Digitale Souveränität und Resilienz sind Kernthemen für die EU-Ratspräsidentschaft
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Digitale Souveränität und Resilienz sind Kernthemen für die EU-Ratspräsidentschaft

Als Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften liegt mir eines besonders am Herzen: Dass Deutschland und Europa Technologien und ganz besonders die Digitalisierung selbstbestimmt, also souverän gestalten – nach eigenen Wertemaßstäben, auf eigenen Stärken aufbauend und am gesellschaftlichen Nutzen orientiert.

Die Corona-Krise hat wie unter dem Brennglas offengelegt, wie nützlich die Digitalisierung ist, wie sehr sie unsere Resilienz in der Krise erhöht. Im Zeitraffer sind wir auf digitale Meetings umgestiegen, haben digitale Lernformate eingeführt, haben Fernwartung, Telemedizin und vieles mehr verstärkt genutzt. Nicht überall waren wir gut vorbereitet, und an vielen Stellen wurden einseitige Abhängigkeiten deutlich. Diese Abhängigkeiten muss die Europäische Union im Zuge der deutschen Ratspräsidentschaft angehen und gemeinsame Antworten entwickeln. 

Digitale Souveränität meint die Selbstbestimmtheit des Staates und der EU, von Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Organisationen sowie jedes einzelnen Menschen in der digitalen Welt. Digitale Souveränität ist ein bedeutendes politisches und gesellschaftliches Ziel. Denn sie bildet die Grundlage für vertrauenswürdige Systeme und auch die Voraussetzung für unabhängiges staatliches Handeln.

Beim Stichwort Souveränität geht es keineswegs um Autarkie im Sinne absoluter Unabhängigkeit von außereuropäischen Technologien. Dies ist weder möglich noch erstrebenswert. Sondern: Souveränität bezieht sich auf die selbstbestimmte Nutzung und Gestaltung digitaler Systeme, der darin erzeugten und gespeicherten Daten sowie der damit abgebildeten Prozesse und deren sichere Verfügbarkeit auch in Zeiten der Krise.

Digitale Souveränität bleibt unter zwei Bedingungen gewahrt:

• Erstens, so lange die Nutzerinnen und Nutzer – ob Privatpersonen, Unternehmen, Schulen, Behörden usw. – zwischen echten Alternativen wählen können.

• Und zweitens, so lange wir als Gesellschaft die Regeln bestimmen können, nach denen im digitalen Raum aus Daten Wertschöpfung wird.

Digitale Technologien stehen im Mittelpunkt eines globalen Innovationswettbewerbs unter den Bedingungen wachsender Handelskonflikte. Hier kann und muss die Europäische Union eine eigenständige Positionierung erreichen, die auch weltweit attraktiv ist: Zwischen Ländern mit laxer Daten-Regulierung und Ländern mit erheblicher staatlicher Steuerung.

Die europäische Datenschutzgrundverordnung und die EU-Digitalstrategie der EU-Kommission bilden dafür unsere Grundlage. Die Digitalstrategie ist ambitioniert – und das muss sie auch sein. Sie vereint Themen der Standortpolitik, der Antidiskriminierung und des Schutzes von Privatheit sowie des Schutzes von Daten und der Bekämpfung von Desinformation.

Einen wichtigen Impuls für eine europäische digitale Strategie gibt die Initiative GAIA-X. Sie zielt auf digitale Souveränität bei Cloud-Infrastrukturen und für die Plattformökonomie. GAIA-X fokussiert auf den Aufbau einer leistungs- und wettbewerbsfähigen, sicheren und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur für Europa. Wohlgemerkt, am Aufbau sollten europäische und weltweite Unternehmen zusammenwirken – aber nach europäischen Regeln. Solche Infrastrukturen bilden die Grundlage digitaler Plattformen, ob in der Wirtschaft, im öffentlichen Bereich oder für private Nutzer.

Es ist wenig aussichtsreich, Cloud-Infrastrukturen und digitale Technologien nachzubauen, bei denen andere Anbieter einen jahrelangen und durch Milliardeninvestitionen gestützten Vorsprung haben. Für eine Kopie von Microsoft Azure oder AWS sind wir zehn Jahre zu spät. Ein europäischer, von der Wirtschaft getragener Cloud-Ansatz muss sich deshalb auf die nächste, disruptive Generation fokussieren. Bis das gelingt, müssen wir durch Containertechnologien und Standardisierung Open-Source-Lösungen finden für eine EU-Cloud Architektur, die virtuell, föderal und dezentral ist. Sie sollte die Basis eines europäischen Industrial Extranets bilden – transparent und sicher wie ein gutes Intranet, aber dezentral und offen für alle teilnehmenden Unternehmen und Institutionen. Das würde allerdings erhebliche Forschungs- und Entwicklungsbudgets erfordern, also Geld und Zeit kosten. Es ist aber ein entscheidender Pfeiler der europäischen digitalen Souveränität.

Dies führt zu einem Dilemma: Aufgrund der Netzwerk- oder Skaleneffekte haben frühe, einzelne Gestalter und Nutzer neuer Technologien und Architekturen anfangs nur einen geringen Nutzen in Relation zu den entstehenden Kosten. Zusätzlich besteht das Risiko, auf eine Technologie zu setzen, die nicht zum Standard wird, womit die Skaleneffekte ausbleiben und Unternehmen unwirtschaftlich werden. Dieses Dilemma lässt sich auflösen, indem der öffentliche Bereich seine Nachfragemacht und sein Investitionspotential nutzt und als Anwender souveräner digitaler Architekturen und Infrastrukturen Vertrauen und Nachfrage bei den Marktteilnehmern stützt. Geschieht dies auf europäischer Ebene, dann wird die gewählte digitale Technologie und Architektur aufgrund der Skaleneffekte zum neuen Standard – und somit zu einem Erfolg.

Ganz zentral kommt es dabei auf unsere Wirtschaft an. Ich setze mich dafür ein, dass Unternehmen aus Deutschland und Europa ihre guten Voraussetzungen nutzen, dass sie beherzt in die Plattformökonomie aufbrechen, notwendige weitere Schritte in die Industrie 4.0 unternehmen und die Einführung von Künstlicher Intelligenz vorantreiben. Unsere Ausgangslage ist gut: In der anstehenden Phase der Digitalisierung fällt es nämlich industriell geprägten Unternehmen leichter, sich zu digitalisieren, als es Digitalunternehmen schaffen, industrielle Wertschöpfung nachzuvollziehen.

Ebenso brauchen wir ein positives, unterstützendes Verhältnis von technologischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Oftmals – und zuletzt bei der Entwicklung der Corona-App, die mit einer intensiven Debatte um die Nutzung von Daten verbunden war – ist die gesellschaftliche Debatte, wie wir Technologien einsetzen wollen, mindestens ebenso komplex wie die Technologieentwicklung selbst. Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft solche Debatten frühzeitig und proaktiv führen, damit wir Technologien zügiger und zum Wohle der Gesellschaft nutzen. Gegenwärtig bringen wir eine Initiative auf den Weg, die dieses Miteinander von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt fördert und dafür neue Wege beschreiten wird.


Reinhold E. Achatz

Coach Technology, Innovation, Entrepreneurship, Digital Transformation, Sustainability and Resilience

4 Jahre

Sehr guter Beitrag! Wir arbeiten an der Umsetzung und brauchen weitere Mitstreiter! #InternationalDataSpaces #IDS

Michael Huth

Sales Manager, Europe bei TrackBack

4 Jahre

Wieschongesagt: Die Politik ist 10 Jahre zu spät. Ein wichtiger und hilfreicher Schritt wäre es, die Monopolstrukturen konsequent zu untersuchen und zu zerlegen.

Wolfram Jost

Geschäftsführer Scheer Holding GmbH, Chief Technology Officer (CTO)

4 Jahre

Lieber Karl Heinz, niemand kann dem ernsthaft widersprechen. Die von Dir formulierte Idee einer digitalen Souveränität ist sicherlich sehr erstrebenswert. Keine Frage. Aber, wir wissen alle aus der Vergangenheit, dass gute Ideen alleine die Welt nicht nach vorne bringen. Nur die wirtschaftlich erfolgreiche Umsetzung einer Idee bringt die Menschheit weiter. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass in einer freiheitlich demokratischen Marktwirtschaft hierfür zwei wesentliche Dinge erforderlich sind. Erstens, ein visionärer Treiber (Plattner/ERP, Ellison/RDBMS, Bezos/Cloud, Scheer/Prozesse, Musk/Elektroauto, Jobs/Mobil, etc). Zweitens, ein funktionsfähiges Geschäftsmodell (Wer, verkauft was, an wen, wie, warum und für welchen Preis?). Beide Aspekte müssen meiner Meinung nach auch bei GAIA X geklärt werden, soll es eine erfolgreiche Innovation werden.

André T. Nemat

MD PhD | Healthcare | Digital & Ethics |

4 Jahre

Vielen Dank, lieber Herr Streibich, für Ihr Plädoyer einer digitalen Souveränität. Wenn staatliche Regulationen in geopolitischen angespannten Zeiten diese Souveränität nicht garantieren können (s.u.), dann ist ein technologischer Standard erstrebenswert, mit dem jeder Bürger seine digitale Souveränität ausüben kann. International Data Spaces Association (IDSA)

Andreas Koch

Mitglied des Vorstands bei Urban Innovation Stadt neu denken ! e.V. Team StadtLabor Heidelberg - SDG Center Heidelberg - Urban Office Europe

4 Jahre

🙏🍀👍🏁

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