Die Rätsel des Gehirns
100 JAHRE SWZ – Warum das Multitasking-Leben vieler Führungskräfte ein Ideenkiller ist. Weshalb ein Elefantengedächtnis nicht nur Vorteile hat. Wie der Sport Geistesblitze fördert. Und wie das Gehirn Informationen „warmhält“. Ein Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Henning Beck, der am 10. Oktober 2019 bei der 100-Jahr-Feier der Südtiroler Wirtschaftszeitung SWZ in Bozen referiert.
SWZ: Herr Beck, haben Sie eigentlich ein gutes Gedächtnis?
Henning Beck: Ich wünschte manchmal, es wäre besser. Mein Gedächtnis ist beileibe nicht perfekt.
Menschen mit dem sprichwörtlichen Elefantengedächtnis haben Vorteile, egal ob sie als Politiker mit ihrem Wissen beeindrucken müssen oder als Manager wichtige Verhandlungen führen sollen. Was hat deren Gehirn, was andere Gehirne nicht haben?
In der Tat gibt es Personen, die in der Lage sind, extrem viel abzuspeichern – zum Teil auch bildlich – und es bei Bedarf abzurufen. Bei Personen mit solchen scheinbar übernatürlichen Gedächtnisfähigkeiten funktionieren einige Filtermechanismen anders als bei „normalen“ Personen. Das Gehirn siebt sehr viel weniger an Erlebtem aus und verankert die Informationen direkter und breiter in den Nervennetzwerken, um sie dann ebenso direkt wieder abrufen zu können. Das klingt erst einmal toll…
Das Gehirn muss sein Gedächtnis immer aufräumen und Dinge vergessen, um das Wichtige schnell zu erkennen.
… ist es doch auch, oder?
Natürlich ist das eine tolle Fähigkeit. Es gibt jedoch ein Aber. Wenn sich ein Gehirn immer an alles erinnern könnte, müsste es einen riesigen Aufwand betreiben, um zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem zu unterscheiden. Es ist ganz ähnlich wie bei einer Bibliothek mit zehntausenden Büchern: Wenn Sie weitere hunderttausend Bücher in die Regale stellen, brauchen Sie immer länger, um das richtige Buch zu finden. Das Gehirn muss sein Gedächtnis immer aufräumen und Dinge vergessen, um das Wichtige schnell zu erkennen.
Ist die Gedächtnisfähigkeit des Gehirns angeboren?
Bei sehr begabten Menschen scheint sie in der Architektur des Gehirns bereits angelegt zu sein. Die verschiedenen Hirnareale sind zum Beispiel imstande, sich untereinander überdurchschnittlich schnell auszutauschen – und je schneller Information transportiert werden kann, desto besser kann sie in den Nervennetzwerken verankert werden. Gleichzeitig ist das Gedächtnis unter allen geistigen Fähigkeiten jene Fähigkeit, die sich am stärksten verbessern lässt, vor allem mit ein paar Techniken. Bei den Leuten, die sich bei Gedächtnis-Wettkämpfen messen, ist die Eigenschaft des Erinnerns interessanterweise genauso gut ausgeprägt wie bei Normalsterblichen. Erst einige Tricks ermöglichen ihnen Höchstleistungen.
Sowohl Berufstätige als auch Studenten kennen das Gefühl, sich nach einem intensiven Tag nicht mehr konzentrieren bzw. sich nichts mehr merken zu können. Darf man sich das Gehirn dann wie einen Muskel vorstellen, der vor Anstrengung übersäuert ist?
Es fühlt sich zwar ähnlich an, aber rein biologisch ist die Sache anders. Es ist auch nicht so, wie sich das viele Menschen vorstellen, nämlich dass das Gehirn – ähnlich einem Fass – irgendwann einfach voll ist. Vielmehr geht es darum, wie viel Information der Arbeitsspeicher verarbeiten kann.
Alle Informationen, die im Laufe eines Tages eintreffen, muss das Gehirn warmhalten, um sie dann – wenn wir Pause machen – zu verarbeiten.
Das müssen Sie erklären.
Alle Informationen, die im Laufe eines Tages eintreffen, muss das Gehirn warmhalten, um sie dann – wenn wir Pause machen oder schlafen – zu verarbeiten und zu verankern. Es gibt einige Gehirnregionen, welche die Aktivitätsmuster, die bei jedem Gedanken im Gehirn ausgelöst werden, vor und zurück spielen, also warmhalten, bis die Pause kommt. Wenn jemand aber permanent Informationen konsumiert, gerät der Arbeitsspeicher an seine Grenzen. Die Informationen überlagern sich im Gehirn, sie werden vergessen. Der Arbeitsspeicher ist nicht mehr in der Lage, neue Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten.
Ist das rastlose Multitasking-Leben vieler Unternehmer und Manager im Grunde also kontraproduktiv?
Es ist wie mit der Ernährung. Aus den vielen Müsli-Molekülen zum Frühstück sollen viele Muskel-Moleküle werden. Das klappt aber nur, wenn ich verdaue – als Pause mache. Wenn also das Gehirn nie die Chance zum Verdauen erhält, Informationen nie in bereits vorhandene Informationen einbetten und in neue Zusammenhänge stellen kann, dann verschwindet das Wissen wieder.
Lassen Sie uns über den Geistesblitz reden: Plötzlich ist er da, und wir wundern uns, dass er erst jetzt kommt. Wie entsteht in unserem Gehirn eine Idee?
Ideen kommen ja selten, wenn man sie braucht. Leute berichten oft darüber, dass ihnen die besten Ideen beim Radfahren, beim Geschirrabtrocknen, beim Duschen oder so kommen – scheinbar aus dem Nichts. Die Erklärung dafür ist, dass das Gehirn bestimmte Hirnregionen nur dann aktiviert, wenn man gedanklich abschweift. Dann verknüpft es Eindrücke, die wir schon haben, auf neuartige Weise. Plötzlich wird eine Verbindung zwischen zwei Gedanken hergestellt, die vorher noch nicht da war. Das klappt aber nur, wenn das Gehirn die Freiheit erhält, diese Kombination auszuprobieren. Das kann es nicht, wenn es fokussiert an etwas arbeiten muss.
Das Gehirn lässt sich also nicht unter Kreativitätsdruck setzen.
Die beste Art, gute Ideen zu verhindern, ist es, wenn ich Ihnen sage: „Ich gebe Ihnen 30 Sekunden. Haben Sie mal eine gute Idee!“ Stress ist der Ideenkiller Nummer eins.
Beim Ausdauersport werden gewisse Filtermechanismen im Gehirn heruntergeregelt. Dadurch schaffen es ein paar mehr Ideen ins Bewusstsein.
Menschen sagen überdurchschnittlich oft, dass sie beim Sport oder nach dem Sport Geistesblitze zu haben. Hat der Sport eine besondere Wirkung auf unser Gehirn?
Zum einen muss das Gehirn gerade bei Sportarten mit Routinebewegungen – zum Beispiel Laufen oder Radfahren – nicht über jede Bewegung nachdenken und bekommt durch dieses Funktionieren im Autopiloten den erwähnten Freiraum zum Ausprobieren von neuen Kombinationen. Das ist das eine. Zum anderen weiß man, dass beim Ausdauersport gewisse Filtermechanismen im Gehirn heruntergeregelt werden. Dadurch schaffen es ein paar mehr Ideen ins Bewusstsein – Ideen, die das Gehirn im Scheuklappenmodus des konzentrierten Denkens unterbewusst aussortieren würde, bevor es sie überhaupt bewusst verarbeiten kann.
Was braucht der Mensch also für eine optimale Gehirnleistung?
Ich versuche jetzt mal, die Antwort auf drei Kernpunkte zu reduzieren. Erstens braucht der Mensch Phasen und Orte, die ihm ein konzentriertes und ungestörtes Arbeiten ermöglichen. Zweitens ist der Austausch mit anderen Personen notwendig, um auf neue Ideen und Perspektiven zu kommen. Wir leben in einer der kreativsten Phasen der Menschheitsgeschichte, nicht etwa, weil wir heute mehr Grips haben als unsere Vorfahren, sondern weil wir uns durch die modernen Kommunikationstechnologien sehr schnell und direkt mit anderen Menschen austauschen können. Drittens braucht der Mensch eine Balance zwischen Konzentration und Entspannung. Permanentes Arbeiten, Fokussieren, Konzentrieren, Abliefern ist der geistigen Leistung abträglich. Eine ausgedehnte Mittagspause, ein Spaziergang am Nachmittag, ein Hobby oder Ähnliches sind extrem wichtig, damit das Gehirn verdauen kann.
Pausen gelten als ineffizient. Dabei sind sie es gar nicht.
Im Grunde ist es ja paradox: Wir brauchen Pausen für die bestmögliche Leistung, und trotzdem sind Pausen in unserer Leistungsgesellschaft verpönt.
Stimmt, Pausen gelten als ineffizient. Dabei sind sie es gar nicht.
Zu wie viel Prozent ist die Gehirnleistung trainierbar und zu wie viel Prozent genetisch vordefiniert?
In der Wissenschaft trennt man gar nicht so genau zwischen Genen und Umwelt. Unsere Gene beeinflussen durch unser Verhalten die Umwelt, aber umgekehrt beeinflusst die Umwelt, welche Gene ausgelesen werden. Es ist wie beim Kochen: Mit dem Kochbuch kann ich alles kochen, aber was ich koche, hängt von den Freunden ab, die mich besuchen kommen, und von den Zutaten, die ich verwende. So ist es auch mit den Genen: Die stehen zwar alle in den Zellen drinnen, aber wie die Gene umgesetzt werden, hängt stark davon ab, wie ich das Gehirn benutze. Es wäre keine gute Strategie, das Gehirn zu schonen, damit es nicht so schnell kaputt geht. Durch häufige Benutzung wird das Gehirn immer besser – Gene hin oder her.
Sie sind bekannt damit geworden, bei Ihren Vorträgen die Erkenntnisse der Hirnforschung einfach, einprägsam und dazu unterhaltsam zu erklären. Sind Sie sozusagen ein Wissenschaftspopulist?
Wissenschaft wird für die Menschen gemacht, also muss sie auch so erklärt werden, dass sie die Menschen verstehen. Wissenschaft will die Welt durch Wissen bereichern und Probleme lösen. Ich möchte also Wissenschaft populär machen, Menschen für die Faszination der Wissenschaft zu gewinnen. Das Gehirn ist das besterforschte Organ überhaupt, und doch gibt es noch so viele Rätsel auf. Das begeistert mich, und diese Begeisterung möchte ich teilen. Als Populist betrachte ich mich allerdings nicht.
Interview: Christian Pfeifer
(Das Interview ist ursprünglich erschienen in der Südtiroler Wirtschaftszeitung SWZ vom 20. September 2019, www.swz.it)