Digitalisierung - über den Verbaldurchfall der Propheten und eine profane Alternative...

Digitalisierung - über den Verbaldurchfall der Propheten und eine profane Alternative...

Seit circa zehn oder mehr Jahren lässt sich auch mit verschlossenen Augen ein Digitalisierung-Hype klar und deutlich beobachten. Aus allen Ecken schreit und brüllt ein jeder, der sich dazu berufen fühlt, seine Botschaft von der kommenden Digitalisierung. Dem gegenüber stehen die Repräsentanten der Fraktion, die sich dem Kölner Grundgesetz verpflichtet fühlen und den Lebensgrundsatz „Es it noch immer alles jod jejange“ proklamieren.

Zudem mehren sich die Skeptiker des Digitalen, wenn selbst die New York Times Autoren eine Bühne bietet, das Ende der „Affäre mit dem Digitalen“ zu proklamieren (s. hier).

Wem sollen wir denn nun glauben? Denjenigen, die sedieren oder den dystopischen Adepten einer Zukunft, die nur dann beherrscht werden kann, so man den jeweiligen Beratern folgt? Der Beratertagessatz als neue Form der allsonntäglichen Kollekte? Klingelbeutel, ick ́ hör ́ Dir trapsen.

Digital gegen analog – nicht zielführend!

Um es klar und deutlich zu sagen: die Kakophonie dieser Marktschreier treibt mir die Übelkeit ins Gesicht. Als Mensch und Manager, der zu tiefst von Pluralität und Komplexität als Kernelemente der menschlichen Gesellschaft überzeugt ist, erscheint es mir zutiefst unsinnig, auch nur ansatzweise mich Gedankenmodellen zuzuwenden, die behaupten, dass das Leben einfach und simpel erklärbar wäre. Dieses Schwarz-Weiß-Malen lehne ich nahezu kategorisch ab und verorte es im Bereich der  Dümmlichkeit beziehungsweise erkenne sie als Versuch an, mit einfachen Wahrheiten Menschen zu beherrschen. Jede Kalebasse oder Sandale – frei nach Monty Python – taugt mir mehr als Heilsbotschaft.

Kurzum, ich behaupte, dass der Richtungsstreit zwischen einer digitalen und einer analogen Welt nicht zielführend ist und letztendlich der gesunde Menschenverstand uns nach und nach in einen Zustand bringen wird, den ich mit dem hybriden Kunstwort „digilog“ beschreiben möchte.

Also nicht digital oder analog, sondern digital und analog zusammengedacht – so wie es im jeweiligen Kontext Sinn macht. Dies möchte ich mit diesem Artikel anhand eines konkreten Vorschlags für die Gesundheitsbranche verdeutlichen und zugleich damit ein eine Lanze für eine Vorgehensweise brechen, den man ebenso als hybrid bezeichnen könnte – Dem Neuen sich zuwenden, der Relevanz des Tradierten Rechnung tragen.

„Digi-loge“ Lösungen für die Gesundheitsbranche

Doch lassen Sie uns nun am Beispiel des Gesundheitswesens in medias res gehen. Auch wenn die Gesundheitsbranche eine sehr stabile ist, steht diese nun zunehmend unter Druck und muss sich verändern. Der zentrale Treiber ist an dieser Stelle nicht die Digitalisierung, sondern die Demographie der Industrieländer.

Die Digitalisierung ist hier in erster Linie ein Enabler. Eine zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft, also ein immer ungünstigeres Verhältnis aus einzahlenden versus Leistung-entnehmenden Bürgern, lässt sämtliche europäische Staaten seit nunmehr circa 10-30 Jahren mehr und mehr darüber nachdenken, wie man durch Rationalisierung und Rationierung der medizinischen Leistungen die Gesamtbevölkerung weiterhin adäquat mit „Gesundheit“ versorgen kann. Hier ist Digitalisierung schlicht und einfach die Antwort auf eine unvermeidbare Notwendigkeit.

Der Tragödie erste Perspektive, Auftritt des utopischen digitalen Helden

Der sich daraus ergebende Kostendruck lässt so manchen Systemteilnehmer darüber nachdenken, wie man durch Standardisierung und Digitalisierung und Einsparpotenziale heben kann. Dieser Ansatz ist zum einen verständlich, kann als relevant eingestuft werden, wird jedoch aber auch von einigen Marktteilnehmern als wunderbarer Vorwand genutzt, um die Digitalisierungssau durchs Dorf zu treiben. Irritiert halten sich die tradierten Marktteilnehmer an den Händen und wiegen besorgt ihren silbergrauhaarigen Kopf. Dadurch aus der Sicherheit eines konservativen Marktes herauskatapultiert, sind besagte Grauköpfe aus der stabilen Seitenlage herausbewegt und damit verunsichert genug, um den Todesstoß der digitalen Evangelisten zu empfangen. Dieser wird zumeist mit dem Heilsversprechen des Big Data-Dolch umgesetzt. Big Data, Hossiana, gelobt seist Du digitaler Gott, der Du Bit´n´Byte bist. Fragen, was denn mit diesen Daten gemacht werden können und wozu diese denn nun wirklich gut seien, werden als degoutant und rückwärtsgewandt bezeichnet, der Fragende bestenfalls ignoriert, wenn nicht massakriert. Mit dem Dolch, dem digitalen, versteht sich.

Der Tragödie zweite Perspektive, Auftritt des dystopischen analogen Komplementärs

Dieser Betrachtungsweise steht gerade zu diametral ein Ansatz gegenüber, der nach meinem Dafürhalten sowohl als Mensch-zentriert als auch verstaubt betrachtet werden kann. Er lehnt Digitalisierung, Rationalisierung und Rationierung in Gänze ab und stellt den Menschen und Patienten einzig relevanten Focus in die Mitte. Der Mensch sei etwas ganz Besonderes und dieses Digitaldings ein ganz widerliches. Sämtliche Überlegungen, die auch nur ansatzweise Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen beinhalten, werden als Teufelszeug und verachtungswürdig eingestuft. Sakrileg, Pfui Teufel, schwöre ab und bete drei empathische Vaterunser. So antiquiert dieser Ansatz unter den Vorzeichen einer überalternden Gesellschaft und der sich hieraus ergebenden Kostenexplosion erscheinen mag, soll er jedoch nicht verurteilt werden, da er am Ende des Tages uns zugleich Gelegenheit sein mag, sich darauf zurückzubesinnen, worum es im Gesundheitswesen letztendlich geht: Den Menschen.

Der Tragödie dritte Perspektive, Tod von Agonist und Antagonist und Sieg des (Digi)Logos

Wie löst man nun dieses Problem auf, wie entscheidet man sich in dieser Situation des Dilemmas? Mein Vorschlag an uns: Lassen Sie uns Agonisten und Antagonisten sich gegenseitig auslöschen und wenden wir uns dem gesunden Menschenverstand zu, in dem wir die Lösungen nutzen, die es bereits auf dem Markt gibt und die Vorteile beider Denkansätze in sich vereinen.

Eines der zentralen Probleme in unserem Mittel europäischen Gesundheitssystem, wahrscheinlich in allen Gesundheitssystemen der Industrieländer, ist die Adhärenz des Patienten. Diese beschreibt die Bereitschaft des Patienten sich an die Therapieempfehlungen des Arztes zu halten. Aufgrund der vorliegenden Studiendaten kann man getrost davon ausgehen, dass ein relevanter Anteil der verordneten Therapeutika nicht oder nur unregelmäßig eingenommen wird. Hieraus erwächst der Gesellschaft und dem Patienten ein erheblicher medizinischer und wirtschaftlicher Schaden. Damit stellt sich die Frage, wieso wir heute nicht auf die bereits bestehenden technischen, digitalen Lösungen zurückgreifen, die es uns ermöglichen festzustellen, ob denn eine regelmäßige Medikamenteneinnahme durchgeführt wurde. Die „digiloge“ Lösung ist profan und heißt Hub oder noch populärer „Plattform“.

Die digital erfasste und in einem Patienten-Hub elektronisch zusammengeführten Messung der unvollständigen Medikamenteneinnahme (die das Ergebnis von Vergesslichkeit und mangelndem Vertrauen in die Medikamentenwirksamkeit ist) kann in einem an den Hub angeschlossenen Medical Contact Center genutzt werden, um positiv auf das Einnahmeverhalten des Patienten einzuwirken. Somit ließen sich sehr wohl digitale Lösungsansätze in Verbindung mit analogen Kommunikationsmitteln nutzen, um die relevanten Größen „Patientenwohl“ und „Wirtschaftlichkeit“ beidermaßen zu bedienen.

Diese Patienten-Hubs ließen sich darüber hinaus noch weitergehend zum Wohle von Patient, Gesundheitssystem und Gesellschaft nutzen. Dazu sei auf ein weiteres Problem unserer heutigen Gesellschaft und dem Gesundheitssystem verwiesen. Es ist eine hinreichend verbreitete Konsequenz der heutigen Arbeitslandschaft, dass ältere Menschen nicht mehr ausreichend durch ein soziales Umgebungssystem abgefangen werden – alte Familienstrukturen haben zunehmend geringere Bedeutung. Sohn und Tochter sowie die Enkel leben nicht selten 50 oder gar 500 km entfernt, der alltägliche Unterstützungsgang, der Kasten Mineralwasser, das Rezept, all diese kleinen und großen Dienste können nicht mehr geleistet werden. Jedoch wollen die nachfolgenden Generationen sehr wohl Bescheid wissen, wie es den älteren Familienmitgliedern geht, wie es um das Befinden der Mama und des Papas steht und wie gegebenenfalls Dienstleister des medizinischen Sektors (Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Physiotherapeuten, etc.) um das ältere Familienmitglied herum arrangiert, organisiert und orchestriert werden können.

Als drittes, exemplarisch angeführtes, Beispiel sei die Vernetzung der Leistungserbringer des Gesundheitswesens und der umgebenden Dienstleisterlandschaft genannt. Diese kann heute in Europa getrost als katastrophal eingestuft werden. Nicht selten ist dabei das Totschlagargument des Datenschutzes ein Vorwand, der wie ein Abwehrschild vor sich hergetragen wird. Und dies, obgleich es schon heute dafür hervorragende, die Bedürfnisse des Datenschutzes berücksichtigende, digitale Lösungen gibt. Die sich in meiner Wahrnehmung ergebende Gesamtsituation lässt sich nach meinem Dafürhalten unschwer als das Ergebnis eines clash of cultures ergebenden Kampfes zwischen analoger und digitaler Welt beschreiben.

Was nun tun? Digilog als profane Lösung jenseits der Ideologie …

Die Lösung ist einfach, wenn auch nicht simpel in der Umsetzung. Die Lösung liegt auch hier und generell in einem Denken, welches ich oben als digilog eingeführt habe, also die hybride Verschmelzung von analogem und digitalem Denken beschreiben möchte. Ähnlich wie beim Grundthema der Ambidextrie gilt es mehrere Bälle in der Luft zu halten statt sich in den Grabenkämpfen eines „entweder oder“ zu verlieren. Plastisch ausgedrückt, gilt es zwei signifikant unterschiedliche Antipoden zu vereinen, auch wenn diese dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die Gegenseite zumeist vollständig ablehnen und zugleich kaum etwas an Wissen über diese mitbringen.

Ich bin mir jedoch sicher, dass dieser Spagat gelingen wird, da er zum einen gelingen muss – der wirtschaftliche Druck ist hoch und wird durch den Eintritt der Babyboomer in das Rentenalter steigen – und er zugleich auch gelingen kann, da der Mensch, so der denn will, auch in vernetzten Strukturen aus Digital und Analog zu denken imstande ist. Es geht nach meinem Dafürhalten also weniger um das Können, denn um die Bereitschaft, den jeweilig bevorzugten Lösungsweg zu verlassen und sich dem Gegenüber anzunähern.

Die Schlüsselbegriffe für eine zukunftsfähige Ausrichtung sind hierbei Logos und Demut bzw. die Bereitschaft, sich dem Diktat des Verstandes und der Menschlichkeit unterzuordnen.








Prof. Dr. Peter M. Bak

Professor für Psychologie | Fresenius University of Applied Sciences | Autor | Speaker

7 Jahre

Aus meiner Sicht geht es nicht um analog oder digital, am Ende zählt nicht der Kanal, sondern der Inhalt bzw. die Frage, wie der Inhalt am besten "rüberkommt". Technologien sind Vehikel, kein Selbstzweck. Es geht nicht um den Markt oder um Konsumentenverhalten, letztendlich geht es doch stets darum, in welcher Welt wir auf welche Weise leben möchten.

René M. Hoelscher

Entrepreneur, Neo-Generalist und Andersdenker, Digitalisierungs-Enthusiast, Start-up-Ambassador, Google-Versteher

7 Jahre

Bodo Antonic Vielen Dank für diesen Beitrag, der wieder einmal den Nagel auf den Kopf trifft! In Zeiten des Bullshit-Bingos mit immer neuen Buzzwords bleibt der gesunde Menschenverstand oftmals auf der Strecke, egal in welchem Bereich. Manchmal (Eigentlich immer) kann es helfen, dass Gehirn einzuschalten und mit dem "selbständigen Denken" anzufangen und nicht unreflektiert jedem Buzzword, das als der neue Heilsbringer gefeiert wird, hinterherzurennen.

Klaus E. Jopp

Leistungsverstärker für Storytelling, Content-Creation, CX-Kommunikation | Ich unterstütze Teams agil, virtuell, persönlich.

7 Jahre

Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir es noch immer mit einer Polarisierung zwischen Analog- und Digtalistenfraktionen zu tun haben. Das Angebot und die Innovationen an digitalen Lösungen und Werkzeugen werden mittel- bis langfristig das „Konsumenten- und Nutzungsverhalten“ verändern. Was Ihre Ausführungen zur Gesundheitsbranche betrifft, fehlt es mir an einer etwas abgestuften Betrachtung. Hier werden massiv digitale Lösungen durch die Pharmaindustrie, Institutionen und Verwaltungen getrieben. Dem kann sich selbst die Praxisgemeinschaft in den Randgebieten nicht entziehen. Die Wirtschaftlichkeit wird entschieden durch den Zeit-, Medikations- bzw. Therapiedruck definiert – Stichwort Gesundheitsreform, Richtlinien Gemeinsamer Bundesausschuss und der ASV. Jede Praxis würde jede verfügbare digitale Lösung sofort einsetzen, wenn sie zu einem guten betriebswirtschaftlichen Ergebnis beiträgt. Unabhängig davon, ob sie einen Patienten-zentrierten Ansatz fährt oder nicht. By the way: die Pläne für die Etablierung Ärztlicher Versorgungszentren zu Ungunsten von Praxisgemeinschaften treibt den Controlling-Ansatz weiter auf die Spitze.

Franz-Peter Staudt

Our goal is to provide innovative solutions for emission-free mobility and neighborhood solutions with hydrogen for all people - worldwide, sustainable, climate-neutral, safe and cost-effective.

7 Jahre

Vielleicht liegt es einfach auch an einer grundsätzlichen Sichtweise, ja ich würde mal Vision sagen (schreiben). Die einen versprechen sich durch "Digitalisierung" Beratungsaufträge und Kosteneinsparungen. Andere hingegen, dass alles so bleibt, wie es ist. Grundsätzliche Veränderungsverweigerer, die es überall gibt, nicht nur im Gesundheitswesen. Wie wäre es mit einer anderen Sichtweise "Menschen ein erfülltes und unabhängiges Leben zu ermöglichen" ähnlich wie Buurtzorg Nederland es macht. Werte, Sinn, Kompetenzen und Menschen stehen im Mittelpunkt und dadurch werden Kosten reduziert? Neben allen technischen Lösungen und Möglichkeiten, die wir nutzen müssen, sehe ich einen weiteren Aspekt, der in der Diskussion nicht genügend berücksichtigt wird. Wo bleibt die Befähigung der Menschen, ob PflegerInnenn oder PatientInnen? In vielen Krankenhäusern ist schon alles so weit wie möglich automatisiert und sie erkennen, dass sie eines vergessen haben. Werte und Kompetenzen aufzubauen, die einen wirklichen Sinn ergeben und damit nicht nur eine besser Pflege und damit Heilung ermöglichen, sondern auch Kosten einsparen. Und ja, ich bin ganz Deiner Meinung, ein sowohl als auch ist notwendig. Das wird eine der größten Herausforderung der nahen Zukunft sein, beides unter einen Hut zu bekommen.

Oliver Marquardt

KMU-Coach / Innovationstrainer / Ethisches Marketing / Digitaldenker / Marketinghilosoph / LinkedInTopVoice 2018

7 Jahre

Es würde doch schon reichen, insgesamt eine offenere Geisteshaltung einzunehmen...denn oft wird von genannten Silberköpfen nicht verstanden, dass man nachhaltige Optimierung für den Markt der Zukunft nicht einfach aus dem Regal digitaler Lösungen kaufen kann. Generell beobachte ich, dass jene Entscheider eh viel zu wenig Zeit für Grundsätzliches in ihrer Entscheidungsfindung haben. Daher findet auch kaum Strategie statt, sondern meist nur Taktik. Meist analog und mit wenig Vogelperspektive. Symptombehandlung halt.

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