Buchkritik – Elizabeth Strout: Alles ist möglich
VON MICHAELA MOTTINGER
Irgendwie im Innersten verstanden
Eine der Figuren, die Elizabeth Strout in ihrem jüngsten Roman zum Ensemble versammelt, kennt man bereits. Lucy Barton, die Bestsellerautorin, war die Protagonistin in „Die Unvollkommenheit der Liebe“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=21705). Damals lag sie im Krankenhaus und haderte mit ihrer unerträglichen Mutter, nun erfährt man endlich mehr über Lucys Background und versteht vieles besser, die Schriftstellerin stammt von einem Einschichthof, die Familie extrem arm, die Eltern auf seltsame Weise sadistisch. Als Lucy deren altem Haus einen Besuch abstattet, mit Bruder und Schwester auf der ramponierten Couch sitzt, erleidet der Literaturstar eine Panikattacke.
Sie will trotz besten Willens nichts hören von den verrohten Verhältnissen der Vergangenheit, und Lucy, die bei einer Lesung den Wahrheitsgehalt des Geschriebenen einforderte, nimmt vor ihrer eigenen Herkunft Reißaus. Eine Realitätsverweigerung, die Elizabeth Strout ihren Lesern nicht erlauben wird … In der Figur Lucy Barton laufen Strouts Handlungsfäden zusammen, sie dient den anderen Charakteren als Projektionsfläche, auch Reibebaum, alle kennen ihre Bücher, und schwanken zwischen Neid und Beglückung darüber, dass es eine von ihnen geschafft hat. Rauszukommen aus Amgash, Illinois.
Mit „Alles ist möglich“ ist die große Erzählerin Strout ihrem Meistermetier treu geblieben: in sich verwobenen Kleinstadtgeschichten. Unsentimental und ohne jemals in Stereotype zu verfallen, breitet sie ihr Antiidyll über Amerikas wirtschaftlich abgehängten, geistig verstockten, seelisch verkümmerten Mittleren Westen aus. Eine Welt zwischen Maisfeldern, Sojabohnenanbau und Windparks, in dem ein genügsamer, schweigsamer in sich gekehrter Menschenschlag lebt, dessen Wortkargheit sie mit einer einfachen Sprache illustriert. Und es ist wie stets bei der Strout, wiewohl die Grundvoraussetzungen für die Figuren nicht die besten sind, und deren Grundton ein melancholischer, sind ihre Short Cuts ein Herzenswärmer.
Weil man sich wie die sie zwar sachlich, aber nie distanziert schildernde Autorin alsbald in die Akteure verliebt. Allen voran in die übergewichtige Lehrerin Patty Nicely, sie die zweite Klammer der lose verknüpften Kapitel, die sich von ihren Schülern demütigen lassen muss, und heimlich den Buchhändler Charlie Macauley liebt, der sich wohl von seiner hysterischen Frau Shirley scheiden lassen möchte, aber nicht für Patty, sondern für die Prostituierte Tracy, die ihn schlussendlich um viel Geld erleichtert. In den Schulwart Tommy Guptill, der seine Farm durch einen Brand verlor. In Pattys Schwester Linda, die für ein Leben im Wohlstand die Partykeller-Vergewaltigungen ihres Ehemanns erduldet, und in Pattys beste Freundin Angelina, die nicht fassen kann, dass ihre Mutter, noch dazu in Italien, eine späte Liebe findet.
Strouts Geschöpfe sind allesamt nicht mehr jung, sondern zwischen Fünfzig und Achtzig, zackig, mit zwei, drei kühnen Strichen sind sie als Figur entworfen. Sind vom Leben und vom Krieg, und die USA sind ja ständig in einem, Beschädigte, leiden an Angst und Scham, vor anderen und vor allem sich selbst und die Frauen noch dazu vor ihrem Körper – „Das Bild, das Annie vor sich sah, war das einer Wurst: eine Wurst, in deren Pelle sie ein Löchlein gepiekst hatte, und durch dieses Löchlein versuchte sie sich ins Freie zu winden … die Pelle der Wurst war Scham. Ihre Familie war in Scham eingeschweißt.“
Oder Strout, als Psychopathologin für dysfunktionale Charaktere, lässt sie ihre Gefühle wie folgt vergleichen – ein Echo von Schmerzen, die im Bewusstsein widerhallen: „Damals hatte er gemerkt, dass es, wenn man statt dem Nagel den Daumen erwischte, einen Sekundenbruchteil gab, in dem man dachte: Komisch, dafür wie fest ich zugeschlagen habe, geht es eigentlich … Und erst dann, erst nach diesem Moment trügerischen, ungläubigen, dankbaren Aufatmens, kam der Schmerz herangetobt.“ Amgash, das kleine Provinzkaff mitten im Nirgendwo der Prärie, wird durch Strout zum Welttheater menschlicher Schicksale, diese wie stets bestimmt durch Einsamkeit und Verwirrtheit und einem den Umständen-Ausgeliefertsein, durch Katastrophen und Unglücksfälle und immer wieder Ehedramen, doch mehr als man’s von ihr gewohnt ist, lässt sie in ihre Geschichten diesmal Gewalt und (Kindes-)Missbrauch einfließen.
„Eine Frau, die seufzt und klagt, ist wie eine Portion Dreck, die man dem lieben Gott unter den Fingernagel schiebt“, denkt an einer Stelle Dottie, und es ist eine der originellsten in dieser Perlenreihe kurioser, auch geheimnisvoller Geheimnisse, wie die Besitzerin einer Frühstückspension von Zimmermietern veralbert wird, und wie sie dafür Rache nimmt. In ihrer Trostlosigkeit lässt Strout ihre Figuren doch immer wieder Trost durch derlei Taten finden. Das hallt im Leser lange nach, und man fühlt sich selbst als Mensch wie Patty bei der Lektüre von Lucy Bartons neuem Buch: Irgendwie im Innersten verstanden. Und am Ende, Hoffnungsschimmer, wird es eine neue Lucy geben, ein Mädchen, rotzfrech und renitent, und ihm wird die Flucht vom flachen Land gelingen …
Die ganze Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=30582
19. 11. 2018