Allein zu Haus - Für die Ent-Tabuisierung der Einsamkeit an Weihnachten
In Deutschland kann man offener über Sex sprechen als über die Einsamkeit an Weihnachten - warum auch immer, es ist ein Tabu.
Fast fühlt es sich wie ein Stigma an, keine Familie zu haben, mit der man die „Festtage“ verbringen will oder kann. Heiligabend ist für manche eine emotionale Hölle und die meisten leiden still, ohne dass es jemand merkt. Es gibt so viele - oft tragische - Gründe für den Status „Familienlosigkeit“ Schicksalsschläge, Konflikte, Trennung, Flucht, berufliches Exil... In der Regel sind es Themen, die man nicht jedem auf die Nase bindet.
Auch ich gehöre zu den Menschen, die keine (Herkunfts-)Familie mehr haben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie spürbar die fehlende Familie oder / und einer Partnerschaft gerade an den Weihnachtsfeiertagen wird. „Dir und Deiner Famiie“ oder „Im Kreise der Familie“ sind Floskeln, die für mich lange Schmerz und Scham bedeutet haben.
Wer keine wirklich engen und zugleich offenen Freunde hat, die ihn oder sie einladen, sitzt allein zu Hause – konfrontiert mit all den Bildern von glücklichen Familien. Für viele der blanke Horror. Heilig Abend wird traditionell im engsten Kreis gefeiert; geschützter Raum und Intimität, zu der Außenstehende keinen Zutritt haben. Wenn man neu in einer Stadt oder sogar im Land ist, hat man (noch) keinen Freundeskreis, oder man traut sich schlicht nicht zu fragen.
Einsamkeit an Weihnachten bleibt ein stilles, unangenehmes Tabuthema. Spricht man darüber, reagieren Menschen entweder mit betretenem Schweigen oder beschwichtigen.
Die Einsamkeit ist geprägt von Selbstzweifeln und schmerzhaften Fragen wie: Was sagt es über mich aus, wenn ich an Weihnachten kein „Zuhause“ habe? Was stimmt nicht mit mir? Gefühle, die besonders in einer Zeit, die von Bildern vermeintlich perfekter Gemeinschaft und Wärme dominiert ist, an Intensität gewinnen. Doch gerade weil so selten darüber gesprochen wird, bleibt die Einsamkeit oft ungesehen, unausgesprochen und unverstanden.
Für mich war es ein wichtiger Schritt, mit der Einsamkeit an Weihnachten bewusst anders umzugehen.
Ich könnte ein Buch schreiben über die unterschiedlichsten Formen von „Weihnachten“. Statt mich zurückzuziehen, habe ich Wege gefunden, Licht in die Herzen anderer einsamer Menschen zu bringen – auf unterschiedlichste Art und Weise. Mal habe ich ehrenamtlich in der Community Kitchen oder bei der Münchner Tafel geholfen. In anderen Jahren habe ich Heiligabend zu einem „Fest der gestrandeten Seelen“ gemacht und Menschen eingeladen, die – genau wie ich – an diesem Abend allein gewesen wären. Die Gesellschaft war oft bunt und unerwartet: Flüchtlinge aus Somalia, frisch getrennte Top-Manager, der ältere Herr aus der Nachbarschaft oder die Werkstudentin aus Indien.
Diese Erfahrungen waren nicht nur bereichernd, sondern auch zutiefst erfüllend. Es waren mit die schönsten Weihnachtsfeste meines Lebens, und ich kann jedem nur ans Herz legen, etwas Ähnliches auszuprobieren.
Ich habe diese Heiligen Abende geliebt – ob öffentlich ehrenamtlich oder in meinem Wohnzimmer – waren intensiv, berührend und unglaublich wertvoll, für alle Beteiligten, mich eingeschlossen. Sie haben mir gezeigt, wie kraftvoll kleine Gesten der Gemeinschaft sein können. Und sie haben mich gelehrt, dass es oft nur einen Funken Mut braucht, um anderen – und sich selbst – Licht und Wärme zu schenken.
Einsamkeit sieht man niemandem an – weder Alter noch beruflicher Erfolg oder gesellschaftlicher Status lassen darauf schließen. Sie betrifft Menschen in allen Lebenslagen, ob jung oder alt, ob Werkstudierende, Top-Manager*innen, Expats oder diejenigen, die finanziell kämpfen. Besonders in internationalen Unternehmen gibt es überdurchschnittlich viele, die an den Feiertagen alleine sind, unabhängig von Familienstand, Alter oder Kultur.
Ich habe gelernt, dass es behutsames, aber doch explizites Nachfragen braucht. Ein „kannst dich ja melden“ wird eher als Höflichkeitsfloskel abgetan und die emotionale Hürde, eine Einladung anzunehmen ist hoch. Diese Begegnungen kamen nur zustande, weil ich konkret gefragt habe, was die Menschen an Heiligabend vorhaben, und aktiv darum gebeten habe, doch dabei zu sein – noch bevor ich eine „Notlüge“ hörte. Keiner gibt gerne zu, einsam zu sein. Ich kannte das selbst gut – das leise „Ach, das macht mir nichts aus“, „ist ja ein Tag wie jeder andere“ das oft mehr Ausrede als Wahrheit ist. Außerdem wollte ich in der allgemeinen Weihnachtseuphorie keine der Spielverderberin sein, die negative Vibes verbreitet. Familie geht schließlich niemanden was an.
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Manchmal war es echte Überzeugungsarbeit, die Menschen zum Kommen zu bewegen. Sich der eigenen Einsamkeit zu stellen, ist kein leichter Schritt. Ich erinnere mich an Abende am 23. Dezember, an denen ich durch die Büros gegangen bin, um zu schauen, wo Licht brennt (das war noch vor den Home-Office-Zeiten). Viele Menschen stürzen sich an Weihnachten in die Arbeit, weil es einfacher ist, beschäftigt zu bleiben, als zuzugeben, wie es wirklich aussieht.
Denn selbst wenn man nicht christlich geprägt ist, ist die Botschaft, „an den Feiertagen bei der Familie sein zu müssen“, allgegenwärtig. Sie prägt die Atmosphäre dieser Tage und lässt bei vielen das Gefühl entstehen, ausgeschlossen zu sein – egal, woher sie kommen oder wie ihre Lebenssituation aussieht. Gerade diese unausgesprochene Erwartungshaltung macht die Einsamkeit in der Weihnachtszeit für viele so schmerzlich spürbar.
Human Resources und People Manager können hier helfen. Es braucht nicht viel, um das Tabu der Einsamkeit an den Feiertagen zu brechen – ein erster Schritt könnte bspw. eine unternehmensweite E-Mail oder ein Beitrag im Intranet sein, der das Thema anspricht und Menschen ermutigt, offen damit umzugehen. Die Möglichkeit, Mitarbeitende untereinander zu vernetzen, kann einen großen Unterschied machen. Denn gemeinsam einsam zu sein, ist schon viel besser als allein.
In diesem Kontext ist die explizite Erwähnung von EAP-Programmen wertvoll. (Übrigens sind die Weihnachtstage nicht nur für Alleinstehende eine große emotionale Belastung, so mancher ist der Verzweiflung nah in diesen Tagen )
Der Kontakt zu ehrenamtlichen Organisationen, die an den Feiertagen dringend Helfer:innen suchen, wie die Tafel oder Initiativen wie „Keiner bleibt allein“, könnte aktiv unterstützt werden. Diese Möglichkeiten anzubieten, erfordert kaum Aufwand, hat aber eine große Wirkung. Deshalb: Wer hat hier bereits Erfahrungen oder Tipps?
Firmen, für die „der Mensch im Mittelpunkt“ nicht nur leeres Gerede ist, bietet sich hier die Chance, zu zeigen, wie ernst ihnen diese Werte sind.
Solche Initiativen stärken nicht nur die Bindung der Mitarbeitenden ans Unternehmen und die Employer Brand, sondern fördern auch das Gefühl von Identität, Verantwortung und echtem Miteinander. In diesen Momenten zeigt sich, ob eine Unternehmenskultur wirklich von Herzen kommt – oder nur auf dem Papier steht.
In diesem Bewusstsein wünsche ich allen schöne Weihnachtsfeiertage im Sinne der Nächstenliebe.
PS: Bitte daran denken, wenn nach den Ferien alle von ihren Familienanekdoten erzählen.
Head of Magazine Brands GeraNova Bruckmann Verlagshaus
3 WochenFrohe Weihnachten Irina! Finde klasse, wie Du mit diesem Thema umgehst, das jeden treffen kann, der heute noch mit anderen feiern darf. Deshalb: Genießt jeden Moment des Lebens.
Gründerin von TUN BEWEGT - Das Teambuilding mit gesellschaftlicher Wirkung. In
3 WochenIch bin sehr gespannt, wie es hinter den neuen Türen für Community Kitchen München weiter gehen wird.
Director AOAP Europe retired , 405th AFSB Kaiserslautern/ASC Command /USAREUR Honorable Order of Saint Martin Recipient
3 WochenToll, dass Sie darüber reden und auch handeln.❤️👍 Frohe und zufriedene Feiertage wünsche ich Ihnen im Kreise von vielen lieben Menschen 🌎❤️🌟🌲
Vielen Dank für die Erwähnung und die Auflistung der Möglichkeiten etwas zu bewegen. Jede/r einzelne kann etwas beitragen. PS: Bei uns geht es übrigens in anderer Form auch weiter. Eine Tür schließt sich und viele andere tun sich auf. Wir bleiben aktiv und setzen uns weiter gegen Lebensmittelverschwendung ein 🌱🍽️❤️
Authentische Bildsprache für Business: Fotografie & Videodreh mit dem Smartphone & KI Bildgenerierung | Profifotografin & Gründerin der SMARTphotoschule | Workshops & Beratung für visuelle Kommunikation
3 WochenSehr schöner Beitrag und ein ganz wichtiges Thema. Vielen Dank dafür!