Deutschlands Teilzeitkräfte sind ein Reservoir gegen Arbeitskräftemangel
Von Professor Bert Rürup
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland geht stetig zurück. Dies verschärft den Arbeitskräftemangel, bietet aber auch Chancen, den Herausforderungen der alternden Gesellschaft zu begegnen.
Das Handelsblatt Research Institute (HRI) geht im Einklang mit den anderen Wirtschaftsforschungsinstituten und der Bundesregierung davon aus, dass das Allzeithoch bei der Beschäftigung 2023 oder 2024 mit knapp 46 Millionen erreicht werden dürfte, um danach um 130.000 Personen pro Jahr zurückzugehen. Der offenkundige Arbeitskräftemangel wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten also deutlich verschärfen.
Ein Patentrezept, um diesem wachstumsfeindlichen Trend entgegenzuwirken, gibt es nicht. Die oft geforderte Verlängerung der Lebensarbeitszeit würde zu spät greifen, da sie frühestens nach 2031 umgesetzt werden könnte, wenn die Regelaltersgrenze von 67 Jahren erreicht ist. Angesichts der steigenden Lebenserwartung ließe sich ein solcher Schritt zwar gut begründen, käme jedoch für jede Regierung einem politischen Selbstmord gleich, da ein weiter steigendes Renteneintrittsalter bei der alternden Wählerschaft sehr unbeliebt ist.
Die ebenfalls propagierte jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften - was einer Bruttozuwanderung von gut 600.000 Personen entspräche - ist illusorisch. Niemand weiß, wo diese qualifizierten Arbeitskräfte herkommen sollen, wo sie und ihre Familien wohnen und wie sie konfliktfrei in die Gesellschaft integriert werden können. Überdies buhlen die meisten Industrieländer um qualifizierte Zuwanderer, und die deutsche Sprache wirkt für viele potenzielle Arbeitskräfte als hohe Hürde.
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen konnte zwar mit beachtlichen Anstrengungen in der institutionellen Kinderbetreuung spürbar erhöht werden. Allerdings ging diese Beschäftigungsausweitung vorrangig mit steigenden Teilzeitquoten einher. So arbeitet nahezu die Hälfte der Frauen in Deutschland in Teilzeit, jedoch nur jeder neunte Mann - und das obwohl die Bildungsbeteiligung der Frauen zwischenzeitlich über der der Männer liegt.
Um die Arbeitsnachfrage mit dem perspektivisch schrumpfenden Angebot in Einklang zu bringen, läge es nahe, das Arbeitsvolumen durch längere durchschnittliche Arbeitszeiten zumindest zu stabilisieren. Gleichwohl wird eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit höchst selten vorurteilsfrei diskutiert, auch wenn gemessen am EU-Vergleich hier zweifellos Potenzial besteht. So arbeiteten 2021 die Erwerbstätigen in Griechenland mit 41,3 Wochenstunden am längsten, gefolgt von Bulgarien und Polen mit gut 40 Stunden. Weniger als in Deutschland wurde nur in Dänemark und den Niederlanden gearbeitet. Die entscheidende Variable ist dabei die Teilzeitquote der jeweiligen Länder.
Der missliche Befund ist, dass in Deutschland sehr oft nur Teilzeit gearbeitet wird. Die gute Nachricht ist, dass dieser Befund auch eine Chance birgt. Bei einer insgesamt deutlich gestiegenen Beschäftigung müssten die Einzelnen in vielen Fällen gar nicht Vollzeit arbeiten, um ein ausreichendes Familieneinkommen zu erzielen.
Sollte sich die Produktivitätsentwicklung weiterhin so schwach entwickeln wie in der Vergangenheit, dürfte sich der Druck zur Ausweitung der individuellen Arbeitszeit von selbst verstärken. Anderenfalls blieben die Einkommenszuwächse in Deutschland hinter denen in anderen Staaten zurück. Die hohe Teilzeitquote stellt daher ein recht gut gefülltes Reservoir dar, um dem immer öfter beklagten Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.
Lesen Sie meinen gesamten Text aus der Handelsblatt-Reihe "Der Chefökonom" hier: Eine Volkswirtschaft in Teilzeit
Zeit der Niedrigzinsen ist vorbei
Fakt ist, dass die restriktive Geldpolitik allmählich beginnt, auf die Realwirtschaft durchzuschlagen. Für Unternehmen wird es schwieriger und merklich teurer, an neue Kredite zu kommen, wie eine neue Ifo-Umfrage zeigt.
Beachtliche 29,9 Prozent jener Unternehmen, die gegenwärtig Kreditverhandlungen führten, berichteten im Dezember von Zurückhaltung bei den Banken. Im September waren es nur 24,3 Prozent.
„Die Banken erhöhen nach und nach die Kreditzinsen und gehen zurückhaltender bei der Vergabe vor“, sagte Ifo-Experte Klaus Wohlrabe. „Die Zeiten der Niedrigzinsen sind erst einmal vorbei. Viele Unternehmen müssen sich daran gewöhnen und die Finanzierungsstruktur anpassen.“ Am stärksten davon betroffen seien weiterhin Kleinstunternehmen und Selbstständige.
Der Soli vor Gericht
Am Dienstag nächster Woche kommt es in München zu einem ungewöhnlichen Showdown. Vor dem Bundesfinanzhof geht es um nicht weniger als um den Fortbestand des Solidaritätszuschlags, den der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zwar beschnitten, doch keineswegs abgeschafft hatte.
Mehr als 30 Jahre nach der Deutschen Einheit müssen Gutverdiener, Sparer und Kapitalgesellschaften diese Ergänzungsabgabe immer noch entrichten. Wie üblich, wenn es um das große Ganze geht, trat das Bundesfinanzministerium dem Verfahren bei.
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Doch laut einem Bericht der „FAZ“ soll Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) persönlich entschieden haben, dass sein Haus den Beitritt zu dem Verfahren kurzfristig zurückzieht. Aufgabe des BMF-Vertreters wäre es gewesen, den Soli vor Gericht zu verteidigen. Der FDP-Vorsitzende Lindner plädiert schon lange für eine Abschaffung des Solis.
Unvereinbar mit dem Grundgesetz?
Der Bundesfinanzhof kann selbst die Frage der Verfassungswidrigkeit dieser Abgabe nicht beantworten. Wohl aber kann er ernste Zweifel an der Verfassungskonformität anmelden und das Bundesverfassungsgericht um Prüfung bitten, bevor der vorliegende konkrete Einzelfall entschieden wird.
Sollten die Karlsruher Richter den Soli tatsächlich für unvereinbar mit dem Grundgesetz halten, müsste der Fiskus womöglich den Steuerzahlern hohe Milliardenbeträge rückerstatten.
Denkbar wäre freilich auch, dass das Gericht – wie etwa im Falle der Grundsteuer-Einheitswerte – ein Datum in der Zukunft nennt, ab dem diese Steuer nicht mehr erhoben werden darf.
In beiden Fällen hätte Lindner gewonnen, während der Fiskus und damit der amtierende Bundesfinanzminister als Verlierer dastünden.
Unser Angebot in dieser Woche:
Der Gastkommentar von Professor Marcel Fratzscher: Schreckgespenst Deindustrialisierung
„Deutsche Konzerne sind hochspezialisiert und resilient. Sie müssen sich jetzt aber beherzt transformieren, sonst ist die Zukunft der Industrie in Gefahr.“
Podcast Economic Challenges: Nicole Bastian im Gepräch mit Professor Michael Hüther über die weltweiten Auswirkungen des „Inflation Reduction Act“ der USA
„Ich würde eher fragen: Wo ist unser Ansatz, um für mehr Freiheit zu werben. Ich würde eher für eine Kooperationsstrategie werben. Die ganzen Fiskalpakete von Joe Biden haben die deutsche Wirtschaft begünstigt. Das hat ein Prozent BIP-Wachstum bei uns ausgelöst. Der Anteil der USA an unseren Ausfuhren liegt wieder bei zehn Prozent.“ Professor Michael Hüther
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende und bin mit den besten Grüßen
Ihr
Bert Rürup
ORGANISATIONSENTWICKLER | TRANSFORMER | INNOVATOR | WIRTSCHAFTS-HEBAMME für Real Estate, Projektentwicklung, Bau- und Facility Management
1 JahrBei der Fachkräftemangel habe ich leider eine Denkstörung. Wir haben uns in den 80en und den 90en Jahren darauf gefreut, dass wir eines Tages nur 25 Stunden pro Woche arbeiten werden, weil der technische Fortschritt uns die Arbeit abnimmt. Wir sind über die Jahre deutlich produktiver geworden, aber die Arbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten eher steigern, statt zu sinken. Außerdem wurde der Rentenalter erhöht. Und wir dürfen die niedrige Arbeitslosenquote selbstverständlich auch nicht außer Acht lassen. Ist das tatsächlich so, dass wir so viele Rentner und andere Bürger in Deutschland haben, die nicht arbeiten können, dass die allen Bemühungen, die wöchentlichen Arbeitszeiten zu reduzieren, dadurch zunichtegemacht wurden? Oder ist was anderes in unserer wirtschaftlichen Entwicklung schiefgegangen?
Handelsblatt live+digital | Konzeption von Wirtschaftskonferenzen #Industrie # Kreislaufwirtschaft #Gas #Stadtwerke #Innovation #Carbon Management
1 JahrDer Demografische Wandel ist kein Zustand. Das Gegenteil eines Zustands ist Veränderung oder Dynamik. Ich frage mich, wann wir eigentlich erst begonnen haben, dynamisch über Veränderungen nachzudenken?
LinkedIn Top Voice | Zukunftsinspiratorin I Echte Kommunikation | Innovation & Social Media Macherin
1 JahrWürden wir die Mitarbeiter mehr stärken, beispielsweise mit besseren Arbeitsbedienung (Work-Life-Balance), betriebliches Gesundheitsmanagement sowie auch zu Entscheidungsthematiken, dann würden sicher mehr Menschen zufrieden mit ihrer Arbeit sein und so auch länger in ihrem Berufsleben bleiben. Wir brauchen uns nur den Pflegebereich anschauen; nach ein paar Jahren, steigen die meisten aus; dann dürfen wir ansetzen und dies würde sie Personalnot zumindest nicht so extrem ansteigen lassen.
Vorsitzende der Geschäftsführung Handelsblatt MEDIA GROUP
1 Jahrheute erschienen bei der AllBright Stiftung
Wer das Problem vollständig beschreiben kann, hat 80% der Lösung.
1 JahrWer die Teilzeitbeschäftigung der Frauen abbauen will, der muss auch offen die Gleichstellung der Väter in der Familie forcieren. Die zentrale Statistik dazu ist die Arbeitsmarktnähe nach Geschlecht und Familienstand. Einfach mal einen Blick in die Zahlen werfen. Wer das Problem vollständig (Arbeit + Familie + Freizeit) beschreiben kann, der hat 80% der Lösung. ;)