Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit
Wir nehmen in der Gesellschaft gerade eine Überdosis an Produktivität wahr.
So, als würden uns nur mehr wenig Zeit bleiben, um es auf die andere Seite - die sichere Seite - zu schaffen. Wer diesen Sprung nicht schafft, der wird nicht mehr gesehen.
So fühlen wir uns - ein unangenehmer Nebeneffekt der Isolation und eine Auswirkung von Home-Office und Distance-Collaboration.
Wir nehmen das nicht nur bei anderen, sondern auch bei uns selbst wahr - ich bin hier keine Ausnahme. Wer meine Arbeitseifer kennt, der weiß, dass ich gerade wieder an meine StartUp Zeiten anknüpfe.
Fast scheint es, als hätte sich der herannahende Winter mit seinem grauen Schleier mit Corona und der Medienlandschaft, welche die Situation noch weiter befeuert, verbrüdert um uns an unsere Grenzen zu bringen.
Wo im März noch „Zusammenhalten“-Slogans die Landschaft und unser Gemüt prägten, stellt sich Ernüchterung ein. Wo die Freunde auf den Regenbogen uns bei Laune hielt, dominiert heute immer noch der Regen, der einfach nicht weichen möchte.
Wir sind enttäuscht - das Ende unserer Täuschung
Einer Täuschung, die uns die Hoffnung auf ein rasches Ende der Situation auf die Netzhaut brannte und uns im Sommer die Sorgen und Ängste vergessen half.
Eine Täuschung, die vom Gedanken eines Comebacks und „Licht am Ende des Tunnels“ unterstützt wurde und uns heute zeigt: ja, es gibt ein Comeback und zwar vom Virus.
Es ist zurück, es verbreitet sich weiter und wer ihm dabei hilft: wir Menschen.
Denken wir an den Sommer, zaubert uns dieser ein Lächeln aufs Gesicht.
Ja, auch ich habe den Sommer genossen - denke ich zumindest.
Als der Herbst begann, war ich alles - nur nicht ausgeruht. Zumindest hielt die Sommerfrische nicht lange an und aller Anschein nach auch nicht beim Großteil der Menschen.
Es musste nicht erst Dezember werden, damit wir uns vom Jahr ermüdet fühlten - nein, es reichte schon die zweite Septemberwoche, in der mir Menschen aus ganz Österreich erzählten, dass sie sich ermattet, müde, desillusioniert und zunehmend verärgert fühlen.
Manchen war es sogar peinlich zuzugeben, dass sie an ihrem Limit waren und zunehmend schlich sich Wut und Verzweiflung in die Gespräche, weil man eines wusste: dass man nichts weiß:
Nicht, wie es im Herbst weitergehen soll. Nicht, wie das Home-Office einheitlich geregelt wird.
Nicht wie sich Kindergärten, Schulen und Lehrende bei Verdachtsmomenten verhalten sollen.
Nicht, was Eltern tun sollen, wenn das „normale“Leben wieder runtergefahren wird.
Nicht, wie man Mitarbeiter:innen motiviert, die Angst und Frust spüren.
Nicht, wie man sich selbst aufbaut, wenn es auf den ersten Blick nichts gibt, dass uns Hoffnung verspricht.
Der Sommer, das war die Zeit in der wir uns kurz rausnehmen konnten aus einem Skript, das von Roland Emmerich hätte sein können.
Das Leben ist ein Film und wir die Darsteller darin - manchmal in der Hauptrolle, manchmal als Statisten und manchmal als Zuseher.
Wir können jetzt noch lange zusehen, wie der Film weitergeht und darauf hoffen, dass der Regisseur uns bald aus dieser intensiven Szene entlässt. Doch das wird nichts passieren. Es gibt keinen Regisseur, der das alleine in der Hand hat und wir befinden uns in einem Film der immer läuft. Wir Menschen sind dabei die Protagonisten, die ein- und aussteigen. Mancher nennt es auch unsere Lebenszeit zwischen Geburt und Tod.
Ich habe ehrlich gesagt keinen Bock zu warten, bis mir jemand wieder erzählt, wann alles besser wird oder wann alles noch schlimmer wird. Das sind Dinge, die ausserhalb meines Handlungsfeldes liegen und das gilt für die meisten von uns.
Ich bin dafür, dass wir den Film nicht akzeptieren, sondern auf Improvisationstheater umstellen, wo wir Drehbuchautor:in, Schauspieler:in und Regisseur:in sind.
Ich bin dafür, dass wir dazu stehen, dass es kompletter Mist ist, wie der Herbst gerade läuft und das diese Gefühl in uns okay ist, weil wir verdammt nochmal Menschen sind.
Wer hat gesagt, dass alles immer gut läuft?
Ja, nach jeder Talfahrt geht es bergauf - das Problem ist, dass wir diesen Berg gerade nicht sehen, ja nicht mal die Talstation mit der Berggondel im Nebel der Unwissenheit erkennen.
Wer schon mal in einer Beziehung verlassen wurde (ja, wurde ich auch), der weiß was wir alle gerade durchmachen: die Phasen der Trauer, wo wir nach dem ersten Schock durch die Überraschung fast schon mit Interesse und Neugierde agieren und dann beginnen, alles rational zu erklären, dass dieser Verlust ja gar nicht so schlimm sei und das alles eigentlich positiv ist.
Auch Kinder tun dies, wenn sich die Eltern scheiden lassen: sie sagen manchmal, dass es vielleicht sogar besser ist, dass sich Mama und Papa trennen.
Ich weiß das aus meiner Arbeit mit Familien und Kindern und weil ich mir das selbst mit 13 Jahren eingeredet habe, als sich meine Eltern scheiden liessen.
Egal ob Kinder oder Erwachsene währen Corona: wir alle haben etwas verloren, dass uns lieb war: unseren Alltag, unser Leben, die Freude Menschen berühren zu könne, zusammen zu sitzen und das Fehlen der Angst, dass der Sitznachbar eine Gefahr sein könnte.
Ja, wir erleben gerade einen globalen Verlust an gelerntem Gemeinschaftsgefühl.
Doch wer einen Verlust schon mal erlebt hat, der weiß dass es eine Phase des Trauerns gibt, die zur Lösung führt: die Akzeptanz.
Je länger diese Phase rausgezögert wird, umso schlimmer wird das Kopfkino und damit die Qualität des Lebens.
Daher wünsche ich uns allen: dass wir akzeptieren, dass diese Situation unser täglicher Begleiter ist. Mit allen Konsequenzen.
Das ist keine Schwarzmalerei, es ist unendliche Ehrlichkeit mit dem Hier und Jetzt.
Je früher wir den Satz „jede Krise ist eine Chance“ mit dem wichtigen Appendix „…doch ich hab noch keine Ahnung, wie und wann es besser ist“ ergänzen, umso weniger drängen wir uns in eine positiv gemeinte Situation, die uns am Ende nur Energie kostet.
Nein, es ist nicht immer alles toll und ja, wir sehen nicht immer die Chancen - doch die Welt ist nicht schwarz und weiß, sondern hat Millionen Farben und genauso müssen wir beginnen, die Lage anzusprechen:
Wir können mutig, hoffnungsvoll und verärgert und ja, sogar verzweifelt sein.
Wir dürfen uns ausheulen, wir dürfen den Kollegen im Zoom-Call erzählen, dass wir uns Sorgen machen und wir dürfen ZUR SELBEN ZEIT auch aufzeigen, was gut funktioniert und auf was wir uns freuen, wenn dieser Käse endlich mal gekaut ist.
Ich habe mal gehört, dass Mensch und Menschsein nicht das Selbe ist und ich denke, was damit gemeint ist sind die Menschen, die irgendwann aufgehört haben, das komplette Spektrum ihrer Emotionen zu akzeptieren.
Die Aufbruchsphase nach dem Krieg vor 70 Jahren in Europa hat uns mit dem Glaubenssatz „dir soll es mal besser gehen als uns“auf die Reise geschickt eine Welt zu bauen, in der leere Lebensmittelregale, unfinanzierbare Gesund und schmutziges Trinkwasser der Vergangenheit angehören.
Das ist auch die Welt, die wir heute bewohnen und wer die Geschichte der Menschheit kennt, der weiß: die Welt ist besser als ihr Ruf und sie schafft es irgendwie immer, dass sie noch besser wird.
Ich bin mal gefragt worden, warum ich Unternehmer geworden bin.
„Weil ich mit meinem Leben etwas unternehmen will“ war damals meine Antwort.
Heute ist diese Zeit, in der wir alle zum Unternehmer unseres Lebens avancieren - ob wir wollen oder nicht.
"Ob wir das können?" werde ich manchmal gefragt.
Darauf antworten ich immer mit einer Gegenfrage:
"habt ihr als Baby beim Versuch, aufrecht zu gehen, jemals aufgegeben, obwohl ihr ständig hingefallen seid? Oder habt ihr alles unternommen, um wieder aufzustehen - egal wie lange es gedauert hat?"
Die Frage ist nicht, schaffen wir das?
Die Frage ist, erkennen wir, dass wir gerade wieder laufen lernen und das Teil des Menschseins ist?
Ich wünsche euch einen wunderbaren Tag und dass ihr euch mit euren Emotionen verbindet.
Diese setzen eure Kräfte frei, besiegen die Stockstarre und sorgen dafür, dass die Narben der jetzigen Zeit für die eindruckvollsten Geschichten sorgen, die wir später einmal unseren Kindern und uns selbst erzählen werden. Dann, wenn wir wieder beieinander sitzen, miteinander tanzen, lachen und weinen.
Menschsein eben.
Head of Datwyler IT Infra AT
9 MonateAli, sehr spannend!
Global Leader for Kyndryl Bridge
1 JahrAli Mahlodji - Meine Erfahrung: Perspektivenwechsel und eine geballte Prise Kids-Power helfen gegen die Tristes im Herbst. Ich habe vor 2 Wochen diese wunderbaren Kids in Udaipur (Indien) getroffen: Ihr Alltag ist weit härter & dennoch ging eine unfassbare Energie und Zuversicht von Ihnen aus. In gutem Englisch haben sie mir Mut gemacht, dass wir das schon alles packen werden. Das ist voll ansteckend !
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1 JahrDanke Ali! Ich denke dieser Artikel wird mich noch weiter beschäftigen... 😉
Intercultural Competence & Diversity Trainings/ Coaching
4 JahreDanke für den tollen Artikel! Menschsein bringt eben eine breite Palette an Erfahrungen und wir haben keine Aktien auf immerzu "easy living". Es ist sehr herausfordernd, alles - also auch die eigenen Schatten und Ängste - anzuschauen und anzunehmen. Wir sind jetzt mehr denn je gefordert, endlich in der Realität anzukommen und aufzuhören, uns Unliebsames schön zu reden, nur damit wir uns nicht ändern müssen, ich denke da auch an den Klimawandel... Krisen bringen immer die Gelegenheit, den Focus von außen nach innen zu verlegen, zu wachsen und die eigenen Werte neu zu überprüfen...
IN AWARENESS THAT EVERYTHING BECOMES MEMORY - TRANSMITTING CLIENTS MOST RELEVANT STORIES ON CAMERA
4 Jahreplausibles Selbstdenken der aktuellen Beobachtungen...Danke für die Motivation 💪