Der digitale Doc als wertvoller Begleiter
Vertrauen Sie Ihrem Arzt? Ja, voll und ganz, sagen neun von zehn Deutschen. Doch um Vertrauen zu erarbeiten und zu bewahren, braucht es Zeit, und die fehlt Ärzten zunehmend. Dabei ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient wichtig für den Erfolg einer Behandlung. Therapieuntreue – also wenn Patienten den Rat ihres Arztes nicht befolgen – hat gesundheitliche sowie wirtschaftliche Konsequenzen: Schätzungsweise zehn Milliarden Euro verliert unser Gesundheitssystem dadurch pro Jahr – und das, während der Kostendruck ohnehin zunimmt.
Dieser Kostendruck engt auch Ärzte ein. Gelähmt von administrativen Tätigkeiten, ausgedünnt vom Ärztemangel und getrieben von großer Verantwortung, wächst ihre Belastung. Einen Arbeitstag verliert ein Arzt pro Woche an die Bürokratie. Das Burnout-Risiko des Berufsstandes liegt bei 80 Prozent, berichtete unlängst die British Medical Association.
Für ein Unternehmen der Medizinbranche stellt sich deshalb die Frage: Wie können wir Ärzte entlasten, damit sie sich besser auf ihre eigentliche Expertise und auf ihre Patienten konzentrieren können?
Aufgaben, die beispielsweise auf dem reinen Erkennen von Mustern basieren, muss nicht unbedingt ein Mensch ausführen. Hier ist eine Künstliche Intelligenz (KI) schneller und präziser – vorausgesetzt, der Algorithmus hat anhand hochwertiger Trainingsdaten gelernt, wonach er suchen soll. Allein die Systeme von Siemens Healthineers kommen pro Stunde mit 240.000 Patienten in Berührung und generieren dabei eine Vielzahl von Gesundheitsdaten. Um darin Muster zu finden und kausale Zusammenhänge zu begreifen, braucht es eine Intelligenz.
In der bildgebenden Diagnostik ist diese Intelligenz der Radiologe. Im Sekundentakt interpretiert er klinische Bilder, sucht nach Mustern und leitet die Diagnose ab. Entwickler von Siemens Healthineers haben eine KI so trainiert, dass sie auf CT-Aufnahmen auffällige Bereiche in Organen, Geweben und Wirbelkörpern findet. Für den Radiologen kann diese KI-Assistenz eine wertvolle Entlastung sein: Sie übernimmt Routinejobs und weist auch auf Veränderungen hin, die nicht im Fokus der Untersuchung standen.
Eine andere KI-Lösung wird gerade am Universitätsklinikum Essen erprobt. Gespeist mit Daten aus der Bildgebung und dem Labor, kennt dieser digitale Assistent sowohl den aktuellen Gesundheitszustand als auch die Krankengeschichte des Patienten. Basierend auf medizinischen Leitlinien, hilft er Ärzten, den besten nächsten Behandlungsschritt zu wählen.
Abseits solcher Forschungsprojekte liegen Gesundheitsdaten in getrennten Silos: Ärzte versenden Befunde per Post, Patienten tragen Arztbriefe von Praxis zu Praxis. Deutschland hinkt bei der Digitalisierung hinterher, landet in einer Vergleichsstudie der Bertelsmann-Stiftung auf Rang 16 von 17. Auf Platz 1 rangiert Estland: Dort werden alle Gesundheitsdaten der 1,3 Millionen Einwohner in elektronischen Patientenakten verzeichnet, dezentral gespeichert und mit Blockchain-Technologie geschützt. Jeder Bürger entscheidet selbst, welcher Mitarbeiter im Gesundheitswesen welche Inhalte einsehen darf. Jeder Blick in die Akte wird namentlich verzeichnet, und unbefugtes Öffnen sanktioniert.
Ab 2021 hat auch in Deutschland jeder Versicherte einen Anspruch auf eine elektronische Patientenakte. Beinhalten soll sie Dokumente wie Arztbriefe, Medikationspläne und einen Datensatz für den Notfall. Umfragen zufolge sehen die meisten Deutschen das positiv, allerdings haben viele auch Bedenken bei der Datensicherheit. Ich stimme zu, dass die Gesundheitsdaten das persönlichste Daten-Set sind, das man im Lauf seines Lebens sammelt. Als Gesellschaft werden wir eine Lösung finden müssen, wie wir Datenschutz und Gesundheit zusammenbringen wollen. Ein dogmatischer Datenschutz wird uns beim medizinischen Fortschritt eher ausbremsen als weiterbringen – zumeist zu Lasten des Patienten.
Das ist die ethische Dimension der Digitalisierung des Gesundheitswesens; es kommt eine ökonomische dazu: Wie lange können wir uns die steigenden Kosten leisten, die mit unserer höheren Lebenserwartung und teuren Therapien einhergehen? Eine weitreichende Digitalisierung hätte immerhin das Potenzial, über ein Zehntel der deutschen Gesundheitsausgaben pro Jahr einzusparen, rechnet McKinsey vor. Diese Einsparungen kämen beispielsweise zustande, weil besser kontrollierte Therapien erfolgreicher verlaufen und weil weniger Patienten doppelt untersucht werden.
Prinzipiell haben wir in Deutschland gute Voraussetzungen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens maßgeblich mit zu gestalten. Die Medizintechnik-Industrie hierzulande ist hoch innovativ, wir vereinen Spitzentechnologie mit exzellenter Forschung und Entwicklung; bei Patenten und Welthandelsanteil liegt Deutschland auf Platz 2 hinter den USA. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern haben wir das Potenzial, die medizinische Versorgung auf eine neue Stufe zu heben; zusätzlich sehe ich hier die Chance eines weiteren Technologie- und Wohlstandsmotors für Deutschland.
Denn ich bin überzeugt: Der digitale Assistent wird die Medizin genau so verändern wie einst die Einführung von Penizillin und Schutzimpfungen. Ärzte werden von Routinearbeiten entlastet, mehr Zeit für ihre Patienten haben und sie – über digitale Assistenten – rund um die Uhr begleiten können. Patienten wiederum erhalten mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung für sich und ihre Gesundheit.