These 2: Agile Experimente sind schön — aber viel zu wenig.
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These 2: Agile Experimente sind schön — aber viel zu wenig.

(Dieser Beitrag ist Teil meiner Serie: Das böse A-Wort: Ist Agilität Auslauf- oder Zukunftsmodell?)

Die Diskussion zur ersten These (Agilität wird zu eindimensional betrachtet.) war schon sehr vielversprechend. Zur Erinnerung: Wir werden beim Roundtable bei #nextact — veranstaltet von Winfried Felser, moderiert von Reiner Straub und Christoph Pause — die Diskussion fortsetzen und zusammentragen. Heute machen wir mit der zweiten These weiter: Agile Experimente sind schön, aber viel zu wenig.

Wenn ich in die Unternehmen komme, zeigt sich mir zurzeit meist das folgende Bild: In der Produkt-/Softwareentwicklung arbeiten die Menschen recht konsequent mit agilen Vorgehensmodellen. Sie stoßen aber an Grenzen — wahlweise an die der anderen „funktionalen Silos“ oder an die „gläserne Decke“ Richtung Top-Management. Darüber hinaus haben viele Unternehmen begonnen, auch außerhalb der IT mit neuen Methoden wie Scrum zu experimentieren und erste agile Teams aufgesetzt. Sie benennen diese meist als Piloten und Prototypen.

Das ist völlig legitim und richtig. Nur bleiben sie leider momentan auf diesem Level stecken. Und so machen wir in den diesen Unternehmen viele einsame Inseln aus, für die eine Orientierung, Vision und ein Zielbild im Umgang mit den agilen Ansätzen fehlen. Zumal aktuell meist nur Silos agilisiert werden — ohne Idee, wie das Ganze zusammengeführt werden könnte.

Was steht jetzt an?

In der agilen Organisationsentwicklung und vielen agilen Transformationen haben wir herausgefunden, dass es fünf Phasen sind, die Unternehmen in der Transformation zu einer agilen Organisation durchlaufen müssen, damit eine ganzheitliche Transformation wirklich gelingen kann (Die Details zu den fünf Phasen findet Ihr in unserem Buch „Agile Organisationen“ vom HAUFE Verlag.):

Die klassische Organisation als Ausgangspunkt (1. Phase)

Sie ist dadurch charakterisiert, dass sie strategisch von innen nach außen denkt — und nicht vom Kunden/Markt her. Die Organisationsstrukturen sind pyramidal geprägt, die Prozesse wasserfallartig organisiert. Die Führungsorganisation ist an die Pyramide angelehnt. Die HR-Instrumente wie Zielvereinbarungen, Karriere oder Vergütungssystem sind ebenfalls entsprechend an die Organisation angepasst. Die Kultur ist geprägt von Absicherung und Kontrolle (z. B. Menschen in Mails in cc nehmen, lange Freigabeprozesse, Lenkungsausschüsse). Die meisten Unternehmen starten dann wie in These 1 bereits beschrieben in der prozessualen Dimension und gehen mit der Einführung von agilen Methoden in die Experimentierphase.

Stand jetzt: Experimentierphase (2. Phase)

Momentan werden allerorten erste agile Teams aufgesetzt und erste Fortschritte erzielt. Viele Mitarbeiter sind von den neuen Formen der Zusammenarbeit regelrecht angefixt und wollen mehr. Schnell werden aber Herausforderungen sichtbar: Es entstehen strukturelle Konflikte. Die agilen, cross-funktionalen Teams kollidieren mit der Aufbauorganisation. Es entstehen Matrix-Konstellationen, die häufig zu Unklarheit in der Organisation führen. Zudem erleben wir häufig eine leichte Identitätskrise bei den Führungskräften, weil Rollen wie Product Owner und Scrum Master installiert werden. Typische Fragen: An wen berichten neue Rollen und wer übernimmt diese? Was macht jetzt noch eine Linien-Führungskraft? Es wird nach ersten strukturellen Lösungen geschaut.

Führung beginnt sich zu verändern, weil neue Werte und Prinzipien in der Organisation Einzug halten. Die Konsequenz sind meistens kulturelle Konflikte, weil es einige Mitarbeiter gibt, die von agilen Werten und Prinzipien begeistert sind, andere aber skeptisch bleiben. HR wird allmählich in die Transformation einbezogen; das Management ist häufig noch in einem Erkenntnisprozess: Sie merken, dass sie ihre Organisation zukunftsfähiger gestalten müssen, wissen aber noch nicht wie. Sie nutzen diese Phase, um ins Silicon Valley zu fliegen, sich Vorträge anzuhören und entsprechende Bücher zu lesen. Die agilen Projekte und Piloten nehmen aber deutlich zu und es fehlt zunehmend eine Idee, wo das alles hinführen soll.

Es ist an der Zeit für die Bewährungsphase (3. Phase)

In der Bewährungsphase gilt es nun, eine Entscheidung zu treffen und Konsequenzen aus den bisherigen Lernerfahrungen zu ziehen: Wird eine agile Transformation weiterentwickelt und wenn ja, wo und wie? Bis zu diesem Zeitpunkt sind die Transformationen meist bottom-up getrieben, nun muss das Management aus der Erkenntnis- in die Umsetzungsphase gehen und die Transformation auch aus Unternehmensführungsperspektive mitgestalten. In der Praxis sind es oftmals die Struktur der Organisation und ihre Führung, die als limitierende Faktoren überwunden werden müssen. Dahinter liegt aber meistens ein großer kultureller Veränderungsprozess. Viele Unternehmen zweifeln in dieser Phase, ob wirklich alle Mitarbeiter oder das Management (je nach Perspektive) den Weg mitgehen wollen und können.

Die Etablierungsphase folgt darauf (4. Phase)

In der Etablierungsphase hat sich eine neue Kultur ausgebildet, die von den Unternehmen selbst aber nicht als großer Schritt und Veränderung wahrgenommen wird. Ein großer Schritt ist in dieser Phase die funktionsübergreifende Zusammenarbeit: Die Ablauforganisation wird in Richtung Kunde als führendes System installiert. Im Management entstehen agile Management-Teams. Diese verstehen sich in erster Linie nicht mehr funktional (als CTO, CFO, etc.). Sie beginnen vielmehr, selbst agil zusammen zu arbeiten und lösen so viele weitere Entwicklungen in der Organisation aus.

Ankommen in der agilen Organisation (5. Phase)

Die agile Organisation denkt stark aus Sicht der Kunden und stellt kontinuierlich deren Nutzenmaximierung in den Vordergrund. Dafür hat sie sehr partizipative Strategieentwicklungsprozesse. Die Strukturen sind netzwerkartig organisiert, Führung ist sehr verteilt und mit einem hohen Grad an Empowerment der Teams organisiert. Die Organisationsprozesse basieren auf agilen Werten und Prinzipien; die herkömmlichen HR-Instrumente werden anders gedacht. Die Teams übernehmen Personalauswahl und Feedback, klassische Karrierepfade sind durch individuelle Wertschätzungskulturen abgelöst. 

Was ist zu tun, damit es weitergehen kann?

Was limitiert aktuell die Transformation und wie kommen wir aus dieser Sackgasse heraus? Meiner Meinung nach liegt der Hund in drei Fragen begraben, die geklärt werden müssen:

1. Was sind unsere Gründe?

Viele Unternehmen haben mit der agilen Transformation angefangen, weil die Experimente leicht zu starten sind und erstmal nur bedingt weh tun. Aber für eine größere und konsequente Transformation brauchen sie gute Gründe. Eine agile Organisation ist kein Selbstzweck, sondern soll Nutzen liefern. Aus unserer Erfahrung liefert eine noch agilere Organisation dann einen Nutzen, wenn das Umfeld entsprechend schnelllebig, komplex und veränderungsintensiv ist. Es können aber auch interne Gründe sein, die die Unternehmen antreiben. Je stärker die Gründe, desto wirkungsvoller die Transformation.

2. Wo fangen wir an?

Viele Unternehmen sind unsicher, über die agilen Experimente hinaus zu gehen, weil sie nicht genau wissen, wo sie mit der konsequenten Transformation beginnen sollen. Sie analysieren, statt auszuprobieren und zu lernen. Aus unserer Sicht hilft eine kurze (!) Standortbestimmung im Pioneers Trafo-Modell (6 Dimensionen), um herauszuarbeiten, welche Dimension der aktuelle Engpass-Faktor ist und entsprechende Maßnahmen zu definieren. Wichtig ist, weiter ins Tun zu kommen und vor allem auch das Management und die Mitarbeiter entsprechend zu qualifizieren.

3. Wie machen wir es?

Hinzu kommt die Unsicherheit bei der Frage nach dem Wie. Hier haben wir in der Praxis die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, auch für die Transformationen selbst ein agiles Vorgehen zu wählen. Dies wird sicherlich zunehmend üblicher. Im Detail ist es sinnvoll, das Transformationsvorgehen an den Reifegrad der Organisation anzupassen.

Wie sind Eure Perspektiven und Erfahrungen in der Wissenschaft, Praxis oder Beratungsprojekten?

P.S.: Wir sehen, wie wichtig eine professionelle Qualifizierung geworden ist in den agilen Transformationen. In Kürze startet daher unser Ausbildungsprogramm zum „Agile Transformation Coach“. Weitere Informationen findet ihr hier.

Benedikt Jost

Partner bei mgm consulting partners GmbH

5 Jahre

Tolle Diskussion! Sorry für die Provokation - ich lese hier recht viel über Phasen(-modelle) und Handlungsfelder. Ist dies wirklich die richtige Einstellung und das richtige Werkzeug in einer agilen Transformation - oder nur der Versuch, die Situation durch alt-gewohnte Beschreibungen greifbarer zu machen? Meiner Erfahrung nach fokussieren wir uns immer noch viel zu sehr auf Phasen, Prozesse, Rollen, etc. in der Entwicklung hin zu agilen Organisationen - und zu wenig mit dem Kern der Idee. Viele Grüße Benedikt Jost

Carole Maleh

ChangeConsultant / Complex Change / Large-Group-Conferences

5 Jahre

In Momenten der Unsicherheit im Transformationsprozess braucht es Aspekte von Sicherheit. * Sicherheit durch Struktur und den klaren Blick auf den Prozess, für das nächste Ziel, die nächste Interventionen, Fragen etc. * Sicherheit durch Fokussierten auf das Wesentliche, auf das, wo es hin gehen soll. * Sicherheit durch Empathie für die Unsicherheiten im System * Sicherheit durch Vorschläge für das nächste Vorgehen. Roland Hehn Ich stimme Ihnen zu, hier ist der Berater gefragt.

Carole Maleh

ChangeConsultant / Complex Change / Large-Group-Conferences

5 Jahre

Ein Gedanke: Transformation braucht Beweise, dass sie funktioniert. Jeder braucht sie, um weiterhin mutig in das nächste Experiment zu gehen, auszuprobieren, Fehler zu machen, neu anzufangen. Beweise führen zu Vertrauen, besonders wenn Menschen im Unternehmen negative Erfahrung mit Veränderungen erlebten. Beweise kommen aus der Reflexion. Jeden Schritt und jedes Experiment betrachten: * Sammeln, was geschafft und dadurch erreicht wurde. Was die Wirkung dieses Schrittes war. * Festgehalten, welche Handlung, Ressource, Entscheidung dazu geführt hat, dass das Experiment erfolgreich war. * Wer welchen Beitrag zu dem Erfolg gegeben hat. * Erfolgsmuster definieren. * Szenarien entwickeln für das nächste Experimentierfeld. Transformation ist wie eine Brücke, über die man geht. Man weiß nicht, ob sie hält. Doch mit jedem Schritt gewinnt man Vertrauen, dass sie hält und man sicher auf der anderen Seite ankommt.

Auf jeden Fall zu wenig interdisziplinär. Es wird Einiges im eigenen Beritt ausprobiert (grade in HR) - aber wenig im Mix mit anderen Funktionen geschweige denn echten Kunden....

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