Das Beste erhoffen, für das Schlimmste planen
Wir befinden uns inmitten einer beispiellosen Transformation: politisch, gesellschaftlich, ökonomisch – und darauf müssen sich Wirtschaft und Gesellschaft vorbereiten.
Beinahe zwei Jahre ist es nun her, dass Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort der „Zeitenwende“ in einer Regierungserklärung erwähnte – und deren Auswirkungen werden auch an diesem Wochenende wieder spürbar sein: Auf der 60. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) treffen sich Staats- und Regierungschefs, Unternehmensvertreter*innen, Diplomat*innen, Abgeordnete, Wissenschaftler*innen und Berater*innen, um gemeinsam über die Weltlage zu sprechen. Und klar ist: Selten zuvor gab es derart viele Krisen, Konflikte und Herausforderungen gleichzeitig. Und das betrifft nicht nur Politiker*innen – sondern auch Manager*innen.
Epochaler Umbruch
Wir befinden uns inmitten eines epochalen Umbruchs: politisch, gesellschaftlich, ökonomisch. Militärische Konflikte um die Hegemonie in Europa galten lange Zeit als ausgestorben, nun ist in Europa die Rivalität zwischen Großmächten wieder aufgeflammt. Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurden die sprichwörtlichen Uhren weit zurückgestellt. Aber das ist kein isoliertes Ereignis. Es ist vielmehr Ausdruck einschneidender Machtverschiebungen.
Wir erleben ein Ende der Globalisierung, von der wir so lange profitierten, mit internationalen Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkten. An deren Stelle tritt politische Polarisierung, Protektionismus und Systemkonkurrenz, im Vordergrund steht die Durchsetzung militärischer und wirtschaftlicher Sicherheitsinteressen. Anders formuliert: Der geopolitische Wettbewerb wird wieder zum dominierenden Merkmal internationaler Beziehungen.
Und das hat weitreichende Konsequenzen – auf die Weltwirtschaft und die Märkte, auf die Energie- und Rohstoffsicherheit, auf Währungen, Kapitalmärkte, Klima- und Industriepolitik, auf Lieferketten und freien Handel. Die internationalen Energie- und Rohstoffmärkte werden volatil bleiben, die Preise absehbar hoch. Dies wiederum trifft die besonders rohstoffabhängige und unter hohen Energiekosten leidende deutsche (Export-)Industrie besonders hart. Und darauf muss das Management dringend eine Antwort finden.
Vorbereitet sein
Erstens: Unternehmen müssen „politischer“ werden. Früher waren politökonomische Analysen und Szenarien scheinbar nur für Finanzinvestoren und Weltkonzerne essenziell. Nun werden sie auch für Mittelständler spürbar überlebenswichtig. „In einer Weltordnung, in der wir ständig tektonische Verschiebungen erleben“, schreiben die ehemalige Staatssekretärin Katrin Suder und der Strategieberater Jan Kallmorgen in ihrem Buch „Das geopolitische Risiko“ treffend, „nützen eine betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse oder die schönste Balanced Scorecard wenig.“
Was passiert, wenn China tatsächlich Taiwan attackiert? Was, wenn China und Russland ein eigenes, weitgehend autonomes Wirtschaftssystem aufbauen? Wir erleben Europa nicht sonderlich stabil, sondern – wie eben schon ausgesprochen - in einer Situation der neuen Rivalitäten. (Und da, wo Frankreich und Deutschland Hand in Hand handeln sollten, da schaffen es Kanzler Scholz und Präsident Macron nicht einmal, sich auf einen gemeinsamen Termin bei der MSC zu einigen.)
Unternehmen müssen alle Szenarien in ihre Entscheidungen einbeziehen – und dabei auch das Undenkbare einkalkulieren. Die Fehleinschätzungen, die Deutschland im Fall Putin unterlaufen sind, dürfen sich an anderer Stelle nicht wiederholen – nicht mit China und auch nicht beim Thema Rohstoffe.
Die EU hat bereits für ihre Industriestrategie 2020 sieben Felder strategischer Bedeutung ausgemacht, auf denen die Abhängigkeiten besonders groß sind. Darunter: Rohstoffe, pharmazeutische Wirkstoffe und Halbleiterchips. Batteriezellen stammen ebenso wie die seltenen Erden größtenteils aus China, Wafer überwiegend aus Taiwan und Japan. 70 Prozent des weltweiten benötigten Neongases stammt aus der Ukraine. Derzeit sieht es nicht danach aus, als sei dieses Bewusstsein weit verbreitet.
Ja, viele Firmen haben sich von der Just-in-time-Anlieferung verabschiedet und leisten sich üppige, teure Lager. Verständlich, aber nicht ausreichend. Laut einer Umfrage der deutschen Außenhandelskammer in Peking haben gerade mal 16 Prozent der Firmen Pläne für ein Taiwan-Szenario.
Jedes Unternehmen muss sich lieber früher als später mit strategischen Fragen beschäftigen – selbst wenn die erst mittel- und langfristig relevant werden. Wer mit einer rosaroten Brille in den Himmel sieht, wird auch Gewitterwolken für Wattebäusche halten.
Empfohlen von LinkedIn
Bedarf nach Technikkompetenz
Zweitens: Es bedarf einer neuen Art der Kompetenz. Automatisierung und Robotisierung, Künstliche Intelligenz und Quantencomputing, Blockchain und Biotech – neue Technologien spielen eine zentrale Rolle in jeder Sicherheits- und geopolitischen Fragestellung. Entsprechend liefern sich die USA, China und auch die EU ein Rennen, in welcher Region die besten Rahmenbedingungen für diese Innovationen herrschen.
Hinzu kommt die Geschwindigkeit der technologischen Innovationen und deren Verflechtung. Das erschwert das Verständnis für Entscheidungsträger, egal ob in Politik, Wirtschaft oder Zivilgesellschaft. Aber ohne dieses Verständnis lassen sich keine klugen Entscheidungen treffen. Wer die Spielregeln nicht kennt, wird nie als Sieger vom Platz gehen.
Unternehmen müssen dieses Verständnis auf allen Hierarchie-Ebenen entwickeln. Sie brauchen eine Art technological literacy, also ein tiefes Grundverständnis neuer Technologien. Und das lässt sich am besten in einem gemeinsamen Raum schulen. Dann, wenn politische Entscheidungsträger mit Branchenexperten aus Wirtschaft und Wissenschaft sprechen, um Informationslücken zu schließen und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Denn große Probleme lassen sich immer nur gemeinsam lösen.
Geopolitisches Risikomanagement
Drittens: Das Management muss die geopolitischen Risiken systematisch observieren, Auswirkungen auf sein Geschäft analysieren und bestenfalls darauf reagieren – im Hinblick auf das Geschäftsmodell oder die Strategie, auf Investitionsplanung, Finanzierung oder Recruiting. Kurzum: Geopolitik wird wesentlicher Bestandteil der Unternehmensstrategie.
Und dazu gehören vor allem drei Schritte. Unternehmen müssen sich bewusst machen, welche geostrategischen Räume für den Geschäftserfolg besonders relevant sind; herausfinden, welche Folgen sich daraus für ihre strategischen Themenfelder ergeben; und wie sich diese Entwicklungen auf das gesamte Unternehmensergebnis auswirken. In den meisten Fällen folgt daraus eine Überprüfung der Strategie, wenn nicht deren komplette Neuausrichtung.
Bei diesen Schritten können schon ein paar vergleichsweise simple Fragen helfen: Welche sind die wichtigsten Absatzmärkte mit den wichtigsten Kunden? Welches sind die wichtigsten Beschaffungsmärkte, wo sitzen die wichtigsten Zulieferer in der Lieferkette? Auf welchen Logistikrouten und Transportwegen gibt es Bruchstellen? Wo plane ich Investitionen oder neue Produktionsstätten? Und in welchen Ländern sitzen heute und morgen die wichtigsten Mitarbeiter und Talente?
Eigene Abteilung im Unternehmen
Klar ist auch: Solche Fragen beantwortet niemand am Feierabend. Das geopolitische Risikomanagement gehört daher fest in Unternehmen verankert. Es darf nicht sein, dass die gesellschaftlichen Dimensionen strategischer (Expansions-) Überlegungen erst im Konfliktfall wahrgenommen werden. Die Bereiche Strategie, Unternehmenskommunikation, Politik und Nachhaltigkeit sollten in jedem Unternehmen viel stärker zusammenarbeiten oder in einem eigenen (Vorstands-) Bereich zusammengefasst werden.
Um das klar zu sagen: Es geht gar nicht darum, permanent pessimistisch durch die Welt zu gehen und ständig in Katastrophenszenarien zu denken. Sondern darum, unerwartete Risiken zu antizipieren und damit Orientierung zu geben – für Mitarbeiter*innen, Anteilseigner*innen, Kund*innen und Konsument*innen; Strategien, Optionen und Handlungsweisen zu erarbeiten, um Schäden vom Unternehmen abzuwenden; und so letztlich das Fortbestehen des Unternehmens zu sichern.
Man kann den Worst Case nicht allein vermeiden. Man kann sich aber rational und rechtzeitig darauf einstellen. Wenn er dann tatsächlich eintritt, ist man immerhin vorbereitet. Und falls er doch ausbleibt, ist die Freude über den ausgebliebenen Extremfall größer als der Ärger über die übertriebene Vorsicht.
Partner @ EY Strategy & Transactions
10 MonateSpot on, Michael!
Founder I Strategic Communicator I Advisor I Author. Empowering People I Start-Ups I Corporations.
10 MonateLieber Michael: well put. Ohne Strategie keine langfristig erfolgreiche Unternehmenskommunikation. As simple as it is! Und Strategie ist nicht (!) Planung.
Forschung und Lehre am IZES und der VICTORIA Hochschule
10 MonateDas gilt auch für das Konfliktrisiko der verwendeten Ressourcen und Energieträger. Wir haben dazu in KoWa ein Tool entwickelt, das ich gern teilen kann.