Die Selbstständigkeit der Heilberufe in der Sozialversicherung - ist das überhaupt noch möglich?
Die Frage der Sozialversicherungspflicht von Tätigen im Bereich der Heilberufe ist schon länger Gegenstand (höchst-)richterlicher Entscheidungen. Insbesondere die kollegiale Unterstützung im Rahmen einer Urlaubsvertretung zwischen Ärzten und auch die Arzt- sowie Pflegekrafttätigkeit auf Honorarbasis erfolgten in der Vergangenheit mit einem von allen Seiten nicht hinterfragten Selbstverständnis und in der Vorstellung nicht sozial-versicherungspflichtiger Tätigkeiten. Ein wesentliches Argument dafür war die Klassifizierung der Tätigkeiten als Dienste höherer Art. Durch zwei Urteile im Jahr 2019 hat das Bundessozialgericht (BSG) dieser „Praxis“ in Bezug auf die Arzt- und Pflegekrafttätigkeit in Krankhausumgebungen auf Honorarbasis den Garaus gemacht, indem es die Voraussetzungen, die an eine selbständige Tätigkeit geknüpft werden, ganz erheblich verschärft hat. Mit mehreren Urteilen vom 19.10.2021 setzt und entwickelt der 12. Senat des BSG diese Rechtsprechung hinsichtlich der Notarzt- und Honorarpflegekrafttätigkeit wie auch der Urlaubsvertretung fort.
Notarzttätigkeiten für einen Landkreis/DRK-Kreisverband e. V.
In den beiden zum Themenkomplex „Notarzttätigkeit“ ergangenen Entscheidungen schloss sich das BSG der Ansicht des DRV Bund an, dass es sich jeweils um abhängige Beschäftigungen der betroffenen Ärzte handelte. Folgende Gründe waren dafür maßgeblich:
- Bei Vertragsgestaltungen, in denen die Übernahme einzelner Dienste frei vereinbart wird, ist für die Beurteilung der Tätigkeit auf die jeweiligen Einzelaufträge abzustellen.
- Eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des „Auftraggebers“ liegt dann vor, wenn der Arzt zur Erbringung der Notarzttätigkeit Arbeitsmittel nutzt und mit Personal, das zu dessen Rettungsdienstbetrieb gehört, arbeitsteilig zusammenwirkt.
- In die Gesamtwürdigung der vorliegenden Indizien fließen auch regulatorische Vorgaben ein. Ferner spricht das Nichtentrichten eines Nutzungsentgelts für die Inanspruchnahme der Betriebsmittel des Rettungsdienstes für eine abhängige Beschäftigung.
Pflegetätigkeit in der ambulanten Intensivpflege oder als Pflegehelferin
Ebenfalls zwei Fälle zu Tätigkeiten im pflegerischen Bereich hat das BSG entschieden. Auch hier war sich das Gericht im Ergebnis mit der DRV Bund einig, dass abhängige Beschäftigungen vorlagen:
Bei eingeschränktem Weisungsrecht kann die Dienstleistung fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebs erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird („funktionsgerecht dienende Teilhabe am Arbeitsprozess“).
Eine Eingliederung in die Arbeitsabläufe des Pflegedienstes liegt dann vor, wenn der Dienstplan vom Pflegedienst erstellt wird und dieser die Pflegekraft mit ihren Schichten einordnet.
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Urlaubsvertretung in einer Gemeinschaftspraxis
Das BSG bestätigte hier die abhängige Beschäftigung einer Ärztin als Vertreterin für die ärztlichen Leistungen, weil diese insbesondere hinsichtlich der Zuweisung bestimmter Patienten weisungsgebunden war.
Aufgrund des arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit dem Praxispersonal und der kostenfreien Nutzung von Einrichtungen und Mitteln der Gemeinschaftspraxis war sie in die Arbeitsabläufe eingegliedert.
Das ausschließliche Tätigwerden in einer Vertretungssituation ändert an dieser Bewertung nichts.
Hinweis:
Der Eingliederung in einen fremden „Arztbetrieb“ kann es allerdings entgegenstehen, wenn ein Arztvertreter für die Dauer seiner Tätigkeit die Stelle des Praxisinhabers einnimmt und zeitweilig selbst dessen Arbeitgeberfunktionen erfüllt, weil dann nicht nur ärztliche Leistungen vertretungsweise erbracht werden, sondern eine Vertretung in der Rechtsstellung der Mitglieder der Gemeinschaftspraxis vorliegt.
Ob mit der gewählten Ausgestaltung der ärztlichen Vertretung berufszulassungs-rechtlichen Anforderungen Genüge getan wird, ist für die sozialversicherungsrechtliche Einordnung einer Tätigkeit als Beschäftigung unerheblich.
Ergebnis
Das von der Vorstellung höherqualifizierter Tätigkeiten geprägte Berufsbild der Ärzte ist nicht (mehr) ausschlaggebend für die sozialversicherungsrechtliche Qualifizierung der Tätigkeit eines Mediziners, die auf Honorarbasis vereinbart wird. Die als Ausdruck qualifizierter Tätigkeit bestehende weitgehende Weisungsfreiheit im Rahmen einer notärztlichen Einzelfalltätigkeit sowie die Möglichkeit, die Arbeitszeit im Rahmen der betrieblichen Erfordernisse frei zu gestalten, ist üblich, bietet aber keine Anhaltspunkte für eine selbständige Tätigkeit.
Insbesondere die Vorgaben zur Qualitätssicherung im Bereich der Heilberufe und die berufsrechtlichen Vorgaben dürfen in Bezug auf die Frage der Eingliederung einer Person in den Betriebsablauf nicht außer Acht gelassen werden.
Es sind gerade diese Vorgaben, die nach Ansicht des Bundessozialgerichts eine Eingliederung untermauern. Ggf. für die Urlaubsvertretung lässt das BSG noch Raum für eine selbständige Tätigkeit, sofern der Arztvertreter für die Dauer der Tätigkeit die Stelle des Praxisinhabers einnimmt und zeitweilig selbst dessen Arbeitgeberfunktionen erfüllt.
Insbesondere die Berufsbilder, die regulatorischen Vorgaben unterworfen sind, sind gut beraten, bei einer beabsichtigten Tätigkeit auf Honorarbasis mit besonderer Sorgfalt vorzugehen und eine entsprechende Vorabprüfung durchführen zu lassen. Dafür bietet sich bspw. das Statusfeststellungsverfahren (§ 7a SGB IV) an. Wird im Rahmen dieser optionalen Statusentscheidung durch die Clearingstelle Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung festgestellt, tritt diese unter gewissen Voraussetzungen erst mit der Bekanntgabe der Statusentscheidung durch die Clearingstelle ein.
In die Vergangenheit betrachtet ist das Risiko der Nachverbeitragung im Rahmen einer Sozialversicherungsprüfung nicht mehr vom Tisch zu wischen. Wurden keine Beiträge abgeführt und die Scheinselbständigkeit erst in einer Betriebsprüfung festgestellt, haftet in der Regel der Auftraggeber (tatsächlich: Arbeitgeber) rückwirkend bis zu vier Jahre für die ausstehenden Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge. Bei vorsätzlich vorenthaltenen Beiträgen gilt sogar eine Nachentrichtungspflicht von 30 Jahren. Der Arbeitgeber darf von seinem Arbeitnehmer jedoch nur drei Monate lang einen Teil des Gehalts einbehalten, sofern das Verhältnis noch besteht. Abweichende Regressregelungen zwischen den Parteien sind unwirksam. Bestehende Verträge und Umsetzungen sind dahingehend zu prüfen und – wenn möglich – anzupassen. Ab diesem Moment sollten zumindest neue Diskussionsgrundlagen geschaffen sein.
Ggf. kann die Differenz zwischen dem Stundenlohn des Selbständigen und dem eines Angestellten vom „Scheinselbständigen“ zurückverlangt werden. Das bedürfte auch einer gesonderten Wertung und Durchsetzung.