Deutsch (9) - Der Konjunktiv (I)
… und wie er missverstanden ist.
Tatsächlich gibt es auf allen Grammatikseiten im Internet und in Grammatikbüchern recht einfache Erklärungen zum Konjunktiv I. Ich hatte trotzdem jahrelang meine Problemchen damit, die Anwendung richtig zu beherrschen. Wie Konjunktiv I und II aufgebaut sind ist eigentlich einfach, aber wann und warum werden sie benutzt? Auch in Zeitungen und im Fernsehen werden beide Konjunktivformen immer wieder völlig falsch angewendet und durcheinandergebracht.
Wenn man sich die Erklärung beim Duden ansieht und die Bedeutung einmal entschlüsselt, ist es auch klar wieso. Die Erklärung der Funktion ist falsch – nicht nur beim Duden, sondern so ziemlich in jeder Abhandlung darüber (ich spreche nur von der Funktion, nicht davon, wie er grammatikalisch aufgebaut wird). Aber sehen wir uns einfach einmal die Erklärungen an:
„Konjunktiv I und II unterscheiden sich nicht zeitlich, sie haben unterschiedliche Funktionen.“ (duden.de)
Das stimmt. Beide können in unterschiedlichen Zeitformen genutzt werden – aber ihre Funktion ist eine andere.
„Der Konjunktiv I wird vornehmlich zur Kennzeichnung der indirekten Rede gebraucht, der Konjunktiv II vor allem als Ausdruck des nur Vorgestellten, des Möglichen und des Irrealen, wobei der Konjunktiv II häufiger vorkommt als der Konjunktiv I.“ (duden.de)
Das ist eine Aussage, die wir gleich näher betrachten wollen. Stimmt das wirklich so?
Laut Duden kann der Konjunktiv I gebraucht werden
Die Kennzeichnung der indirekten Rede?
Fangen wir mit dem ersten Punkt an: Ingo sagte, der Duden irre sich!.
Das ist eine indirekte Rede und sie ist im Konjunktiv. Aber wird die Rede durch den Konjunktiv indirekt? Wäre das seine Funktion, dann bräuchte man den Konjunktiv I um die Rede als indirekte hervorzuheben. Der Duden spricht ja von einer Funktion.
Formen wir also den Satz um: Ingo sagte, dass der Duden sich irrt!.
Auch hier haben wir eine indirekte Rede, jedoch keinen Konjunktiv. Also ist die Funktion des Konjunktivs gar nicht, aus einer Rede eine indirekte zu machen! Ja, der Konjunktiv kann eine indirekte Rede enthalten. Er kann auch die Aussage enthalten, dass der Duden sich irrt: „Er wusste, der Duden läge falsch!“. Das ist aber kein Beweis dafür dass indirekte Reden die Funktion des Konjunktiv I sind. Indirekte Reden sind also mit oder ohne Konjunktiv möglich.
Als Ausdruck des Wunsches, einer Aufforderung, einer Annahme
Der Ausdruck eines Wunsches umfasst laut Duden z. B. „Man folge mir bitte unauffällig. Sie leben hoch!“. Auf anderen Seiten fand ich noch „Sei gegrüßt!“.
Fangen wir mit „Sei gegrüßt!“ an. Was wir wissen müssen ist, wie das Verb sein im Konjunktiv I (laut Duden) konjungiert wird:
Sei gegrüßt ist dann ja aber irgendwie falsch. Wäre dies Konjunktiv, müsste es seiest gegrüßt heißen. „sei“ existiert nur im Imperativ-Form der 2. Person Singular. „Sei gegrüßt!“ Ist also ein Imperativ – ein Befehl oder Aufruf – und kein Konjunktiv.
Befassen wir uns mit „Sie leben hoch!“ oder „Lebe hoch!“ wie man in der zweiten Person sagt. Wie ist denn die Konjugation von leben laut Duden?
Huch! Der Duden behauptet, „Lebe hoch!“ sei ein Konjunktiv, aber zeitgleich sagt er, es müsse „Lebtest hoch!“ heißen, wäre es einer? Ja, der Duden macht den gleichen Fehler wie die anderen Seiten. Auch hier ist es ein Imperativ für die 2. Person Singular „lebe“. Und wie ist es mit „Sie leben hoch!“? Sie leben ist im Indikativ Präsens und im Konjunktiv Präsens gleich. Laut Duden wird dann das Verb im Konjunktiv II ausgedrückt. Also wäre es „sie lebten hoch“ anstelle von „sie leben hoch“, was bedeutet, „sie leben hoch“ ist kein Konjunktiv.
Nehmen wir das dritte und letzte Beispiel: „Man folge mir bitte!“. Auch hier können wir wieder jemanden persönlich ansprechen: „Du folge mir bitte!“ Aber wie wird „folgen“ denn konjungiert?
Was? Kann das sein? Es müsste „Du folgest mir bitte!“ heißen? Ja, auch hier wird der Imperativ verwendet und der heißt „Folge mir bitte!“ oder „Man folge mir bitte!“. In der zweiten Person würde es "Du folgest mir bitte" heißen. In der dritten Person wäre es „Er folge mir bitte!“ oder „Man folge mir bitte!“ Darüber hinaus ist „Man folge mir bitte!“ eine feststehende Redewendung aus dem Mittelalter. Niemand würde heute im Alltag (außer im Scherze) sagen: „Die Dame vor mir beeile sich!“ oder „Er möge mir das Glas reichen!“
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Genauso sieht es mit allen anderen Beispielen dieser Art auf allen Grammatikseiten aus. Sie verwechseln Konjunktiv und Imperativ oder zeigen die Funktion anhand mittelalterlicher Redewendungen, die so gar nicht mehr benutzt werden – und zwar durchgehend.
Wie Wünsche funktionieren
Wünsche kann ich im Konjunktiv so ausdrücken:
Wünsche drücken sich immer über Verben wie wünschen, mögen, wollen, verlangen oder Konstruktionen wie „Wenn sie doch endlich käme!“ aus. Sie alle können natürlich im Konjunktiv stehen, aber wir können auch ohne Konjunktiv den Wunsch ausdrücken:
Im Konjunktiv können selbstverständlich die Verben des Wünschens verwendet werden und damit lassen sich Wünsche im Konjunktiv ausdrücken, nur hebt ihn das nicht vom Indikativ ab. Wünsche funktionieren also nicht aufgrund des Konjunktivs, sondern aufgrund des als Wunsch formulierten Satzes. Ohne jene Verben, die das ausdrücken, funktioniert im Konjunktiv kein Wunsch!
Die Kennzeichnung von irrealen Vergleichssätzen
Bleibt laut Duden eine „Funktion“, die wir noch nicht betrachtet haben. Wohlweislich gibt der Duden dafür kein Beispiel, denn es sind Konstruktionen, die in der Sprache nicht vorkommen, jedenfalls fällt mir kein korrektes Beispiel ein und ich konnte auch keines finden. Fehlerhafte Beispiele hingegen findet man durchaus:
„Aber es wäre übertrieben zu sagen, dass er das mit Absicht getan habe!“ (spiegel.de)
Solche Konstruktionen finden sich in Tageszeitungen durchaus. Es handelt sich jedoch um Unterstellungen. Und Unterstellungen sind Irreal. Daher gehören sie nicht in den Konjunktiv I, sondern in den Konjunktiv II:
„Aber es wäre übertrieben zu sagen, dass er das mit Absicht getan hätte!“
So und nicht anders muss der Satz lauten. Im Konjunktiv I gibt es solche irrealen Konstruktionen nicht. Immer dann, wenn etwas irreal, unwahr oder rein spekulativ ist, überwiegt der Konjunktiv II und wird anstelle des Konjunktiv I verwendet (das steht allerdings auch auf der Duden-Seite so).
Was ist denn jetzt die Funktion des Konjunktiv I?
Wir wissen, dass die indirekte Rede im Konjunktiv I möglich, dieser dafür jedoch nicht erforderlich ist. Wir wissen, dass sich Wünsche im Konjunktiv genauso ausdrücken lassen, wie im Indikativ – allein über die Verben des Wünschens und Verlangens. Aber wenn man alles ohne ihn tun kann, wozu ist er dann gut? Kann er einfach entfallen? Ha! Mitnichten! Natürlich hat der Konjunktiv I eine Funktion, die man so einfach im Indikativ nicht nachahmen kann. Nur wird die auf keiner einzigen Grammatikseite erwähnt. In der alltäglichen Sprache kommt sie kaum vor, aber im Schriftdeutsch ist sie gebräuchlich und erforderlich, um nicht verwirrende, überlange Satzkonstruktionen schaffen zu müssen.
Der Konjunktiv I setzt Sätze und Aussagen in Zusammenhang, die mit einem inneren Dialog oder einer Äußerung einhergehen.
Wenn ich in einem Text Folgendes schreibe, dann werden Sie sofort einige Dinge daraus erkennen, weil ich den Konjunktiv I verwende:
Mein Nachbar donnerte gegen die Tür, bevor ich sie öffnete. Es sei eine Unverschämtheit von mir und überhaupt könne er mich so nicht mehr ernst nehmen. Es werde jetzt gehen. Er stapfte voller Unmut davon.
Der Konjunktiv I setzt den zweiten Satz in Bezug auf das Subjekt des ersten und macht klar, dass dieser Satz und der folgende von ihm (meinem Nachbarn) gesagt wurden. Den vierten Satz werden Sie sofort nicht mehr als seine Rede verstehen, sondern als Handlung, die ich beschreibe (entsprechend dem ersten Satz), denn dieser verwendet den Konjunktiv nicht mehr.
Der Konjunktiv I macht nichts anderes, als Gesagtes, Gedachtes, Gewünschtes, Verlangtes, Vorgestelltes, Angezweifeltes usw. in Zusammenhang mit dem Sprecher (Denker) zu bringen. Es geht beim Konjunktiv I immer um Dialoge – innere oder äußere – und die Möglichkeit sie darzustellen, ohne jeweils das Sagen, Denken usw. einzeln aufzulisten. Wir können so komplexe Dialoge mit einem Subjekt über mehrere Sätze abbilden, ohne noch ein einziges Mal auf diese Person zu verweisen. Und das funktioniert nur mit dem Konjunktiv I. Nicht mehr und nicht weniger ist also seine Funktion: Er setzt einen Dialog, einen Gedanken, einen Zweifel usw. in mit einem Subjekt in Zusammenhang