Deutschlands unterschätzte Digitalstrategie
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Deutschlands unterschätzte Digitalstrategie

Oder: Die verkannte digitale Geopolitik

Mit (nicht selten fachlich berechtigter) Kritik an der erneuerten Digitalstrategie Deutschlands, mit sportlichen, bis 2025 zu erreichenden Zielvorgaben, wird derzeit nicht gespart. Die Nationale Datenstrategie vom 30. August 2023 als "Strategie für mehr und bessere Daten für neue, effektive und zukunftsweisende Datennutzung" zwecks "Fortschritt durch Datennutzung" erscheint aufgrund des mittlerweile Kultstatus erlangten Bilds der Digitalisierungsscheue Deutschlands zunächst wenig überzeugend. Die häufige Vagheit, ungenügende Verständlichkeit und Aneinanderreihung von Idealen in dem Dokument lassen fragen, wen die Nationale Datenstrategie erreichen und, vor allem, mitnehmen soll. Doch zoomt man den Blick einmal auf eine andere, höhere Ebene der vielschichtigen Weltentwicklungen, versteht man - meines Erachtens - die Nationale Datenstrategie insgesamt besser. In diesem Beitrag will ich versuchen, einen etwas anderen Blick auf sie zu werfen, um ihre Ziele besser einordnen und besser erreichen helfen zu können.

Digitale Geopolitik

Der noch heute diskutierte Begriff der "Geopolitik" beschreibt die Lehre von den geografischen Einflüssen auf internationale (Macht-)Beziehungen. In Zeiten nahezu digitaler Grenzenlosigkeit ist diese nicht obsolet geworden, sondern wird von neuen Parametern mitbestimmt. Genannt sei hier zum Beispiel die Bedrohung durch schwer erkennbare Angriffe über das weltumspannende Internet auf Ziele der kritischen Infrastrukturen eines anderen Staates, z.B. Krankenhauseinrichtungen. Wer als Staat diese neuen Parameter beherrscht, kann in erheblichem Maße Einfluss auf die internationalen Beziehungen ausüben. Geopolitik wird heute auf verschiedensten Ebenen ausgeübt, nicht mehr nur auf dem politischen Parkett. Man könnte fast sagen, die digitale Revolution hat dazu geführt, dass die (Geo-)Politik durch Digitalisierung geschaffenen Tatsachen hinterherhinkt. Das Machtgefüge verschiebt sich zugunsten derer, die ihr fortschrittliches Wissen zum eigenen Vorteil einsetzen. Dieses Phänomen kennen Juristinnen und Juristen gut: Das Recht folgt dem technologischen Wandel, nicht anders herum. Auf dem Weg zum angepassten Recht gibt es jedoch viele Verlierer:innen.

Besondere Bedeutung in der digitalen Geopolitik hat das Thema "Künstliche Intelligenz". Das Konkurrieren um die Hoheit über ihre Entwickung (hier sei z.B. auf Chips, Halbleitertechnik und 5G bzw. 6G verwiesen), die Beherrschung und Vermarktung, z.B. durch Nutzung der Vernetzung der Menschen untereinander, ist schwer zu übersehen. Dass die Technologien unter dem Sammelbegriff "KI" tatsächlich nur partiell Fortschritte machen, die lange nicht die Auswirkungen haben, die uns täglich in den Medien vorgeführt werden, ist nebensächlich. Auch das Konkurrieren um das herrschende Narrativ hat digital-geopolitische Relevanz.

"Künstliche Intelligenz" braucht Daten. Viele Daten. Gute Daten. Vernetzte Daten. Wer als Staat oder Staatengefüge viele gute und vernetzte Daten beherrscht, hat geopolitische Relevanz und damit Macht. Wissen ist Macht.

Deutschland im Gefüge digitaler Geopolitik

Von diesem Blickwinkel aus betrachtet hat Deutschlands Digitalstrategie also eine ganz immense, Legislaturperioden-übergreifende und nicht zu unterschätzende Bedeutung. Im Angesicht der erschütterten europäischen Sicherheitslage, einer Rezession, einer drohenden Deindustrialisierung und vieler Kritik für die ausgebliebene Zeitenwende, ganz zu schweigen von der Kritik am deutschen Beitrag zu NATO-Zielen, muss Deutschland sich jetzt schnell neu erfinden und seine geopolitische Bedeutung in der digitalisierten Welt, in der EU und darüber hinaus behaupten. Das lang erfolgreiche "Das haben wir schon immer so gemacht" ist vom Digital-Aktionismus - einem nachdrücklichen Bestreben, sich in die digitale Welt einzufinden - abgelöst worden. Diese alte, beständige Sichtweise, dieser deutsche Motor, funktioniert nicht mehr.

Den digital-geopolitischen Charakter der deutschen Digitalstrategie findet man auf Seite 7 in der Nationalen Datenstrategie ausformuliert wie folgt:*

Die Datenstrategie trägt zu den Zielen der Zukunftsstrategie Forschung und Innovation der Bundesregierung bei. Sie liefert einen Beitrag für die Stärkung der digitalen und technologischen Souveränität Deutschlands und Europas. Damit trägt die Datenstrategie zu mehr Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit bei. Flankiert wird die neue Datenstrategie von der KI-Strategie, der Cybersicherheitsstrategie, der Open-Data-Strategie und der Gigabitstrategie.

Nun hat Deutschland nicht die Schwungmasse, um sich z.B. in der zunehmenden techno-geopolitischen Konkurrenz zwischen den USA und China zu behaupten. Vielmehr wird wohl versucht, einen Spagat zwischen den Fronten hinzubekommen, um trotz der Auseinandersetzungen in Balance zu bleiben. Und so wird natürlich geschaut, wo und wie Deutschland sich v.a. als Exportnation neu und geopolitisch wirksam positionieren kann. Das lässt sich gut an der (alten) Digitalstrategie Deutschlands zum Thema Schlüsseltechnologien ablesen: Hiernach soll "Artificial Intelligence (AI) made in Germany" zu einem weltweit anerkannten Gütesiegel werden. Im Jahr 2025 soll Deutschland bei der KI-Forschung an der Spitze in Europa stehen und beim Wissenstransfer zu den Top 5 weltweit gehören.

Digitale Geopolitik im Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern

Die äußerst ambitionierte Nationale Datenstrategie erklärt, dass Daten und datenbasierte Technologien menschengerecht eingesetzt werden sollen. Geltendes Recht wird ausdrücklich zum Maßstab bestimmt. Global gesehen ist das signifikant, existieren doch erhebliche Diskrepanzen in der Wahrnehmung der Bedeutung des Einzelnen für und angesichts der neuen digitalen Technologien. Doch die Nationale Datenstrategie lässt auch Abstriche erkennen, um ihre Ziele schneller zu erreichen. So sei hier lediglich beispielhaft auf das Ziel verwiesen, dass die elektronische Patientenakte (ePA) bis 2025 von mindestens 80% der gesetzlich Versicherten benutzt werden soll, welches nun wohl durch die gesetzliche Einführung der Widerspruchslösung erreicht werden soll. D.h. gesetzlich Versicherte müssen aktiv vom Widerspruchsrecht Gebrauch machen, wenn sie die ePA nicht nutzen möchten. Die Widerspruchslösung, auch Opt-Out genannt, ist ausweislich einer noch in der Prüfung befindlichen Petition nicht durchweg positiv in der Zivilgesellschaft aufgenommen worden. Die bisweilen schwer verständliche Kommunikation der Nationalen Datenstrategie, man beachte die zahlreichen Fachbegriffe und Anglizismen, deutet zudem auf mehrere, noch zu untersuchende Abstriche hin.

Die Nationale Datenstrategie spielt jedenfalls den Ball in das Feld von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. So enthält sie auf Seite 7 Folgendes:

Als Leitbild soll die Strategie auch zum gemeinschaftlichen Handeln auffordern. Denn eine effektive und zukunftsfähige Datennutzung ist eine Herausforderung, die nur mit vereintem Einsatz von Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft bewältigt werden kann.

Ein Beispiel digital-geopolitischer Ziele: vereinfachter Datenschutz

Das erklärte Ziel der Nationalen Datenstrategie, den Datenschutz zu vereinfachen und seine Umsetzung zu erleichtern, kann als ein digital-geopolitisches Zielbeispiel herausgegriffen werden. Wo noch immer weit verbreitet der Eindruck herrscht, der Datenschutz verhindere neue datenbasierte Geschäftsmodelle und damit auch die Ansiedelung von innovativen Unternehmen, sollen nun eben solche gefördert werden. Dass die Umsetzung im Einzelfall rechtlich gesehen dann doch wieder nicht so einfach ist wie es anklingt, ist jedenfalls digital-geopolitisch wenig relevant. Weshalb das Strategiepapier hier auch an Details zur Erleichterung der Umsetzung des Datenschutzes spart. Die Details der Umsetzung werden (wieder) v.a. auf der Ebene der Anwaltschaft und Datenschutzbeauftragten sowie Gerichte näher bestimmt werden müssen. Das vorgenannte Ballspiel unterstreicht diese Sicht.

Und nun?

Digital-geopolitisch betrachtet ist die zeitlich eng getaktete Nationale Digital- und Datenstrategie gut und wichtig. Die benötigte Entschlossenheit, auf der sie fußt, ist nicht zu verkennen. Dass die enthaltenen Zielvorgaben breit angelegt sind, ist ebenfalls lobenswert. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass bereits Fortschritte im Rahmen der am 31. August 2022 vorgestellten Digitalstrategie Deutschlands gemacht wurden.

Die Umsetzung dieser mit der Nationalen Datenstrategie erweiterten Digitalstrategie kommt jedoch nur langsam voran. Zudem lässt sich noch ein altes Verhaltensmuster erkennen: Die geringe oder nur sehr eingeschränkte Beteiligung von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft im Vorfeld staatlicher Entscheidungen. Wenn z.B. für die Stellungnahme zu Gesetzesentwürfen nur 24 Stunden Zeit eingeräumt werden, dann mag das von Vorteil für die Einhaltung eines kurzfristigen Zeitplans sein. Für die Umsetzung staatlicher Entscheidungen und das Vertrauen der Gesellschaft in den Staat selbst ist dies z.B. wegen eines hohen Korrekturbedarfs auf lange Sicht jedoch nachteilig. Digital-geopolitisch betrachtet ist dieses Vorgehen zumal kontraproduktiv. Insofern ist zu hoffen, dass die explizite Strategie des gemeinschaftlichen Handelns als Teil der Nationalen Datenstrategie Deutschlands auch tatsächlich mehr Partizipation erlaubt. In ihr liegt der Schlüssel zum Erfolg. Zeitdruck, Anpassungsdruck und der Druck von außen lassen jedoch erwarten, dass die Umsetzung der Digital- und Datenstrategie beschleunigt, die Partizipation aber gering bleibt und damit die befürchteten Abstriche in größerer Zahl gemacht werden.

Für die Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft heisst dies im Ergebnis, dass wir unsere gemeinsame Zukunft in Deutschland, der EU und der Welt jetzt aktiver als sonst mitgestalten sollen und sollten. Das Angebot zur Partizipation liegt schwarz auf weiß vor. Spielen wir den Ball zurück.



*Dass die Blockchain-Strategie in dem Strategiekonzept keine Erwähnung findet, zeugt von Erkenntnis. Die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) wird im Übrigen lediglich am Rande und nur 1x im gesamten Dokument erwähnt.


Claudia Otto

Lawyer | Tech, Health, Innovation | Risks, Laws, Ethics | Security/Safety, Risk, Crisis, and Disaster Management

1 Jahr

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