Die Geschichte vom Feierabend

Die Geschichte vom Feierabend

Ich habe Zeit. Immer. Das wissen alle, die sich schon einmal mit einer Terminanfrage per E-Mail an mich gewendet und innerhalb weniger Minuten die Antwort erhalten haben: "Ich bin eigentlich recht flexibel, wann wäre es Ihnen denn recht?"

Das ist in unserer heutigen Arbeitswelt, aber erst recht in der Wissenschaft, ein ungewöhnliches Phänomen. Dort dominiert immer noch eine Überarbeitungskultur, die mehr als bedenkliche Ausmaße annehmen kann. Da arbeiten Leute 80-Stunden-Wochen, verzichten auf Wochenende und Urlaubstage, machen Nachtschichten und schreiben noch schnell vor der OP aus dem Krankenhaus einen wichtigen Drittmittelantrag fertig. Erschreckende Geschichten wie diese kann man immer wieder in Gesprächen hören und in Social-Media-Beiträgen lesen.

Nun gibt es zwei Varianten, wie diese Geschichten erzählt werden können: Die erste - wirklich toxische - präsentiert die Anekdote mit dem Unterton des Stolzes auf die eigene Leistungsfähigkeit. Man tritt sozusagen als Märtyrer auf und präsentiert eine ebenso ausbeuterische wie gesundheitsschädliche Arbeitskultur als normal und erstrebenswert. Die Nachricht an die Lesenden oder Zuhörenden: Ihr müsst es genauso machen, sonst seid ihr hier nicht richtig.

Die zweite Variante geht von einem anderen Standpunkt aus. Hier werden diese Geschichten erzählt und geteilt, um Problembewusstsein für die Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens zu schaffen, die meist ja tatsächlich mit so vielen Aufgaben und Anforderungen einhergehen, dass sie in einer Vierzig-Stunden-Woche nicht zu schaffen sind: entweder, weil Stellenprofil und vertragliche Arbeitszeit schon gar nicht zusammenpassen oder - indirekter - weil man (wie das Gros der wissenschaftlichen Beschäftigten) eben noch keine Dauerstelle gefunden hat und nicht weiß, auf welchem Weg sie zu erreichen ist. Folglich muss man auf alle Pferde gleichermaßen setzen: publizieren, Drittmittel einwerben, auf Konferenzen fahren, Gutachten schreiben, sich habilitieren und so weiter und so fort. Hier ist es die Idee der Konkurrenzlage, die die Menschen zur Selbstausbeutung verleitet: Wenn die Gefahr besteht, dass andere mehr geleistet haben und man deshalb aus eigenem Verschulden in einem Bewerbungsverfahren erfolglos bleiben könnte, entsteht ein enormer psychischer Druck, der ebenfalls nicht gesund ist und dem sich nur Herr werden lässt, wenn man ständig bis zur absoluten Erschöpfung arbeitet. Das beruhigt immerhin kurz das schlechte Gewissen – man hat ja das Letzte aus sich herausgeholt und wenn es jetzt nicht klappt, liegt die Verantwortung (zumindest hoffentlich!) doch woanders.

Man sieht schon, dass auf diese Weise aus dem Teufelskreis nicht herauszukommen ist. Für diejenigen nicht, die mit dem schlechten Gewissen kämpfen, aber auch nicht auf einer systembezogenen Ebene. Denn: Im Ergebnis wird die Arbeit ja weiter gemacht. Menschen arbeiten immer noch bis zur Erschöpfung, unabhängig davon, ob sie dafür ent- oder belohnt werden (z. B. mit der Professur auf Lebenszeit). Zwar entsteht ein gewisser Abschreckungseffekt für diejenigen, die noch nicht im System sind und die Bereitschaft zum Ausstieg aus der Wissenschaft mag steigen, aber es ist doch zu wenig, um den Systemerhalt wirklich zu unterbrechen – und es ist keine Entlastung für das vorhandene Personal.

Auf der strukturellen Ebene lässt sich die ständige Anforderungsinflation letztlich nur durch andere (und unbefristete) Stellen eindämmen. Das allein wird aber nicht reichen, wenn damit nicht ein anderes Mindset einhergeht, denn eingeübte und automatisierte Praktiken verschwinden auch nicht von selbst. Beziehungsweise ist auch fraglich, ob die Forderungen nach anderen formalen Arbeitsbedingungen überhaupt die nötige Schlagkraft entwicklen können, wenn man nicht vorher die alten Denkmuster unterbricht. Schließlich lebt zum Beispiel die Stärke gewerkschaftlicher Organisation davon, dass eine hinreichend große Zahl von Personen Erholung und Pausen als ein Recht versteht, das ihnen zusteht, und entsprechende Beschneidungen nicht einfach toleriert.

Soll die Arbeitskultur in der Wissenschaft wirklich eine andere werden, dann braucht es also auch andere Vorbilder – und zwar nicht nur Menschen, die gehen, weil die Belastung nicht auf Dauer durchzuhalten ist, sondern Menschen, die sich den Anforderungen, die ihre Grenzen überschreiten, verweigern und trotzdem immer noch da sind. Durch die Existenz solcher Beispiele – auch wenn sie anfangs wenige sein mögen – kann sich eine Kultur wandeln, verändert sich bei anderen das Verständnis, was als normal gilt.

Dies mag man nun für eine Utopie halten. Aber genau deshalb braucht es sie: Man muss Dinge vorstellbar machen, die bisher nicht vorstellbar erscheinen, damit sie eine Chance darauf haben, zur Realität zu werden. Wo die Spielräume sind, müssen wir sie nutzen. Das ist kein Egoismus, sondern eine Frage der generellen Standards, die wir nicht zuletzt anderen vorleben.

Ich habe noch nie mehr als eine 40-Stunden-Woche gearbeitet und ich werde nicht damit anfangen. Ich nehme keine Aufgaben an, nur weil sie vermeintlich meiner Karriere zuträglich sind. Worin ich keinen Sinn sehe, das lasse ich sein oder beschränke mich auf den absolut notwendigen Beitrag; zu Höchstleistungen würde ich dort sowieso nicht auflaufen. Es haben alle mehr davon, wenn ich meine Zeit sinnvoller verwende. Zugespitzt gessagt: Wenn ich ein offenes Ohr für mein Kollegium und meine Studierenden habe, dann geht das nur, weil ich vorher schon zum Mittagessen war.

Was für ein Privileg, nicht wahr? Dann habe ich noch nie wirklich gearbeitet! – Ja, ja, das höre ich öfter. Arbeit ist nur dann, wenn man bis zur totalen Erschöpfung geht und eigene Bedürfnisse dauerhaft zurückstellt. Sure. Go back to square one. Der Tag, wo ernsthafte Krisen dies wirklich unmöglich machen, kann jederzeit anbrechen. Wenn ich meine Ressourcen jetzt aufbrauche, habe ich keine mehr für den Moment, wo sie wirklich nötig sind, weil von außen kein Nachschub mehr kommt.

Aber habe ich nicht Sorge, dass es meiner Karriere schaden könnte, wenn ich das so offen sage? – Nein. Aber ich habe Sorge, welchen Schaden ich anderen zufüge, wenn ich es nicht tue. Ich kann nicht das Risiko eingehen, den Eindruck zu erwecken, selbst dem Ausbeutungsmuster anzuhängen, das das System vorgibt. Und das passiert in einer Welt, wo das die Norm ist, einfach nur dadurch, dass Menschen gar nicht mehr mit dem anderen Fall rechnen.

Den anderen Fall überhaupt denkbar zu machen, das allein wäre folglich schon ein riesiger Fortschritt auf dem Weg zum Ziel einer Entlastung auch derjenigen, deren To-Do-Listen sehr viel fremdbestimmter sind als meine. Wenn ich nicht Feierabend mache, wer dann?

Aber habe ich nicht doch Sorge, dass es meiner Karriere schaden könnte, wenn ich das so offen sage...?!!! – Lassen wir es doch einfach darauf ankommen. Es gibt ohnehin schon genug Gründe, warum eine wissenschaftliche Karriere "scheitern" kann, wie man so schön sagt. Da ist einer mehr nun wirklich nicht so ein großes Ding.







Hannah Keding, Ph.D.

Sociologist at Fraunhofer IRB

10 Monate

Toller Beitrag, genau so ist es! Ich habe auch immer an meinen geregelten Arbeitszeiten festgehalten (Ausnahmen nur bei wirklich unverschiebbaren Deadlines, danach aber Ausgleich) - bei ständigem Arbeitsexzess wäre es mir das nicht Wert gewesen. Finde ich auch wichtig das zu kommunizieren an die anderen wissenschaftlichen Mitarbeitenden + Hiwis.

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