Die Taube in der Hand

Die Taube in der Hand

Eine lange Durststrecke scheint zu Ende: Nach Jahren der Niedrig- und Minuszinsen sind die Guthabenzinsen in den vergangenen Monaten signifikant gestiegen. Und weitere Zinsschritte sind geplant – sehr zur Freude vieler Sparerinnen und Sparer. Vor allem die Deutschen sind für ihre Vorliebe für Sparbücher und Tagesgeldkonten bekannt und haben Aktien wegen deren Schwankungsanfälligkeit schon immer eher kritisch beäugt. In den vergangenen Niedrig- und Minuszinsjahren galten Aktien demgegenüber aber oft als einziger Ausweg, das eigene Geld überhaupt noch zu vermehren oder zumindest dessen Wert zu erhalten. Jetzt, in Zeiten wieder steigender Zinsen, fragen sich viele (deutsche) Anlegerinnen und Anleger: Wozu brauche ich jetzt eigentlich noch Aktien? Gerne taucht in diesem Zusammenhang dann auch das Argument auf, dass die Börsenkurse ja ohnehin fallen, sobald die Zinsen steigen oder hoch sind, sprich: Aktien werden mit höheren Zinsen quasi automatisch unattraktiv.

Das hat auch eine repräsentative Kurzbefragung gezeigt, die das Marktforschungsinstitut YouGov gerade für uns durchgeführt hat. Dort geht immerhin jeder 5. Befragte aufgrund der steigenden Zinsen von sinkenden Aktienkursen aus. Doch ist da etwas dran? Gibt es diesen Zusammenhang wirklich? Das wollte ich genauer wissen und habe mir von den Kolleginnen und Kollegen in der Vermögensverwaltung einmal die historische Entwicklung des MSCI World und der Einlagenzinsen für Privatanleger aus der Bundesbankstatistik seit 1972 raussuchen lassen und übereinander gelegt.  

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Aus der Grafik lassen sich einige spannende Erkenntnisse ziehen: Wir sehen recht deutlich, dass die Einlagenzinsen in Deutschland bis Mitte der 90er Jahre relativ hoch waren und seitdem stark zurückgegangen sind. Die weltweiten Aktienmärkte werfen in 35 von 50 Jahren eine – teils deutlich – positive Rendite ab, in den restlichen Jahren ergeben sich Verluste. Insgesamt gab es im Betrachtungszeitraum der letzten 50 Jahre Phasen, in denen die Zinsen in Deutschland hoch und die Aktienmarktrenditen weltweit negativ waren, zum Beispiel Anfang der 70er Jahre. Jedoch gab es historisch auch Zeitabschnitte, in denen die Zinsen hoch waren und die Aktienmarktrenditen ebenfalls deutlich positiv ausgefallen sind, zum Beispiel Anfang der 80er Jahre. Das heißt, es gibt keine 100-prozentig verlässliche „Gesetzmäßigkeit“, nach der die Aktienmarktrenditen bei hohen Zinsen niedrig sein müssen, auch wenn es noch so oft behauptet wird. Das gilt schon allein deswegen, weil für deutsche Zinssparerinnen und Zinssparer die deutschen Zinsen maßgeblich sind, für die internationalen Aktienmärkte aber nicht – hier spielen viel entscheidender die internationalen Zinsen in den USA, Japan usw. eine Rolle. Doch auch hier gibt es letztlich keinen eindeutigen, immer gültigen Zusammenhang zwischen Zinsniveau bzw. -entwicklung und Aktienrendite.

Viel wichtiger erscheint mir bei der Frage „Zinssparen oder investieren?“ der folgende Punkt: Der durchschnittliche Vermögenszuwachs beträgt in unserem Beispiel seit 1972

  • für die Einlagenzinsen im Jahresdurchschnitt 3,8 Prozent
  • und für die internationale Aktienmarktrendite des MSCI World im Jahresdurchschnitt 9,4 Prozent.

Die Differenz liegt damit bei 5,6 Prozent – und das trotz zum Teil heftiger Börsenkursausschläge nach unten und zum Teil sehr hoher Sparzinsen von 8 bis 9 Prozent. Das heißt, unabhängig davon, ob die Zinsen gerade höher oder niedriger ausfielen als zuvor: Für den mittel- bis langfristigen strategischen Vermögensaufbau waren Aktieninvestments in den letzten 50 Jahren gegenüber den Zinsprodukten im Schnitt deutlich attraktiver. Nur so ist eine mittelfristig verlässliche Rendite möglich, die die durchschnittliche Inflationsrate signifikant übersteigt.

Denn das ist der springende Punkt – bei jedem Guthabenzins muss man die Inflation gegenrechnen. Liegt diese beispielsweise bei 6 Prozent (sprich unter dem aktuellen Inflationsniveau) und die Zinsen bei 3 Prozent (also über dem aktuellen Einlagenzinsniveau), dann ist die reale Verzinsung, also die um die Inflation bereinigte Verzinsung, immer noch negativ. Und das ist beileibe kein neues oder unrealistisches Szenario – die Realverzinsung ist vielmehr schon seit 2011 negativ, wie die nachfolgende Grafik zeigt.

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Konkret bedeutet das: Haben Sie beispielsweise 100.000 Euro auf einem festverzinsten Konto liegen, dann wächst der Anlagebetrag bei einer angenommenen Verzinsung von 3 Prozent nach zehn Jahren zwar auf etwa 134.400 Euro an, hat bei einer angenommenen Inflation von 6 Prozent aber nur noch eine Kaufkraft von rund 75.000 Euro. Eine enorme Kaufkraftminderung von rund 44 Prozent also, trotz passabler Verzinsung.

Bitte beachten: Diese Inflationsannahme, liebe Leserinnen und Leser, ist nur ein Beispiel und bitte nicht als Prognose für die weitere Inflationsentwicklung zu verstehen. Mir geht es vielmehr ums allgemeine Prinzip: Das angelegte Vermögen wird schleichend weniger wert, wenn die Inflation den Sparzins (auch nur leicht) übersteigt. Wer sein Geld indes erhalten oder vermehren möchte, kann das mittel- bis langfristig besonders gut mit einer international breit diversifizierten Aktieninvestition erreichen. Übrigens, viele Anleger kennen diesen Zusammenhang von Inflation und Zins – in unserer YouGov-Marktstudie haben 53 Prozent angegeben, dass sie sich im Klaren darüber sind, dass positive Sparzinsen bei darüberliegenden Inflationsraten eine negative Realverzinsung ergeben. Das bedeutet aber auch, dass fast die Hälfte der Befragten darüber keine Kenntnis hat.

Um auf unsere Eingangsfrage zurückzukommen: Für den langfristigen Vermögensaufbau sind Aktien unerlässlich, daran ändern auch steigende Zinsen nichts. Ein kaufkraftbereinigter Vermögenszuwachs ist mit Sparzinsen in den letzten 50 Jahren nur zwischenzeitlich zu erreichen gewesen – systematisch kann das nur mit Kapitalmarktanlagen, also echten Investitionen, gelingen. Das ist aber keine Neuigkeit des Jahres 2023, sondern das war schon immer so.

Und trotzdem plant immerhin jeder dritte Befragte laut unserer YouGov-Studie, die eigenen bestehenden Aktienanlagen zu verkaufen, um die jetzt wieder steigenden Zinsen zu nutzen und das Geld festverzinst anlegen zu können. Zumindest will die Mehrheit (65 Prozent) in Aktienanlagen investiert bleiben, trotz steigender Zinsen. Da kann ich nur sagen: eine gute Entscheidung. 

Mein Herz schlägt – wie Sie wissen – in erster Linie für Aktien. Die Deutschen hingegen lieben in der Regel die Sparzinsen und haben Angst vor Aktien – übertragen auf ein Sprichwort könnte man sagen: Die Sparzinsen sind aus Sicht vieler Anlegerinnen und Anleger der sichere Spatz in der Hand und die Aktienrenditen die fette Taube auf dem Dach, die aber jederzeit wegfliegen könnte. Dabei ist diese Angst unbegründet, denn langfristig gesehen entwickeln sich die weltweiten Aktienmärkte insgesamt nach oben. Das „Sichere“ am „Spatz“ Spareinlage ist – neben der festen Verzinsung, der Einlagensicherung und keinerlei Schwankungen – also auch der reale Vermögensverlust. Die Taube auf dem Dach glänzt hingegen mit einem mittel- und langfristig wahrscheinlichen Zuwachs wie die erste Grafik verdeutlicht – und wenn Sie das Risiko tragen können und sich dafür entscheiden, dann haben Sie die Taube in der Hand. 

Bei negativen Realzinsen gilt dies umso mehr. Die Unternehmen erhöhen mit der Inflation ihre nominalen Gewinne und senken ihre realen Schulden. Inflation ist ein direkter Bestandteil der Aktienrendite. Wer die heutigen Zinsen und die "vermeintliche Sicherheit" als Argument gegen Aktien nimmt, kann sein Flugzeug am besten mit Gravitation landen.

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