Die kleinen Probleme im Großen und Ganzen
„Im Großen und Ganzen“ sei nichts „schiefgelaufen“ hat Bundeskanzlerin Merkel über die Beschaffung der Impfstoffe durch die EU und die bisherige Impfkampagne gesagt, und damit Spott auf sich gezogen. Aber hat sie wirklich Unrecht und den Hohn damit verdient?
Auch wir als Märkische Kliniken wären mit dem Impfen gerne schon viel weiter. Man fühlt sich hilflos, wenn plötzlich eine Nachricht ohne weitere Erklärung eintrifft, dass es keine Impfdosen und deshalb auch keine Lieferung in dieser Nacht geben wird. Unsere Mitarbeiter, die wir wegen dieser Lieferung zum Impfen einbestellt haben und nun wieder abbestellen, sind verärgert. Und aus dem privaten Erleben weiß ich, wieviel Langmut erforderlich ist, wenn man für die eigenen Eltern oder Schwiegereltern – über 80 – einen Impftermin online vereinbaren möchte. Da möchten impulsive Zeitgenossen gerne schon mal mit der Faust auf den Tisch hauen. Allein: Das hilft nichts.
Vielleicht ist es zielführender, einen Schritt zurück zu treten, die gesamte Lage in den Blick zu nehmen, sich die einzelnen Konfliktebenen bewusst zu machen und schließlich im Einzelfall zu klären, was nicht im Großen und Ganzen, sondern im Konkreten schief gelaufen ist.
Um angemessen mit der Herausforderung umzugehen, ist es hilfreich, sich deren Größe immer wieder vor Augen zu führen. Über uns ist eine Naturkatastrophe hereingebrochen. Erdbeben mit Nachbeben sind begrenzt auf eine Region über wenige Tage. Auch ein Hochwasser ist ein lokal begrenztes Ereignis und fließt nach einigen Tagen oder Wochen wieder ab. Die Pandemie aber bedroht uns weltweit nun schon mehr als ein Jahr, versetzt uns in Anspannung und Angst.
Der 2. Februar ist der Tag, an dem die Zahl der Geimpften die Zahl der Menschen überstiegen hat, bei denen offiziell eine Infektion mit dem Virus festgestellt worden ist.
Gemessen an dieser globalen Herausforderung sind wir schon sehr weit gekommen in ihrer Eindämmung. Mit der Impfung haben wir in weniger als einem Jahr dank internationaler Zusammenarbeit eine globale Strategie zur Bekämpfung der Pandemie entwickelt, und wir implementieren sie mit Erfolg. Der 2. Februar ist der Tag, an dem die Zahl der Geimpften die Zahl der Menschen überstiegen hat, bei denen offiziell eine Infektion mit dem Virus festgestellt worden ist. Diese Aussage gilt für Deutschland und die ganze Welt.
Zudem ist uns von Anfang an klar gewesen, dass der Impfstoff vor allem zu Beginn der Impfkampagne ein rares Gut sein wird. Das liegt in der Natur der Sache. Impfstoffe zu entwickeln, sie in rollierenden Verfahren zuzulassen, die Fertigungskapazitäten aufzubauen und die Rohstoffe dafür zu produzieren und zu beschaffen ist ein hochkomplexer Vorgang.
Schon bis Mitte Dezember letzten Jahres waren überall in Deutschland auf kommunaler Ebene, in Landkreisen und kreisfreien Städten, die Impfzentren errichtet und die Impfungen sollten beginnen. Dann mussten wir erkennen, dass die Europäische Zulassungsbehörde erst nach Weihnachten den ersten Impfstoff freigeben wird. Dann kamen weniger Dosen als geplant, weil ein Hersteller eine Fabrik umzubauen begann, um mehr liefern zu können, während es insgesamt an Lipiden fehlt, in die der Kern des Impfstoffs, die mRNA, „eingepackt“ wird.
Mit dem Impfstoff von Astrazenaca trat ein weiterer Impfstoff auf die Bühne. Das war eigentlich ein Grund zur Freude, wurde aber zum Ausgangspunkt eines großen Konflikts. Denn an diesem Impfstoff entzündete sich die Frage, ob die Beschaffungsstrategie der EU die richtige sei oder nicht, und warum Länder, die nationale Interessen verfolgen, rascher impfen können als jene, die gemeinschaftlich den Erfolg wollen?
Und auf der Mikroebene sind die Prozesse nicht minder komplex als auf der Makroebene. Der Impfstoff von Biontech/Moderna muss während des Transports auf minus 70 Grad gekühlt werden. Das ist – auch bei Medikamenten-Lieferungen – eher die Ausnahme als die Regel. Aus Sicherheitsgründen, auch um den Impfstoff vor Diebstahl zu schützen, sind die Informationskanäle in der Impfstofflogistik eng geschnitten. Es gibt kein Heer von Stellvertretern, das einspringen kann, wenn einer fehlt. Das erhöht sie Sicherheit, mindert aber auch die Flexibilität. Und obwohl wir als Märkische Kliniken einem Lastwagenfahrer einen Plan gesandt hatten, wo exakt er den Impfstoff anliefern sollte, fuhr er erst einmal zum Haupteingang, wo ihn ein aufmerksamer Mitarbeiter jedoch sogleich weiterlotste. Schon ein solch kleiner Umweg über die falsche Pforte kann in einem engen Zeitkorsett große Wirkung haben.
Wir lernen dazu. Im Kleinen wie im Großen. Und wir müssen schnell lernen.
Wir lernen dazu. Im Kleinen wie im Großen. Und wir müssen schnell lernen. Dauernd lernen wir Neues hinzu, das unsere eben gemachten Pläne wieder zu Makulatur werden lässt. Zum Beispiel, wenn sich während der Impfung mit einem bestimmten Präparat in der Praxisphase herausstellt, dass die Vakzine besser wirken, wenn zwischen der Gabe der ersten und zweiten Dosis ein längerer Zeitraum liegt, als es die Wissenschaftler während der Test- und Zulassungsphase des Präparats angenommen hatten. Dann können die mit Akribie entwickelten Impfpläne von einem Augenblick zum anderen hinfällig werden. Und was würde wohl passieren, wenn das Virus aus dem Wirkungsbereich der Impfstoffe hinausmutiert? Allein schon die medizinisch-technisch-naturwissenschaftliche Komplexität der Pandemie und ihrer Gegenstrategie ist unvorstellbar groß.
Die menschlich-soziale Komponente kommt hinzu. Grundsätzlich sind wir vernunftbegabt. Aber uns treiben und blockieren auch Ängste. Und was für den Einzelnen ganz rational von Vorteil ist, schadet womöglich der Gemeinschaft.
Das zeigt sich am Beispiel des Impfstoffs von Astrazeneca, über dessen Bereitstellung wir uns freuen sollten. Aber nach den bisher vorliegenden Daten ist er nicht so wirkungsvoll wie die gentechnisch gewonnenen Impfstoffe. Und in Deutschland hat die Ständige Impfkommission empfohlen, ihn nicht an die Altersgruppe 65plus zu verimpfen. Also planen wir um. Die alten Menschen erhalten den mRNA-Impfstoff, und das Präparat von Astrazeneca kann den Jüngeren geimpft werden. Manche fragen sich jetzt: Warum soll ich den – vermeintlich – weniger wirksamen Impfstoff erhalten, nur weil er in Deutschland nicht den Älteren verabreicht werden soll?
Doch jede Änderung der Priorisierung führt zwangsläufig dazu, dass ich den Impfstoff, den ich nun der einen Person gebe, einer anderen nehme.
Ja, und wenn wir schon einmal dabei sind, die Impfpriorisierung wegen der beschränkten Einsetzbarkeit eines Impfstoffs zu ändern, dann gerät die ganze Priorisierung rasch ins Wanken, denn ungezählte Menschen können einen guten Grund vorbringen, warum sie als erste an der Reihe sein sollten. Bezogen auf den Einzelfall haben sie auch fast alle recht. Doch jede Änderung der Priorisierung führt zwangsläufig dazu, dass ich den Impfstoff, den ich nun der einen Person gebe, einer anderen nehme. Bisher ist es so, dass Schwestern und Ärzte, die Covid-Patienten auf der Intensivstation betreuen, mit höchster Priorität geimpft werden, nicht aber der Pathologe, der die verstorbenen Covid-Patienten obduziert und damit wertvolles Wissen generiert, und auch nicht die Hausärztin, die in ihrer Praxis die Corona-Infektion diagnostiziert. Weder die Erzieherin mit dem engen, auch körperlichen Kontakt zu den Kindern, noch der Busfahrer werden bevorzugt geimpft. Welcher von diesen Personen sollen wir den Impfstoff nehmen, um ihn einer anderen zu geben?
Die Pandemie und die Knappheit der Impfstoffe führen zum Dilemma, nicht die von Menschen gemachte Strategie, die Seuche zu bekämpfen. Nicht die Politiker, Ethiker und die Ständige Impfkommission, die über die Priorisierung entscheiden, schließen einzelne Gruppen in böser Absicht von der Impfung aus, sondern sie treffen unter den vielen Möglichkeiten, die alle nicht gerecht erscheinen können, die am wenigsten ungerechte.
Indem wir die Prozesse in ihre einzelnen Schritte gliedern, reduzieren wir Komplexität, und können kleine Probleme, die sich zu großen Problemen verketten, identifizieren und lösen. Fällt eine Lieferung komplett aus, wie bei uns geschehen, setzen wir keine groß angelegte Telefonaktion mehr in Gang, um hunderte von Mitarbeitern, die für die Impfung geplant waren, abzubestellen. Für diesen Zweck haben wir nun ein SMS-System aufgebaut und generell mehr Zeitpuffer in den Abläufen eingeplant.
Wir müssen Transparenz schaffen, damit Wissen die Urteilskraft erhöht und uns gegenseitig die Angst nimmt.
Vielleicht müssten wir alle diese Herausforderungen und unsere Lösungen, die wir im Alltag schnell und mit weitreichenden Folgen entwickeln, mehr betrachten und miteinander teilen – die Heimtücke des Virus, die Abwägung zwischen der Gefährdung einer Hausärztin und einer Erzieherin am Arbeitsplatz, die Schwierigkeit, sich am Steuer eines 40-Tonners auf dem Gelände eines Krankenhauses beim ersten Mal richtig zu orientieren. Wir müssen Transparenz schaffen, damit Wissen die Urteilskraft erhöht und uns gegenseitig die Angst nimmt. Denn Angst haben wir vor dem Unbekannten. Wenn wir unsere Schwierigkeiten so in seine Ebenen und Einzelteile gliedern, dann reduzieren wir die Komplexität, sorgen für Transparenz und gewinnen Handlungsfähigkeit. Das hilft gegen die Angst. Wir erkennen nämlich, was wir nicht verändern können, und was wir ändern können. Zwar bleibt das Virus zunächst in der Welt, aber wir stellen fest: Gemessen an der Größe und Komplexität der Herausforderung ist bisher alles „im Großen und Ganzen“ ganz gut gelaufen.