Deutschland hat gewählt
Viel Staub, wenig Gewissheit. Interessenvertreter müssen abwarten. Eine Analyse von Ole von Beust.
1. Wahlgewinner sind die „kleinen“ Parteien
Zum ersten Mal steht das politisch sonst so stabile Deutschland vor der Situation, dass über einen längeren Zeitraum unklar ist, wie es zukünftig weitergeht. Sicher ist, die politische Auseinandersetzung wird härter. Es liegt auch eine Chance in diesem Ergebnis: Die Kontroversen, die in der Gesellschaft ausgetragen werden, sind jetzt in ihrer ganzen Bandbreite im Parlament angekommen und müssen hier demokratisch gelöst werden.
Die Ausgangslage ist für die Bundeskanzlerin unkomfortabel. Da die SPD erklärt hat in die Opposition zu gehen, kann die Kanzlerin nicht mit ruhiger Hand sondieren. Die Union wird FDP und Grüne zu Koalitionsverhandlungen einladen. Jamaika ist zur Einigung verdammt, alles andere würde eine politische Krise auslösen und alle beteiligten Parteien, auch die CSU, wissen das.
Dramatisch sind die Verluste der CSU. Mit diesem Ergebnis würde sie bei der im Herbst 2018 anstehenden Landtagswahl die absolute Mehrheit verlieren. Befürchtet wird, dass Seehofer bundespolitisch abdriftet und seine Strategie nur an Bayern ausrichtet. Sogar die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU steht zur Disposition.
Gefragt ist die Moderatorenrolle der Bundeskanzlerin. Doch die Zentrifugalkräfte innerhalb der Union nehmen zu. Für Merkel beginnt das langsame Ende. Der konservative Flügel wittert Einflussmöglichkeiten. Merkel muss damit rechnen, dass die Loyalität zu ihr bröckelt und sich potentielle Nachfolger einmischen.
Ungemütlich wird das Klima im Deutschen Bundestag. Die AfD zieht mit über 90 Abgeordneten ein. Im Ausland wird das genau verfolgt. Der Export-Nation Deutschland schadet es, wenn im Bundestag nationalistische und völkische Reden gehalten werden.
2. Koalitionsoptionen
Es gibt gute Chancen, dass sich Union, FDP und Grüne auf einen gemeinsamen Koalitionsvertrag verständigen und eine Mehrheit in ihren Parteigremien finden. Wer im zukünftigen Jamaika-Bündnis welches Regierungsamt übernimmt, ist offen.
Jamaika ist in keiner Partei die gewünschte Regierungsoption. Jamaika funktioniert nur, wenn alle daran beteiligten Parteien den Freiraum erhalten, in ihren Kernkompetenzen Erfolge zu erzielen und wenn sich die Koalition auf gemeinsame Projekte verständigt, die in einer Legislaturperiode zu bewältigen sind.
Jamaika hätte den Charme des Neuen, unterschiedliche Milieus könnten in eine stabile Regierung der bürgerlichen Mitte zusammengeführt werden. So böte sich die Chance, den gesellschaftlichen Konsens auf eine breite Basis zu stellen und den Extremismus an den Rändern zurück zu drängen.
Eine Neuwahl ist keine Alternative. Eine Neuwahl wäre die Konsequenz, wenn die Verhandlungen scheitern. Die SPD wird nicht von ihrer Absage abrücken.
Sollten Koalitionsverhandlungen scheitern, kann der Bundespräsident – bevor er Neuwahlen zulässt – ein Mitglied des Bundestages mit der Regierungsbildung beauftragen. Dies könnte auch eine Minderheitsregierung sein.
3. Wie geht es jetzt weiter?
Bis zur Niedersachsenwahl am 15. Oktober wird sich wenig bewegen. Zunächst stehen Sondierungsgespräche an. Die amtierende Bundeskanzlerin und Vorsitzende der CDU wird formell zuerst den jetzigen Koalitionspartner SPD zu Gesprächen einladen. Defacto werden aber Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen mit FDP und Grünen geführt.
Die aktuelle Regierung bleibt im Amt, bis sich der Bundestag konstituiert hat und ein Bundestagspräsident gewählt ist. Geleitet wird die konstituierende Sitzung des Bundestages von Wolfgang Schäuble, der von allen Abgeordneten die längste Zeit im Bundestag sitzt.
Milestones im Überblick
26.-27.09.2017
Treffen der Fraktionen, Wahl der Fraktionsvorsitzenden & Parlamentarischen Geschäftsführer
27.09.-15.10.2017
Landtagswahlkampf Niedersachsen
15.10.2017
Landtagswahl Niedersachsen
21.10.2017
Bundesdelegiertenkonferenz Bündnis 90/Die Grünen, Berlin. Entscheidung über Aufnahme Koalitionsverhandlungen
Voraussichtlich 24.10.2017
Konstituierende Sitzung des Bundestages (maximale Ausreizung der 30-Tages-Frist)
06.11.2017
Beginn erste reguläre Sitzungswoche des Bundestages
07.-09.12.2017
SPD-Bundesparteitag, Berlin
27.01.2018
Grüne-Bundesparteitag, Potsdam
Wenn nach dem Ende von Koalitionsverhandlungen ein Koalitionsvertrag steht, wird dieser in den Parteien entweder im Vorstand, auf einem Parteitag oder in einer Mitgliederbefragung abgestimmt. Erst wenn die Regierungsmehrheit im Bundestag steht, wird sich die Bundeskanzlerin zur Wahl stellen. Nach der Wahl der Kanzlerin benennt diese – nach vorheriger Absprache mit dem oder den Koalitionspartnern – die Regierungsmitglieder. Dies kann auch mehrere Monate dauern. Auch der Bundestag wird erst danach seine Ausschüsse bilden.
4. Was sind die Topthemen der Koalitionsverhandlungen / des 19. Deutschen Bundestages?
Europa und Internationale Beziehungen
Spannend wird, wie sich die neue Bundesregierung zu den EU-Reformvorschlägen von Macron positioniert. Hier gehen die Positionen der Koalitionsparteien weit auseinander. Brexit, Griechenlandhilfe, Eurokrise sind die Themen, bei denen weiterhin die Richtlinienkompetenz von Bundeskanzlerin Merkel ein hohes Gewicht haben wird.
Digitalisierung
Die Bundeskanzlerin will einen Kabinettsausschuss im Kanzleramt einrichten, der sich eng mit der EU-Kommission abstimmen soll und einen nationalen Rat für Digitalisierung mit Beteiligung der Wirtschaft und gesellschaftlichen Experten sowie Gruppen einrichten. FDP und Grüne streben ein eigenes Ministerium für Digitalisierung an.
Energiewende
Die Frage, wann Deutschland aus der Braunkohleverstromung aussteigt und wie schnell der weitere Ausbau von Sonne, Wind und Wasserkraft vorangetrieben wird und mit welchen Maßnahmen Deutschland die Klimaziele des Pariser Abkommens erreichen will, ist höchst umstritten. Die NRW-FDP ist für den weiteren Braunkohleabbau, die Grünen wollen so schnell wie möglich den Ausstieg. Verständigen wird man sich darauf, dass Deutschland die Ziele des Pariser Abkommens einhält und umsetzt.
Verkehrswende
Der Autogipfel hat den Weg aufgezeigt, Politik und Automobilwirtschaft müssen gemeinsam einen Fahrplan aufstellen, wie die EU-Grenzwerte für Feinstaub in den Städten eingehalten werden können. Von Seiten der EU drohen Strafzahlungen, von Seiten der Umweltverbände Gerichtsurteile mit Fahrverboten. Hier kann es ganz im Sinne des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann einen gemeinsamen Fahrplan ohne Festlegung auf Jahreszeiten geben.
Einwanderungsgesetz, Gesundheit, Steuern
Ein Einwanderungsgesetz fordern sowohl FDP als auch Grüne, hier ist mit einem Kompromiss zu rechnen, auch wenn die CSU mauert. Auf eine Bürgerversicherung wird sich die FDP kaum einlassen, Fortschritte können erzielt werden bei der Krankenhausfinanzierung und bei Investitionen in die Bildung. Welche Steuern die Koalitionäre anpacken ist offen, die Vorstellungen von FDP und Grünen liegen hier weit auseinander.
Flüchtlinge, Asyl und innere Sicherheit
Hier wird die CSU Druck machen, man wird sich darauf verständigen, die europäischen Maßnahmen zur Grenzsicherung und Reduzierung der illegalen Einwanderung zu unterstützen. Für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Gewährung von Asyl wird es gemeinsame europäische Standards geben. Ein deutscher Alleingang, wie in der Flüchtlingskrise 2015, wird sich nicht wiederholen. Im Bereich der inneren Sicherheit werden die Themen Terrorismusbekämpfung und IT-Sicherheit im Vordergrund stehen. FDP und Grüne stehen gemeinsam dafür, dass hier Bürgerrechte nicht auf der Strecke bleiben.
5. Parteien stellen sich neu auf | Diese Köpfe müssen Sie kennen
CDU
Es ist offen, wer Minister bleibt, wer sein Ressort behält und wer ganz ausgetauscht wird. Es spricht einiges dafür, dass das starke Duo Merkel/Schäuble weiter den Kurs bei den EU-Reformen und die europäische Finanzpolitik bestimmen wird. Wichtige Rollen werden weiterhin Peter Altmaier und Volker Kauder spielen.
Die Zentrifugalkräfte innerhalb der Union nehmen jetzt zu. Der konservative Flügel wittert neue Einflussmöglichkeiten. Merkel reagiert und macht zunächst den konservativen Volker Kauder wieder zum Fraktionsvorsitzenden.
Spätestens ab 2018 beginnen die Auseinandersetzungen über die neue Führungsgruppe und das Machtzentrum in der CDU. Eine eingeschworene Gruppe bilden Paul Ziemiak (Bundesvorsitzender der Jungen Union | JU), Carsten Linnemann (Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU | MIT) und Jens Spahn (Präsidiumsmitglied & aktuell Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium). Mindestens einen der Drei muss Merkel prominent einbinden.
Zu den Abgeordneten, die nach vorne drängen gehören: Dr. Hendrik Hoppenstedt aus Niedersachsen oder Norbert Röttgen aus NRW. Merkel hat auch angekündigt, mehr Frauen in das Kabinett zu holen. Daher ist mit Monika Grütters (derzeit Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien) zu rechnen.
CSU
Der hohe Wahlsieg der AfD auch in Bayern bringt Seehofer vor der Bayernwahl im Herbst 2018 in Bedrängnis. Konkurrent Markus Söder wird sich warmlaufen und den Kurs der CSU weiter nach rechts treiben. Der bayrische Innenminister, Joachim Herrmann, hat keinen eigenen Wahlkreis. Trotz Listenplatz 1 zieht er nicht in den Bundestag ein. Ob er ohne Mandat als Bundesinnenminister nach Berlin geht, ist zweifelhaft.
SPD
Andrea Nahles wird Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag – das wichtigste Amt, wenn die SPD tatsächlich in die Opposition geht. Die Fraktion konstituiert sich am Mittwoch, Nahles Wahl gilt als sicher. Sie hat die Unterstützung einflussreicher Landesfürsten wie Malu Dreyer und Olaf Scholz. Als ehemalige Juso-Vorsitzende wird Nahles auch vom linken Flügel der Partei getragen. Der Parteivorsitzende Martin Schulz hatte selbst Ambitionen für das Amt, konnte diese aber nach der verheerenden Wahlniederlage nicht durchsetzen. Er hat jedoch gute Chancen, den Parteivorsitz vorerst zu behalten. Die SPD wird sich in der selbstgewählten Oppositionsrolle personell und inhaltlich neu aufstellen. Dies wird allerdings erst nach der Niedersachsen-Wahl und Bildung einer neuen Bundesregierung wirklich beginnen. Wer sich perspektivisch in der Führungsriege durchsetzt, ist nicht klar absehbar. Der linke Flügel der SPD trifft sich am 27. September zu einem Strategietreffen. Die Sprecher des linken Flügels, Ralf Stegner und Matthias Miersch, wollen ihren Einfluss in der Partei ausbauen. Im wichtigen NRW-Landesverband herrscht nach dem Rücktritt von Hannelore Kraft ein eklatantes Machtvakuum. Wichtige Rollen werden neben Andrea Nahles auch Olaf Scholz, sowie Manuela Schwesig und Malu Dreyer übernehmen. Die Zukunft von Sigmar Gabriel, Heiko Maas und Hubertus Heil ist ungewiss. Letzter hat jedoch vorerst Chancen, sich als Generalsekretär zu halten. Thomas Oppermann gilt hingegen als abgemeldet. Junge Hoffnungsträger mit Ambitionen in der Parteiführung sind Lars Klingbeil, Michelle Müntefering und der Finanzexperte Carsten Schneider. Der Parteitag Anfang Dezember wird die Richtung aufzeigen. Bis dahin ist auch Schulz als Vorsitzender sicher.
FDP
FDP-Chef Christian Lindner wird die Fraktion jetzt bauen und ihr vorsitzen. Sein Vertrauter Marco Buschmann wird Fraktionsgeschäftsführer. Es ist auch Buschmann, der die Personalgewinnung auf Arbeitsebene für die FDP organisiert.
Aber wer sind eigentlich die Leute hinter Christian Lindner? Das FDP-Personal ist entgegen der medialen Einordnung für die Besetzung der wichtigen Posten nicht dünn gesät: Aus vielen Bundesländern ziehen die erfolgreichen Fraktionsvorsitzenden wie Christian Dürr, Katja Suding und Parteivize Wolfgang Kubicki in den Bundestag ein. Mit Alexander Graf Lambsdorff ist ein solider, international erfahrener Politiker an Bord. Und auch erfahrene MdBs der 16. Legislatur finden sich in der neuen Fraktion wieder, z. B. wird sich Lindner auf Otto Fricke und Dr. Hermann-Otto Solms verlassen können. Die ehemalige Düsseldorfer Bürgermeisterin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bringt wichtige Verwaltungserfahrung mit und auch der FDP-Chef von Sachsen-Anhalt, Frank Sitta, steht für professionelle Politik. Und was nicht vergessen werden darf: kommt die FDP in Regierungsverantwortung, kann sie auch aus den Bundesländern und von extern rekrutieren. Nicht jedes Amt muss mit einem gewählten MdB besetzt werden.
Bei dem Zugriff auf Ministerien stehen vermutlich das Wirtschaftsministerium und das Finanzministerium an erster Stelle. Ob sich das von der FDP geforderte neue Ministerium für Digitalisierung und Bildung durchsetzt, bleibt abzuwarten.
Bündnis 90/Die Grünen
Die grüne Regierungsbeteiligung in einer Jamaika-Koalition ist an der Basis stark umstritten, insbesondere der linke Flügel muss jetzt eingebunden werden. Ohne Jürgen Trittin und Anton Hofreiter wird es nicht gehen. Die Besetzung von Regierungsämtern ist bei den Grünen besonders kompliziert. Vertreten sein müssen der linke und Realo-Flügel, Ost- und West-Bundesländer und die Frauenquote muss beachtet werden. Wer sich am Ende durchsetzt bleibt spannend. Es gibt starke Stimmen in der grünen Partei, die den ersten Zugriff beim Umweltministerium sehen und nicht beim Außenministerium. Zu den aufstrebenden Abgeordneten gehören auf jeden Fall Kerstin Andreae aus Baden Württemberg, Oliver Krischer aus NRW und Konstantin von Notz aus Schleswig-Holstein. Im Bundesvorstand wird Robert Habeck auf Cem Özdemir folgen, wenn die Satzung der Partei so geändert wird, dass er als neuer Bundesvorsitzender Minister in Schleswig-Holstein bleiben kann.
Linke
Die Linke hat insgesamt ein gutes Wahlergebnis mit leichten Zugewinnen erreicht. In den Ostbundesländern muss sie zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil ehemaliger Linkswähler zur AfD abgewandert ist. Es ist davon auszugehen, dass Sahra Wagenknecht weiter eine führende Rolle in Fraktion und Partei einnehmen wird. Wichtigstes Ziel der Linken wird es in den kommenden Jahren sein, ihre Basis in den Ostbundesländern nicht zu verlieren.
AfD
Die AfD-Bundestagsfraktion startet mit einem Eklat. Die direkt gewählte Vorsitzende der Partei, Frauke Petry, erklärte, sie werde nicht Mitglied der AfD-Fraktion. Sie zieht als fraktionslose Abgeordnete in den Bundestag. Wie zu erwarten war, brechen nach der Wahl die parteiinternen Machtkämpfe in aller Härte aus. Es wird spannend bleiben, wer die Führung übernimmt und die Richtung der Partei bestimmt.