"​Darüber spricht man nicht."​ #06 - Das Schönheitsideal Frau: "Hungern gab mir das Gefühl von Kontrolle."​
Picture by: Sapna Richter - Landshut

"Darüber spricht man nicht." #06 - Das Schönheitsideal Frau: "Hungern gab mir das Gefühl von Kontrolle."

„Ich habe eine Essstörung.“ Für mich war diese Erkenntnis eine Erleichterung, denn in diesem Moment konnte ich innerlich Frieden damit schließen und mich neu ausrichten. Ich hatte diese Gedanken jahrelang wie einen Korken unter die Wasseroberfläche gedrückt, weil ich meiner Realität nicht ins Auge blicken wollte. Ich wollte nicht zu der Kategorie Frau gehören, die sich selbst über ihr Aussehen definiert – doch genau das habe ich getan. Ich hatte ein sehr verzerrtes Bild von meinem eigenen Körper - ich hasste ihn. Meine Haut, meine Haarstruktur, meine Figur, mein Gewicht…überschritt die Waage eine bestimmte Zahl, wurde ich innerlich unruhig. Doch gerade dieser Fokus auf mein Gewicht und die damit verbundenen Gedanken zu Wertungen wie dick und dünn oder schön und hässlich gaben mir das Gefühl, wenigstens etwas in meinem Leben kontrollieren zu können. Ich hatte weder Selbstbewusstsein noch Selbstvertrauen und machte meinen Körper für das verantwortlich, was aus meiner Sicht in meinem Leben schief lief. So entwickelte ich ein gestörtes Essverhalten und versuchte dadurch die Sinnlosigkeit meines Lebens zu kompensieren – denn als solches habe ich es damals wahrgenommen.

Der Blick in den Spiegel: wenn Realitäten zerbrechen

Die Menschen in meinem Umfeld haben nichts bemerkt, da ich Wege kannte, es zu verbergen. Oft habe ich mein Essen unbeobachtet weggeworfen oder ich hatte angeblich keinen Hunger, weil ich morgens schon viel zu Hause gegessen hatte…Essen gehen war für mich eher eine Qual anstatt Freude. Deshalb erfand ich die passenden Rollen, Ausreden und hielt die Menschen auf Abstand.

Bis ich in den Spiegel blickte und erkannte: Das bin ich nicht. All das will ich nicht mehr sein. Ich erlaubte dem Spiegelbild zu zerbrechen – und mit ihm zerbrachen all die Glaubensätze und -muster, die ich mir über die Jahre angeeignet hatte. Das war als ich versuchte, mich zu übergeben. Das Ergebnis war: Es klappte nicht. Ich ekelte mich vor mir selbst. In diesem Moment verabscheute ich mich zutiefst – und endlich erlaubte ich mir, zu fühlen. Ich saß heulend auf dem Badezimmerboden und ließ einfach los. Ich erlaubte mir, meinen Körper zu spüren. Über all die Jahre war er immer für mich da gewesen. Immer an meiner Seite. Er war mein treuester Wegbegleiter und bester Freund zugleich. Trotz allem, was ich ihm angetan hatte: er war stets für mich da.

In diesem Moment hatte ich eine Entscheidung getroffen. Unbewusst. Ich hatte mich für meinen Körper entschieden – und damit auch für mich.

Aus diesem Grund begann ich damals Tagebuch zu schreiben. Mir wurden bestimmte Muster und Glaubenssätze bewusst, durch die ich mich selbst in diesen Teufelskreis gedrängt hatte. Mein Bild von Schönheit war stark davon geprägt, was soziale Medien und Filme uns als Realität vorlebten. Mein Aussehen und meine Wirkung machte ich davon abhängig, wie ich glaubte, dass andere mich sahen. Gedanken wie „Männer beachten mich nicht, also muss ich hässlich sein“ dominierten meine Realität. Äußerungen wie „An dir ist ja nichts dran“ oder „Du bist aber dünn, du solltest mehr essen“ trugen dazu bei, dass ich mir immer mehr Druck machte, mich irgendwelchen Idealen anzupassen. Mein Kopf war ein permanentes Chaos…

…und in diesem Moment hatte mein Körper die Führung übernommen:

Essence of Bellydance: der Wendepunkt in meinem Leben

Ich stellte mir die Frage, welche Art von Bewegung mir als Kind bzw. Jugendliche am meisten Spaß gemacht hatte. Die Antwort war klar: Tanzen.

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Partys, Clubs…in diesen wenigen Stunden auf der Tanzfläche fühlte ich mich frei und konnte endlich meinen Kopf ausschalten. Ich konnte danach essen, weil ich hungrig war – ich zwang mich nicht dazu, hungrig zu sein. An diese Zeiten erinnerte ich mich, als ich online nach Bauchtanztraining suchte. Es war ein Tanzstil, der mich aufgrund seiner sinnlichen und weiblichen Ausstrahlung schon immer faszinierte. So fand ich Essence-of-Bellydance und begann zu Hause vor meinem Badezimmerspiegel zu trainieren. Vier Wochen später meldete ich mich zum Essence-of-Bellydance Teacher Training an. Es war der Wendepunkt in meinem Leben, in dem ich all diesen Hass und diese Wut auf mich selbst spürte und loslassen konnte. Ich kam mehr und mehr in meinem Körper an und hatte endlich das Gefühl, zu Hause zu sein.

Ich verstand auf geistiger und körperlicher Ebene, was es hieß, Frau zu sein und dass Schönheit und Attraktivität nichts mit unserem Aussehen zu tun haben, sondern mit dem, was wir ausstrahlen. Dadurch hörte ich auf im Außen nach Bestätigung zu suchen und löste mich von dem Gedanken, wie ich glaubte, das andere mich sahen.

Ich schaute nach Innen und erkannte, wer ich wirklich bin:

Ein körperorientierter und gefühlvoller Mensch mit klarem Verstand. Ich achte sehr darauf, wie ich mit mir und meinem Körper umgehe. Embodiment, Genuss und Sinnlichkeit sind für mich wichtige Aspekte meines Lebens und in den letzten Jahren habe ich nach und nach meine Ernährung umgestellt. Inzwischen habe ich Freude daran, essen zu gehen. Meine Portionen sind vielleicht nicht immer die größten, doch das liegt nicht mehr daran, dass ich mich zwinge, sie klein zu halten. Vielmehr ist es so, dass ich mich sehr bewusst ernähre und mein Stoffwechsel gut funktioniert – die Menge passe ich meinem Sportpensum an.

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Ich höre darauf, was mein Körper möchte und was nicht. Manchmal ist es Schokolade, manchmal Salat. Manchmal eine Pizza, manchmal auch nichts. Hin und wieder mache ich selbst Scherze darüber und gehe sehr locker mit dem Thema um. Allerdings auch sehr sensibel, je nachdem, mit wem ich zusammen bin. Ich weiß, wie viel Druck dieses Thema in Menschen auslösen kann. An dieser Stelle ist es mir daher wichtig zu betonen: Wir können nie beeinflussen, welche Wirkung bestimmte Worte auf einen Menschen haben – doch wir können beeinflussen, wie wir sprechen. Mit anderen – und mit uns selbst.

Je liebevoller, achtsamer und gütiger unser innerer Dialog ist, desto liebevoller, achtsamer und gütiger werden wir mit uns selbst umgehen – und damit auch mit unserem Körper. Er ist der einzige, den wir mit Gewissheit unser ganzes Leben bei uns haben und deshalb sollten wir Freude daran haben, körperlich zu sein, d.h. wir dürfen unser Essen genießen, Kalorien auch mal ignorieren und einfach das tun, was wir wollen - mit Freude, mit Leichtigkeit und mit dem Wissen, dass wir niemals wirklich alleine sind.

Es gibt immer jemanden, der uns auf unserem Weg unterstützen wird – und manchmal sind das einfach wir selbst.

 

Bilder: Privat - Sapna Richter - Landshut

Anm. d. Verfassers: Dieser Artikel beruht einzig und allein auf eigenen Erfahrungen und erhebt nicht den Anspruch, wissenschaftlich oder medizinisch fundiert zu sein. Im Zweifelsfall suchen Sie bitte ärztliche und / oder therapeutische Hilfe auf.

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