne diese große Transformation nicht möglich

wäre, Menschen darin zu stärken, sich ihrer Fähigkeiten gewahr

zu werden und sie auf die großen Veränderungen in den Unternehmen

vorzubereiten.

Meine Zeit im Iran liegt schon eine Weile zurück. Die Themen Krieg

im Nahen Osten, der Umgang mit Flüchtlingen, die Auseinandersetzung

mit dem Islam sowie die wechselhafte Annäherung des Irans an

den Westen sind aber hochaktuell. Auch aus diesem Grunde habe ich

diesen Teil meiner Lebensgeschichte hier als Buch veröffentlicht.

Dies ist keine Geschichte meiner Fantasie, alles ist authentisch und

beruht auf tatsächlichen Begebenheiten. Allerdings habe ich mir erlaubt,

Namen und Orte zu verändern, nicht zuletzt, um mir lieb

gewordene Menschen zu schützen.

Christiane Amini