Corona-Lockerungen: Kann sich die Politik etwas von der industriellen Regelungstechnik abschauen?

Corona-Lockerungen: Kann sich die Politik etwas von der industriellen Regelungstechnik abschauen?

Kaum konnte meine Tochter seit langem eine komplette Woche in die Schule gehen, ist es wieder vorbei. Der 7-Tage Inzidenzwert in unserer Stadt Coburg liegt seit 3 Tagen wieder über 50. Überrascht war ich nicht, so lag der 7-Tage Inzidenzwert in der vergangenen Woche gerade so unter 50 und der Trend der Infektionszahlen zeigte bereits wieder nach oben. Das "Homeschooling" nagt nicht nur an den Nerven der Eltern, die parallel ihrer Arbeit nachgehen müssen, auch die Kinder lernen in der Gruppe deutlich motivierter als zu Hause alleine Wochenarbeitspläne abarbeiten zu müssen.

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Andererseits habe ich letzte Woche die erste Trauerkarte für einen unserer Mitarbeiter und Familie geschrieben, dessen Vater an CORONA verstorben ist.

Beim grübeln, was ich selbst für den Weg in eine "sichere, freie Zukunft" leisten kann, kam mir in den Sinn, dass sich ggf. die Methodiken der "Regelungstechnik" aus meinem Elektrotechnikstudium anwenden ließen, um Maßnahmen und Lockerungen sinnvoll zu "REGELN"

Ggf. ließe sich damit das "Stotterbremsen-Symptom" (Auf-Zu-Auf-Zu-Auf-Zu) vermeiden.

Betrachten wir den Zusammenhang zwischen den Maßnahmen (Schulschließungen, Impfungen, Anzahl an Kontakten ...) als Steuerungsgrößen, die Bevölkerung mit dem Infektionsgeschehen als Regelstrecke und als Regelgröße die Kennwerte zum Infektionsgeschehen (Anzahl an Neuinfektionen, Todesfälle, Anzahl an schweren Verläufen). Als Störgrößen für den Regelkreis können Superspreader und Virusmutationen betrachtet werden.

Lockdown-Öffnung-Lockdown-Öffnung / Das Problem des P-Reglers (Proportional-Regler)

Der Proportionalregler funktioniert so, dass beim Über-bzw. Unterschreiten der Regelgröße (z.B. Inzidenzwert) mit einem zur Regelabweichung proportionalen Anteil bei den Steuergrößen (Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen) nachgeregelt wird. Ist der Inzidenzwert (Regelgröße) an dem einen Tag knapp unter dem Sollwert von 50, kann der Inzidenzwert wenige Tage später fatalerweise auf Grund der exponentiellen Ausbreitung des Virus bereits wieder stark (80, 100 oder 200) vom Sollwert 50 abweichen. Wird jetzt die starke Abweichung durch die Labor Tests erkannt, zwingt einen der Proportionalregler über einen starken Eingriff an den Stellgrößen (Lockdown) der Abweichung entgegen zu regeln.

Der P-Regelkreis ist instabil und schwingt zwischen Lockdown und Öffnungen.

Es vergeht Zeit bis sich die Maßnahmen in den Infektionszahlen widerspiegeln / Totzeiten erschweren die Regelung

Werden Maßnahmen beschlossen, wie z.B. die Einschränkung von Kontakten, dauert es einige Tage (ca. 2 Wochen) bis sich der Erfolg dieser Maßnahme in den Testergebnissen und somit der Regelgröße widerspiegelt. Soll der Regelkreis stabiler werden, macht es Sinn ein T-Glied (Totzeitglied) in den Regelkreis einzubauen. Konkret:

Bei Inzidenzwerten kleiner 50 eine Totzeit von z.B. 10-14 Tagen einbauen, in denen an den Stellgrößen (Schließungen etc.) nichts verändert wird und erst dann mit dem Proportionalanteil nachregeln.

Die "CORONA-Stotterbremse" vermeiden / Der I Regler (Integral-Regler) verhindert Schwingen (Lockdown-Öffnungen) und macht den Regelkreis damit stabiler

Ein integraler Anteil in der Regelung der Maßnahmen beruhigt das Regelverhalten. Konkret muss hier berücksichtigt werden, wie lange steht die Regelabweichung an und in Abhängigkeit davon werden die Maßnahmen nachjustiert. Um den Vorteil der stabileren Regelung zu. erhalten muss man in Kauf nehmen, dass der I-Anteil das Erreichen der Zielgröße verlangsamt.

Superspreading-Entgegenwirken / der D-Regler (Differenzialregler)

Totzeiten und Integrale Anteile im Regelverhalten stabilisieren die Regelung könnten aber auch dazu führen, dass bei schnell ansteigenden Infektionszahlen z.B. durch Superspreading verschlafen wird die Steuerungsgrößen schnell genug nachzulegen. Um in diesem Fall keine Zeit zu verlieren wird in der Regelungstechnik der Differenzialregler verwendet. Das differenzielle Verhalten führt dazu, dass es für die stärke der Nachregelung darauf ankommt, wie schnell sich die Regelgröße (Inzidenzwert) verändert.

Lösungsvorschlag

Industrielle Regler sind praktisch immer als PID-Regler aufgebaut, d.h. die Stellgröße ergibt sich aus der Addition eines P-, eines I- und eines D-Anteils. So werden die Vorteile der einzelnen Regler kombiniert.

Was meinen Sie?
Kann sich die Politik bei der Regelung der CORONA-Maßnahmen etwas aus der Regelungstechnik abschauen?

Haben Sie ergänzende oder andere Ansätze? Ist das zu einfach gedacht? Ich hoffe ich konnte Sie zum Denken anregen.

Ihr Lars Meisenbach

Vorstand der BestSens AG

Ohne Verständnis in der Bevölkerung geht leider gar nichts, aber für Menschen, die mit Regelungstechnik arbeiten ist es so super erklärt! Vielleicht braucht es noch mehr solcher Vergleiche für andere Bevölkerungsgruppen? 🤔 Eines der großen Probleme ist meiner Meinung nach, dass viele Menschen noch nicht verstanden haben, dass eine natürliche Gewalt wie ein Virus oder der Klimawandel in ihrer Natur kein Politikum sind. Die Natur kümmert sich nicht um unser Gesetze/Rechte/Pflichten System. Wir müssen lernen mit diesen Zusammenhängen klar zu kommen.

Philipp Krebs

European Product Engineering Director bei Accuride International Europe

3 Jahre

Ich glaube die Erfolglosigkeit der aktuellen Politik beruht genau darauf, dass solche Modellierungen zu viel Gewicht haben. Man denkt, man könne die Inzidenz regulieren mit Regeln wie "jeder Haushalt darf nur eine weitere Person treffen" oder den erwähnten Schulschließungen und ignoriert, inwieweit das für die Bürger überhaupt realistisch ist und befolgt wird. Danach wundert man sich warum die Zahlen nicht sinken wie erwartet oder gar steigen, verschärft die Maßnahmen oder rezitiert die immer gleichen Durchhalteparolen. Was fehlt oder gar blockiert wird sind Veränderungen, die den Regelkreis an sich verändern. Niedrigschwellige Schnelltests lassen sie Zahlen erst steigen, reduzieren sie aber langfristig erheblich. Impfungen reduzieren die Auswirkungen der Infektionen. Software zur Kontaktverfolgung erlaubt auch Inzidenzen über 50 zu managen - das war übrigens der Ausgangspunkt für die 35/50, ein Witz! Und so weiter. Man sollte also nicht die Reglerparameter optimieren sondern den Regelkreis verbessern!

Stefan Hess

Head of R&D Lubrication, Lifetime Solutions

3 Jahre

Hallo Herr Meisenbach, korrekt beschrieben. Aber: wie erklärt man das so, dass es die Mehrheit der Bevölkerung "nachfühlen" kann? Denn erst dann trifft das Ganze auf Unterstützung. Meine Frau ist Apothekerin. Was bisher an Verständnis der Zusammenhänge in der Bevölkerung angekommen ist und sich dann im Verhalten der Kunden widerspiegelt ist leider erschreckend (weil die Leute aus den nicht verstandene Fakten kein Gefühl ableiten(können)). Leider habe ich dafür auch keine passende Methodik... Beste Grüße, Stefan Hess

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