Disrupt Reality: uns wird Hören und Sehen vergehen
Wirklichkeit ist da, wo die Weihnachtsplätzchen herkommen. So einfach lässt sich beschreiben, wie wir zwischen der virtuellen Welt des Computers und der realen Umwelt unterscheiden. Wer einen Keks will, muss ihn kaufen oder backen, um die reale Genusserfahrung zu machen. Das wird wohl noch eine Weile so bleiben. Und doch zeichnet sich die größte Betriebsstörung unserer Gewissheiten längst am Wahrnehmungshorizont ab.
Um den genau geht es. Erkennen wir noch, was wirklich ist? Können wir unterscheiden, was real und was virtuell ist, gemacht und gestaltet durch Technik? Wir können es bald nicht mehr. Im Jahr 2017 hat die größte Veränderung unserer Zivilisation begonnen. Die Disruption der Wirklichkeit. Uns wird Hören und Sehen vergehen.
Die kanadische Firma Lyrebird hat sich auf Stimmenimitation durch künstliche Intelligenz spezialisiert. Im Internet kann man ein Gespräch zwischen dem amtierenden US-Präsidenten Donald Trump und seinem Vorgänger Barack Obama hören, in dem die beiden sich über das Unternehmen unterhalten. Täuschend echt, und doch ist kein Satz dieses Gesprächs jemals so gefallen. Jedes Wort entstammt den Rechenkünsten von Algorithmen.
Wissenschaftler bei der US-Firma Nvidia, Spezialist für Computergrafiken, haben dieser Tage gezeigt, wie sich auch die Anschauung der Wirklichkeit manipulieren lässt. Mithilfe künstlicher Intelligenz lassen sich Bilder von Tieren, menschliche Gesichter, Straßenszenen generieren, die es so nie gegeben hat. Machine-Learning-Algorithmen können inzwischen nicht mehr nur Fotos erkennen, sortieren und interpretieren. Sie können sie auch wirklichkeitsgetreu herstellen. Aus Winter wird Sommer, den es so nie gegeben hat. Aus Sonne wird Regen, den es so nie gegeben hat. Der letzte Haltegriff auf der Reise in die Welt der digitalen Schöpfung hat sich gelockert. Auf die Frage des Philosophen Paul Watzlawick, „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, haben wir keine Antwort mehr.
Das ist mehr als eine Variante von „Fake News“, die als Thema das Jahr 2017 geprägt haben. Wenn das reale Hören und Sehen unzuverlässig wird, weil der Computer in optischer und akustischer Perfektion seine eigenen Wirklichkeiten produziert, dann ändert sich unser Verhältnis zur Realität. Ich schreibe hier über diese Veränderung in dem Wissen darum, dass es in meinem Leben über Jahrzehnte eine Realität gegeben hat, die nicht aus dem Computer kam. Spätere Generationen wachsen mit algorithmischen Wirklichkeiten auf. Warum sollen sie noch unterscheiden lernen, was als Unterschied nicht mehr existiert?
Wenn es keine verlässlichen realen Erfahrungen mehr gibt, die man hören und sehen kann, dann existieren alle Variationen einer möglichen Welt immer gleichzeitig und als Freiwild auf der Jagd nach der Deutungshoheit. Denn wo die Wirklichkeit hinter den Datenpunkten verschwindet, da löst sich auch das Vertrauen in die Wahrheit auf. Realität wird künftig ein Betaprodukt im permanenten Wettbewerb technischer Simulationen. Wahr ist nicht, was ist, sondern was sich in der digitalen Inszenierung durchsetzt. Wahr ist nicht, was in den digitalisierten Archiven verzeichnet ist, denn auch deren Realität lässt sich täglich neu schreiben. Wir treten dann ein in ein Quantum-Zeitalter, in dem die Realität zur selben Zeit verschiedene Zustände haben kann. Man muss sich nur noch aussuchen, welchen man gerade für sich nutzen möchte.
Vor 20 Jahren hat die US-Psychologin Sherry Turkle in ihrem Buch „Leben im Netz“ den schleichenden Anfang dieser Entwicklung beschrieben. Ihre Untersuchung, wie Jugendliche den Computer nutzen, ist ein Klassiker über Identität im Internet. „Das reale Leben ist nur ein Fenster von vielen“, sagt da ein Collegestudent, „und es ist wohl nicht mein bestes.“ Wo digitale Wirklichkeitsentwürfe schöner, besser und leichter zu handhaben sind, wird Realität zu einer Zumutung, mit der man sich nur ungern herumschlagen mag.
Die nächste technologische Zündstufe unserer Zivilisation eröffnet einen großen Markt der Selbst- und Fremdoptimierung. Ein Riesengeschäft, aber auch Bedrohung für alles, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Die Wahrheit gehört dann immer dem Marktführer, wenn auch nur für kurze Zeit. Jede Option ist ein Fenster zu einer anderen Wirklichkeit. Wer sich auf die Suche nach der einen, eigenen Realität machen will, verläuft sich in einem Spiegelkabinett konkurrierender Verzerrung. Das Leben wird ein vielfach gebrochenes Display. Unverbindlich und lähmend in seiner ewigen Vieldimensionalität.
Übersetzer - Traduttore (Freelance)
6 Jahre..... erschreckend. Ich möchte heute kein Jugendlicher oder Kind mehr sein. Persönlich bin ich der Ansicht, zu den "Bevorzugten" zu gehören, in den 1950er Jahren geboren und in den 1970er Jahren jung gewesen zu sein..... Die jungen Menschen heute kennen es nicht anders, aber ich finde, ihnen ist mehr genommen als gegeben worden.
Steinbildhauerei und Comics
6 JahreIhre Bedenken teile ich, Frau Meckel. Wenn Kinder und Jugendliche sich mit Computerspielen wie SIMS Menschen, Freunde, eine Umgebung, ein Leben zusammen bauen, befürchten viele, dass das die Flucht aus der Realität fördert. Eine Gefahr ist das schon. Andererseits: Indem sie selbst Wirklichkeiten bauen, erleben sie aus erster Hand, dass das alles "gemacht" ist und nicht "wirklich". Könnte Ansatzpunkt zu einer kritischen Haltung zu virtuellen Realitäten sein. Programmieren muss Pflichtfach werden in den Schulen. Außerdem: solche starken Werkzeuge können der Kreativität einen ungeheuren Energieschub geben. (Ich warte allerdings noch auf Spiele, die nicht so viel vorgeben, mir sehen die Menschen und Umgebungen oft noch viel zu ähnlich aus.) Wer weiß denn, ob unsere Kinder nicht vielleicht mal auf die Idee kommen, dass unsere Welt doch viel schöner sein könnte. Dafür müssen sie die Schönheiten der Welt, die es noch gibt, allerdings kennen und erleben. Wir sind dafür verantwortlich, sie zu erhalten. Und könnte doch auch sein, dass sie das, was sie sich da ausdenken, später mal in die Realität umsetzen wollen. Jemand was dagegen?
COMPLEX PROJECTS with FUN and ROCK 'N' ROLL!
6 JahreEin guter Hinweis auf Chancen aber auch Gefahren virtueller Realität. Die Herausforderung, das Gegenüber, den Geschäftspartner, den Freund, den Schimpfenden auf der Strasse, den LAP und seine momentane Realität zu verstehen, wird aber auf jeden Fall weiter bleiben! Eine Konstante, der zwischenmenschliche Austausch und das „richtige“ Verstehen der Realität des Gegenübers.
Innovation und Achtsamkeit
6 JahreDanke schön für diesen erhellenden und Bewusstsein- erweiternden Beitrag. Interessant finde ich, dass das Internet und die Technik immer wieder und immer präziser zeigen, was die Quantenforscher, Pilosophen und spirituellen Meister schon lange sagen und sich fragen. Was ist Realität und wie entsteht diese? Die Realität wird durch unser Bewusstsein geschaffen. Alles existiert gleichzeitig. Es existieren parallele Universen, ...
Privater Berater im Ruhestand
6 JahreJa es gab diese Disruption, in der Krise des neuen Marktes.Eine Zeit in der jeder, der fehlerfrei eine Tabelle erstellen konnte oder ein Bildchen am Computer malte, meinte auf dem Weg zum Weltunternehmen zu sein. Es wurde viel echtes Geld verbrannt und hat wirklich viele Unternehmen zerrissen. Heute dümpeln, bis auf die Marktführer, die meisten im digitalen Haifischbecken wissen nicht wie überleben sollen. Da kommt doch jede Panik erzeugende Meldung, dass, wer jetzt nicht sofort handelt, schon morgen im großen analogen Gully landet doch gerade recht. Egal um was es sich handelt, es muss digitalisiert werden. Dumm das vieles bereits längst passiert ist, und anderes einfach nur Blödsinn ist. Oder haben sie schon mal einen Roboter die verstopfte Toilette reinigen sehen. Es wird immer Dinge geben die so analog sind wie wir selbst, und anderes wage ich mir gar nicht vorzustellen. Pflegeroboter die uns Einläufe und Blasenkatheter verpassen. Nur noch do it your self Erotik aus den Internet. Die Zeugung mit genetisch reinem Material auf Bestellung bei " wir machen deine Kinder.de ". Und zum Schluss räumt der Entsorgungsservice auch die tote Oma ab. Ich glaube es wird Zeit mal etwas auf die Bremse zu treten und wieder realistisch zu werden. Und auch mal wieder Ethik und moralische Verpflichtung in die Pflichtenhefte zu schreiben.