Die Matrix des digitalen Zeitalters
Christian M. Wegner, Februar 2020
Dieses Essay ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem technologischen Fortschritt und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Während Digitalisierung, künstliche Intelligenz und die New Economy generell heute viel Beachtung finden, werden ihre potenziellen negativen gesellschaftlichen Auswirkungen selten angesprochen und oft ignoriert. Vor Allem durch die Politik. Politiker sprechen oft über Industrie 4.0, jedoch selten darüber, wie die Gesellschaft 4.0 mal funktionieren soll. Obwohl letzterer Aspekt die bei Weitem größte vor uns liegende Herausforderung darstellt.
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Als ich den Film Matrix zu erstem Mal sah, dachte ich, es war ein gut gemachter sci-fi Film, und freute mich an der Aktions-geladenen Handlung und den vielen Stunts. Damals erschien mir das Filmthema - die Übermacht der Maschinen über die Menschheit - weit hergeholt und realitätsfremd. Also vergaß ich den Film bald, und er kam mir erst zurück ins Gedächtnis, als ich auf einem einem Neben-TV-Kanal zufällig wieder rein-zappte.
Das Szenario der Films - Menschen, die von Maschinen in einer digitalen Matrix gefangen gehalten wurden und ein virtuelles Leben führten, währen die Maschinen ihre Körper nutzten um damit die Energie zu erzeugen, die sie für ihren Betrieb brauchten - machte mich plötzlich neugierig und beschäftigte mich zunehmend. Könnte so was wirklich passieren?
Heute, in der Morgendämmerung des „Alles 4.0“, denke ich, dass die ganzheitlichen Konsequenzen der Digitalisierung, künstlichen Intelligenz (KI) und Industrie 4.0 auf unsere Gesellschaft weitgehend unbekannt sind bzw. bewusst ignoriert werden. Und wenn doch angesprochen, werden sie oft trivialisiert. Die Technologie-Vorreiter preisen unermüdlich den Beitrag dieser neuen Entwicklungen zum Wohle der Gesellschaft, sowie die enormen Chancen, welche sie eröffnen. Zum Beispiel, nehmen sie gerne Bezug auf die Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze in der New Economy. Ohne Zweifel, diese Chancen sind reell, und viele neue Jobs werden in Zukunft entstehen. Andererseits erwähnen diese Leute andere, weniger erfreuliche Aspekte dieser Entwicklung nicht, wie zum Beispiel die unausweichliche Spaltung der Gesellschaft aufgrund der weiteren Konzentration von Reichtum und Macht, und insbesondere wegen der zukünftig zu erwartenden dramatischen Reduktion menschlicher Partizipation in der Wertschöpfungskette. Die Mehrzahl der einfachen und wiederholbaren Tätigkeiten werden durch Automation und KI zunehmend ersetzt. Was werden die heutigen Eigentümer dieser Jobs in Zukunft machen? Sie alle durch Fortbildung für die neuen Herausforderungen fit zu machen, ist ein Mythos - aus mehreren Gründen. Die höheren intellektuellen Anforderungen zukünftiger Tätigkeiten werden nicht alle erfüllen können. Diejenigen, die dennoch am neuen Wirtschaftskreislauf teilnehmen wollen, werden viel Eigeninitiative und Mühe aufbringen müssen um sich zu behaupten. Viele werden nicht bereit sein dieses Investment zu machen. Darüber hinaus werden zukünftig einfach weniger Menschen gebraucht, um den benötigten wirtschaftlichen Ausstoß zu generieren. Es ist schwer vorstellbar, dass all die Arbeitsplätze, welche im Einzelhandel aufgrund von online-Shopping und neuer Geschäftskonzepte wie Amazon Go wegfallen werden, durch neue Jobs in anderen Bereichen ersetzt werden können. Was werden die vielen Gepäck-Abfertiger in den Flughäfen machen, wenn Roboter die Koffer automatisch in die Container laden können werden, und somit der letzte manuelle Schritt im Gepäckabfertigungsprozess entfallen wird. Und wohin sollen sich die vielen tausend Postboten hin orientieren, wenn eine technische Lösung für die „letzte Meile“(1) der Brief- und Paketzustellung vorhanden sein wird.
Jedoch werden nicht nur die „einfachen“ Jobs verschwinden. Wir befinden uns erst am Anfang der digitalen Ära, und KI zeigt bereits beeindruckende Ergebnisse, zum Beispiel im medizinischen Bereich. KI interpretiert X-Ray- und MRT-Aufnahmen schon heute so akkurat wie ein Team von Spezialisten. Eine Parkinson-Früherkennung durch Analyse des Schwingungsbildes, welches durch einen an der Hüfte des Patienten angebrachten Sensors erzeugt wird, ist bereits heute möglich. Werden die aufgrund solcher Entwicklungen freigestellten Ärzte und medizinischen Fachkräfte nach Afrika gehen, um dort die katastrophalen Gesundheitszustände zu verbessern? Wohl kaum. Was soll mit tausenden von Anwälten passieren, wenn KI besseres Wissen über die Gesetzgebung erlangt haben wird, als es einer Person jemals möglich wäre, und wenn Computer eine Rechtsanalyse in Sekunden erledigen können, für die ein Team von Rechtsspezialisten mehrere Tage bräuchte?
Im Wesentlichen verfolgen (fast) alle KI Applikationen das Ziel den menschlichen Beitrag im Wertschöpfungsprozess zu reduzieren. Folglich ist das Szenario einer gespaltenen Gesellschaft – einerseits mit der Gruppe von Menschen, die einen aktiven Wertbeitrag, und andererseits mit der (voraussichtlich größeren) Gruppe, die das nicht tun können (oder wollen) - nicht auszuschließen.
Wird diese Entwicklung die Menschen in Gewinner und Looser entzweien und schließlich zum sozialen Kollaps führen? Das hängt davon ab, ob ein sozialer Konsens dennoch gefunden werden kann.
Das Erreichen eines solchen sozialen Konsenses, welcher die vielen Millionen Menschen einschließt, für die keine Arbeit da sein wird, ist die größte gesellschaftliche Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Sind all diese Menschen dann in Zukunft überflüssig? Die Antwort ist NEIN. Die Wirtschaft braucht sie als Konsumenten, und die Politik braucht sie für ihre Stimmen. Ohne ihre Teilnahme am Konsum von Gütern und Dienstleistungen würde der Wirtschaftskreislauf zusammenbrechen. Ohne dass die Politik diese Menschen irgendwie bei Laune hält und ihre Teilnahme am politischen Prozess ermöglicht, würde die Gesellschaft in Chaos und Anarchie versinken.
Die Wirtschaft kümmert das soziale Gleichgewicht recht wenig. Auch wenn viele Wirtschaftsbosse immer wieder die soziale Verantwortung ihrer Unternehmen unterstreichen, sind diese Worte meistens leere Phrasen ohne reelle Wertigkeit. Unternehmen werden auch weiterhin jede Möglichkeit nutzen ihre wirtschaftliche Effizienz zu erhöhen, ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Auswirkungen. Man muss sich nur ansehen, was in den verschiedenen Wirtschaftszweigen kürzlich passiert ist. Der Abgasskandal in der Automobilindustrie, die Beteiligung von Großbanken an Geldwäsche und Steuervermeidung, oder der rücksichtslose Missbrauch von Kundendaten durch die Social Media Giganten sind nur einige Beispiele dafür, dass sich Unternehmen kaum um den gesellschaftlichen Schaden ihres Handelns scheren. Das Sicherstellen einer gesellschaftlichen Balance ist auch nicht ihre Aufgabe. Dies ist die Aufgabe der Politik, und bevor Menschen die Wirtschaft an den Pranger stellen, sollten sie lieber die politischen Protagonisten wählen, welche über den Willen, den Mut und das Können verfügen, die Balance zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bestmöglich sicherzustellen.
Bislang haben die Politiker versagt, die aufgrund des technologischen Wandels vor uns liegenden gesellschaftlichen Herausforderungen klar und offen anzusprechen. Manche mögen nicht in der Lage sein deren Dimension zu erkennen. Von den Restlichen haben die meisten Angst sich die Finger an einem so heißen Thema zu verbrennen. Eines ist klar. Niemand, die Politik mit eingeschlossen, kann die technologische Entwicklung stoppen. Es liegt in der Natur des Menschen, alles auch erreichen zu wollen, was irgendwie erreichbar erscheint. Und dies oft ohne Rücksicht darauf, dass es ihm vielleicht sogar selber schadet. Die Technologie wird weiter vorangetrieben werden, dessen ungeachtet, wie viele Menschen sie aus dem Wertschöpfungsprozess verdrängt.
Unkontrolliert, wird die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahrzehnte unser soziales Gleichgewicht ernsthaft bedrohen. Um eine soziale Aufspaltung zu vermeiden, wird die Politik nicht drum herum kommen, ein neues gesellschaftliches Modell zu implementieren. Menschen, denen es in der New Economy nicht möglich sein wird eine Arbeit zu finden, müssen vom Staat finanziell so unterstützt werden, so dass Ihnen ein akzeptabler Lebensstandard möglich ist. Über das „akzeptabel“ müsste man sich gesellschaftlich sicher noch einigen. Die Implementierung eines solchen Modells könnte durch eine gemeinsame Anstrengung seitens der Politik und der Wirtschaft bewerkstelligt werden. Die Wirtschaft würde erheblich höhere Steuern akzeptieren müssen, Geld welches die Politik dann in Form eines bedingungslosen und garantierten Grundeinkommens an diejenigen verteilte, die außerhalb des Wertschöpfungsprozesses stünden. Aufgrund der durch die neuen Technologien möglich werdenden enormen Effizienzsteigerung, sollte es den Unternehmen möglich sein diese zusätzliche Steuerbelastung mühelos abzufedern. Aus dem gleichen Grund würden viele Güter billiger und damit auch für Menschen mit einem geringeren Einkommen erschwinglich. Diese Umverteilung von Reichtum - etwas, was linke Politiker bereits seit längerer Zeit propagieren - wäre somit ein wesentliches Instrument zu Sicherstellung des sozialen Friedens. Eine Alternative zeichnet sich bislang nicht ab. Diese Subventionierung eines substanziellen Teils der Gesellschaft löst aber nicht das ganze Problem, denn sie adressiert nur dessen finanzielle Seite. Zusätzlich müssten Politiker einen Weg finden zusätzlich den Geist dieser Menschen anzusprechen, die sich trotzdem als Verlierer dieses ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels verstehen könnten, auch wenn ihre finanziellen Bedürfnisse erst mal abgedeckt wären. Wenn eine nicht unwesentlich große soziale Schicht sich als Opfer und als Menschen zweiter Klasse begreifen würde, weil ihre Arbeitsleistung nicht mehr gefragt wäre, könnte der soziale Frieden trotzdem nicht gewahrt werden. Diese Menschen würden die neue Gesellschaftsordnung nach wie vor als ungerecht erachten und gegen sie ankämpfen. Folglich müsste, entgegen der heutigen Wahrnehmung, die Tatsche, dass jemand an keinem aktiven Wertschöpfungsbeitrag beteiligt wäre und von der Gesellschaft unterhalten werden müsste, die Natur eines Stigmas verlieren. Sie müsste als ein natürliches Merkmal der neuen Gesellschaft allgemein verankert und akzeptiert werden.
Würden sich die Menschen in so ein neues gesellschaftliches Modell einfügen? Die zukünftigen ökonomischen Champions würden dies wahrscheinlich tun. Sie sollten klug genug sein um zu erkennen, dass soziales Chaos auch ihre Pläne zunichte machen würde. Würden die Menschen am anderen Ende der Gesellschaft akzeptieren, dass ihre gesellschaftliche Rolle auf die eines Konsumenten und auf die Abgabe ihres politischen Votums bei Wahlen reduziert würde. Es gibt gute Gründe dies anzunehmen. Vorausgesetzt, sie können bei Laune gehalten werden.
Um plötzlich erscheint das Filmszenario der Matrix gar nicht mehr so weit entfernt und undenkbar. Anders als im Film, wird es nicht nötig sein physisch in die Köpfe der Menschen einzudringen um ihre Gedanken zu kontrollieren. Es passiert bereits heute auf viel subtilere und weniger körperlich intrusieve Art.
Für viele Menschen ist der Konsum von Gütern und Dienstleistungen bereits heute erste Lebenspriorität, und Arbeit eine ungeliebte Pflicht um das dafür notwendige Geld zu erwirtschaften. Dieser Trend kann insbesondere bei jungen Menschen mir geringer Ausbildung beobachtet werden. Für viele ist die von den sozialen Medien und online Konsum geschaffene Welt bereits heute ihre Realität. Obwohl das Bild eines durch Maschinen versklavten Menschen nach wie vor als unwahrscheinlich erscheint, sind viele auf einem gefährlichen Weg zunehmend manipuliert zu werden und ihre Selbstbestimmung zu verlieren. Manipuliert durch wen? Nicht durch die Maschinen, und ich glaube, Maschinen werden nie die Übermacht über die Menschen erlangen. Maschinen sind nur die Möglichmacher solcher Manipulation. Neue Technologien und Verfahren, die durch die gewaltige Steigerung von Rechenleistung und Internet-Bandbreite, durch Digitalisierung und KI ermöglicht werden, ermächtigen einige wenige, in die Köpfe vieler anderer einzudringen und ihre Gedanken zu steuern.
Persönlichkeitsprofile, inklusive den individuellen Neigungen, Präferenzen und Ängsten von Millionen Einzelpersonen sind heute schon der neue Rohstoff der modernen Ökonomie. Seit Beginn des online Handels und Etablierung der sozialen Plattformen hat sich die Gesellschaft zu ihrem Nachteil entwickelt. Eine erschreckende Anzahl von Menschen haben zunehmend ihr Interesse an der Realität verloren. Anstatt Arbeit als Möglichkeit der eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu verstehen, empfinden viele diese als eine unangenehme Notwendigkeit. Entbunden von der Pflicht den eigenen Lebensunterhalt zu erarbeiten, würden vielen nur allzu gerne ihren Job hinwerfen und den angenehmen Seiten des Lebens zu frönen. Viele, und leider meistens junge Menschen, haben ihren eigene Persönlichkeit aufgegeben und leben das Leben anderer, wie Berühmtheiten und Stars der neuen Medien. Anstelle ihren eigenen Verstand zu benutzen, folgen sie blind den Ratschlägen von Influencern und Bloggern. Die Entstehung und unglaubliche Entwicklung dieser neuen Berufsbilder sind ein klarer Hinweis dafür, dass viele Menschen versuchen ihrer eigenen Realität zu entkommen, indem sie in eine imaginäre Welt fliehen. Die Interaktion mit anderen Menschen reduziert sich auf das exhibitionistische Veröffentlichen eigener Bilder, den Austausch kurzer belangloser Nachrichten und das Liken trivialer Beiträge und Inhalte im Netz. Dieser alarmierende soziale Trend wird durch die Vorreiter der neuen Wirtschaftsordnung befeuert, mit dem einzigen Ziel den Konsum zu maximieren.
Es ist nicht möglich den Gedanken zu ignorieren, dass in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft weite Teile der Gesellschaft in einer Matrix leben werden, welche die Politik und die Protagonisten der New Economy für sie einrichten.
Die Matrix wird die Leute bei Laune halten, solange sie die Regeln der Matrix befolgen. Es wird ihnen erlaubt sein, ein angenehmes Leben zu führen ohne zu arbeiten. Wie den Ballast, den ein Ballon mitführen muss um seine Fahrt zu steuern, muss die Gesellschaft diese Menschen mittragen um ihre (der Gesellschaft) Selbstzerstörung zu vermeiden. Vollkommene Transparenz und totale Überwachung werden der Preis sein, der zu zahlen sein wird. Einige Vorläufer dieser Matrix gibt es schon in einigen Ländern der Erde, und sie liefern einen schalen Vorgeschmack dessen, was noch kommen könnte.
Sind wir mit dieser Entwicklung einverstanden? Es spielt keine Rolle. Sie kann weder gestoppt noch rückgängig gemacht werden.
(1) Innerhalb des Transportwegs von Briefen und Paketen bezeichnet die „letzte Meile“ den Abschnitt vom Brief- oder Paket-Verteilerzentrum zum Empfänger. Dies ist der einzige nicht automatisierte Prozessschritt und erfordert den Einsatz von Postboten bzw. Paketzustellern.