Dorothee Bär: “Es reicht nicht, jedem Kind ein Tablet in die Hand zu drücken”
Interview von Sara Weber und Jakob Schulz
Digitalstaatsministerin Dorothee Bär empfängt in ihrem Büro im Bundeskanzleramt in Berlin. Aus dem Fenster schaut sie auf den Hauptbahnhof, im Regal steht eine Büste von CSU-Legende Franz Josef Strauß, auf einem Stuhl liegt ein Fanschal des FC Bayern München. Als Staatsministerin soll die 41-Jährige die Digitalisierung in Deutschland voranbringen. Im LinkedIn-Interview spricht sie über ihren Job, Ängste vor digitalen Neuerungen, wie sich Schulen ändern müssen – und warum sie nichts von Frauenförderung hält.
LinkedIn: Frau Bär, Sie sind Staatsministerin für Digitalisierung. Wie erklären Sie den Menschen in Ihrem Wahlkreis den Job?
Dorothee Bär: Das Schwierige ist nicht der Titel, sondern dass sich unter dem Thema Digitalisierung jeder etwas anderes vorstellt. In Deutschland sind viele Menschen noch der Meinung, dass Digitalisierung ausschließlich Breitbandausbau ist – oder dass Funklöcher mangelnde Digitalisierung bedeuten. Entscheidend ist deshalb nicht, meinen Job zu erklären, sondern den Menschen zu sagen, wo Digitalisierung ihr Leben schon jeden Tag beeinflusst, ob das in der Mobilität ist, in der Gesundheit oder in der Bildung.
Sie haben einmal gesagt, dass Digitalisierung immer noch eher technisch behandelt wird und zu wenig gesellschaftspolitisch. Oft ist die Rede von Ängsten oder einer digitalen Spaltung in der Gesellschaft. Wie repariert man diese Spaltung?
Ich würde eine Spaltung nicht herbeireden. Die Digitalisierung läuft in den Städten nicht per se hervorragend und auf dem Land schlecht und genauso wenig sind alle Jungen digital natives und die Älteren sind abgehängt. Und oft sind die Ängste auch diffus. Viele Menschen haben zwar beispielsweise Angst, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Wenn man sie aber konkret nach ihrer persönlichen Lebenssituation fragt, ob sie in ihrem Job seit Jahren exakt das gleiche tun, dann sagen sie, nein, meine Tätigkeit hat sich gewandelt. Nicht über Nacht, sondern in einem Prozess. Hinzu kommt, dass durch die Digitalisierung viel mehr neue Jobs entstehen, als dass alte verloren gehen.
Die wichtigeren Fragen sind: Freue ich mich auf die Zukunft? Habe ich das Gefühl, dass in unserem Land noch Innovationen entstehen können? Unsere Großeltern sagten immer, dass es ihren Kindern mal besser gehen solle. Diesen Anspruch haben wir heute bei Weitem nicht mehr. Momentan ist der Anspruch in der Gesellschaft eher: Hoffentlich geht es uns und unseren Kindern mal nicht schlechter.
Wir müssen mehr Vertrauen in die Zukunft haben.
Glauben Sie, unseren Kindern könnte es noch besser gehen als uns heute?
Ich möchte, dass es meinen Kindern zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung besser geht. Dass Künstliche Intelligenz bei Diagnosen unterstützt. Das ist mein Anspruch: Wir müssen mehr Vertrauen in die Zukunft haben.
Wie schafft man das konkret? Wie ersetzt man Ängste durch Optimismus?
Im Idealfall könnten wir jedem Menschen in Deutschland je nach Alter, Gesundheit und persönlicher Situation sagen, welche Vorteile er oder sie ganz konkret durch Digitalisierung haben wird. Die Bedürfnisse sind ja komplett unterschiedlich: Wer mit dem Auto in die Arbeit pendelt, freut sich vielleicht, wenn er mit selbstfahrenden Autos nie wieder einen Parkplatz suchen muss. Wer nie Auto fährt, verspürt hier hingegen möglicherweise nur Bedenken. Oder Eltern chronisch kranker Kinder zum Beispiel haben oft ein viel größeres Vertrauen in medizinische Forschung und Entwicklung.
Kann Deutschland bei der Kommunikation hier von anderen lernen?
Ich hasse es zwar, wenn Estland-Vergleiche kommen, weil Estland kaum mit der Bundesrepublik vergleichbar ist. Trotzdem gefällt mir an Estland eines, was mit Digitalisierung indirekt zu tun hat: Dort gehen Verantwortliche regelmäßig selbst in kleine Dörfer, nehmen den Menschen die Ängste und schulen sie in digitalen Technologien. Das können wir zum Beispiel auch durch unsere Mehrgenerationenhäuser leisten.
Kinder werden möglicherweise von Lehrer*innen am besten erreicht. Derzeit läuft digitale Bildung in Schulen noch nicht besonders strukturiert, sondern geschieht eher nebenbei. Wie bewerten Sie das?
Das Thema interessiert mich nicht nur als Politikerin, sondern auch und gerade als Mutter dreier schulpflichtiger Kinder. In einer Mädchen-Realschule in Oberbayern, deren Schirmherrin ich bin, ist das so: Da kann jedes einzelne Mädchen, das nach der zehnten Klasse mit der Mittleren Reife abschließt, programmieren. Jedes einzelne. Warum? Es gibt eine sehr engagierte Rektorin, einen ganz großartigen Fachbetreuer, jede Schülerin muss programmieren – und jede kann es auch. In der benachbarten Realschule sieht das ganz anders aus. Das heißt, wir haben gar keine Kluft zwischen den Bundesländern, sondern eher zwischen Orten, Schulen, oder sogar einzelnen Klassen. Das können wir uns in einem Land, in dem der Rohstoff Geist für unser Wachstum und unseren Wohlstand sorgt, nicht leisten.
Eltern sind oft die größten Bedenkenträger. Die schreiben einem dann: ‘Wlan ist das neue Asbest.’
Digitale Bildung hängt in Deutschland also vom Engagement der einzelnen Lehrer*innen ab?
Es hängt sehr stark von der Leidenschaft einzelner Personen ab, von einzelnen Lehrerinnen und Lehrern. Hier im Bundeskanzleramt habe ich einmal eine Bildungskonferenz veranstaltet, mit Rektoren und Lehrkräften und vor allem auch Eltern. Eltern sind oft die größten Bedenkenträger. Die schreiben einem dann: ‘Wlan ist das neue Asbest.’ Oder: ‘Mein Kind bekommt erst mit 18 so ein Gerät.’ Oder: ‘Frau Bär, mein Kind muss auf Bäume klettern und soll kein Tablet in der Hand haben.’
In Deutschland gibt es oft nur entweder oder. Man kann entweder auf Bäume klettern oder ein Tablet in die Hand nehmen. Es geht nie beides. Und dann gibt es furchtbare Menschen, die mit der Angst der Eltern Geschäfte machen und die Bestsellerlisten dominieren. Und das ist schwierig! Auf dem Nährboden von Angst gedeihen keine Innovationen.
Foto: Adam Berry/Getty
Was tun Sie für guten Digitalunterricht?
In meinem Innovation Council war Bildung eines der ersten Themen. Im Council sitzen Unternehmer, Startups, die Bundesregierung, und wir hatten alle das Gefühl: Wenn wir bei der Bildung nicht schnell vorangehen, ist es zu spät. Mit dem Digitalpakt Schule steckt der Bund nun fünf Milliarden Euro in die digitale Bildung. Aber im Innovation Council haben wir gesagt, es reicht nicht, jedem Kind einfach ein Tablet in die Hand zu drücken. Wir wollen deshalb verschiedene Schularten in Deutschland in unterschiedlichen Bundesländern von A bis Z durchdigitalisieren, mit Hardware, leitungsgebundenem Internet, Wlan, Geräten, Software, Inhalten. Wir nennen diese Initiative Kl@ssenzimmer. Auch die Lehrerbildung ist wichtig, die Schulbuchverlage sind eingebunden. Und die Frage, in welchen Fächern digitale Werkzeuge wie eingesetzt werden können – und wo muss man über neue Fächerkombinationen und neue Fähigkeiten nachdenken, wie können Schülerinnen und Schüler kollaboratives Arbeiten lernen oder neue Formen der Projektarbeit, und so weiter.
Quasi als Leuchtturmprojekte?
Unser Ziel ist es eine Blaupause zu schaffen, so viel kostet die Digitalisierung einer Schule ungefähr. Denn bislang gibt es keine Erfahrungswerte was es kostet, eine Schule komplett zu digitalisieren.
Ich sage den Schulen und Lehrkräften immer: Macht‘s einfach. Das ist der amerikanische Ansatz: Do it now, feel sorry later. Also einfach mal machen, später entschuldigen.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie von Lehrkräften?
Ich spüre immer wieder, dass sich viele motivierte Lehrerinnen und Lehrer alleingelassen fühlen. Viele, bei denen es gut läuft, halten sich nicht an die Vorgaben ihres Kultusministeriums, denn sonst würde sich gar nichts bewegen. Ich sage den Schulen und Lehrkräften immer: Macht‘s einfach. Das ist der amerikanische Ansatz: Do it now, feel sorry later. Also einfach mal machen, später entschuldigen.
Wie sieht guter digitaler Unterricht in der Praxis denn ganz konkret aus?
Ich habe zum Beispiel schon an vielen Grundschulen in der ersten Klasse Scratch (eine visuelle, bildungsorientierte Programmiersprache; Anm. d. Redaktion) eingeführt. Was machen die Kinder da? Sie programmieren sich gegenseitig: ein Kind ist der Roboter, ein Kind ist der Programmierer. Mithilfe von Calliope Mini (eine Platine, die für Bildungszwecke entwickelt wurde; Anm. d. Redaktion) lernen sie, wie ein Kreislauf funktioniert. Sie halten sich an den Händen, einer lässt los und das Licht leuchtet nicht mehr. Ganz spielerisch. Ich erreiche damit vor allem auch junge Mädchen. Man muss in der ersten Klasse anfangen, weil dann noch alle Kinder die gleiche Begeisterung haben, die gleiche Leidenschaft. Der frühe Ansatz ist gerade für Mädchen wichtig.
Wie kann es gelingen, mehr Mädchen für naturwissenschaftliche Themen zu begeistern?
Es gab vor ein paar Jahren mal Aufregung um T-Shirts für Mädchen, auf denen stand ‘In Mathe bin ich nur Deko’. Das darf nicht sein! Es ist heutzutage leider völlig in Ordnung, zu sagen, dass man total schlecht in Mathematik war. Aber niemand würde zugeben, schlecht in Deutsch gewesen zu sein. Alles, was mit Technik und MINT-Fächern zu tun hat, muss attraktiver für Mädchen werden. Ich habe einmal eine Spieleentwicklerin kennengelernt, die hatte ein T-Shirt an, auf dem stand: ‘Girls love math’. Das sage ich meinen Töchtern auch immer: Mädchen lieben Mathe. Dann sagen die: Mama, wir lieben Mathe gar nicht. Dann sage ich: Doch, ihr liebt Mathe! Und das macht etwas mit einem. Vorbilder sind auch wichtig – das sehen wir in der Politik: Ich selbst kannte nur 16 Jahre Helmut Kohl als Kanzler. Heute haben Grundschulkinder nie eine andere Kanzlerin erlebt als Angela Merkel, also weiß jedes Kind, dass auch Frauen den Job machen können. Überspitzt gesagt: In Deutschland kann sich kein kleines Kind vorstellen, dass auch ein Mann Kanzler werden kann (lacht).
In technischen Berufen gibt es vergleichsweise wenige Frauen, aber auch in Führungspositionen über alle Branchen hinweg. Was muss sich für die Frauenförderung tun?
Ich würde schon mal nicht von Frauenförderung sprechen, weil ich finde, das klingt immer nach einer Rasse im Zoo. Frauen brauchen keine besondere Förderung, sondern einfach Chancengerechtigkeit. Für mich ist die Vereinbarkeit von Familie und Karriere die relevante Frage – und Karriere ist hier das entscheidende Wort. Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht irgendwie immer. Wenn auch oft mühsam. Es ist immer möglich, zweimal die Woche zwei Stunden irgendwo zu arbeiten. Karriere ist aber etwas anderes: Das Gefühl zu haben, dass Arbeit mehr ist als reines Geldverdienen, sondern auch etwas Sinnstiftendes, Teil der Gesellschaft zu sein. Und daran müssen wir arbeiten – nicht nur an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Titelbild: Staatsministerin Dorothee Bär in Berlin (Bundesregierung/Jesco Denzel)
Was sagen Sie zu Dorothee Bärs Einschätzungen zu digitaler Bildung, zur Frauenförderung, zu digitalen Ängsten? Schreiben Sie Ihre Meinung in die Kommentare und diskutieren Sie mit.
retired - uci - commissaire - engineering and civil industries
4 JahreManche verstehen diese Diskussion - manche nicht - das kann vorkommen, aber ... ... was nicht vorkommen sollte ist: - auf mit Fakten begründete Kritiken wie Hinweise werden von den Angesprochenen ohne Reaktion - gehen die Argumente aus oder waren es nuch Tester für die allgemeine Meinung oder sind sie angesichts der immensen Aufgabe und der angedeuteten Problematik überfordert oder reden sie tatsächlich nur miteinander ? - Anmerkungen zu Kommentaren, die nicht das füsseküssende Einverständnis darstellen nicht kommentiert werden - das Positive ist unbedingt: die Tatsache, dass es keinerlei Beschimpfungen wie in anderen Chats gibt - danke dafür allen. Das sollte weiter vorkommen.
retired - uci - commissaire - engineering and civil industries
5 JahreDa bin ich fast 100 % bei Dir. Ich würde gern noch ergänzen wollen, dass, was es auch immer aus dem IT-Bereich ist, keiner der User wissen muss, wie die Bit´s durch die Platinen "latschen", es muss so sein, dass es jeder in seinem Fachgebiet ohne vertiefendes IT-Weiterbildung seinen Job erledigen mit seinen Fachkenntnissen. Das müsste mal jemand den IT-Experten und denen die alles drumherum schaffen müssen als Voraussetzung so sagen, dass die auch das normale deutsch 1.0 verstehen.
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5 JahreFrau Bär´ das brauchen Sie auch gar nicht´ da heute die 3-jährigen schon mit einem Tablet in der Hand herumspielen ! ´Die Aufgaben die die BRD zu allererst erledigen muss´ sind ganz simpel ! Erst einmal die Voraussetzungen für die Digitale Zukunft für jedermann schaffen ... nämlich das der Zugang bei jedem Haushalt in der Qualität und Verfügbarkeit gewährleistet ist ... das man das Medium überhaupt sinnvoll nutzen kann !! Da sprechen alle von 5G ... obwohl noch nicht einmal der alte Standard 4G überall vorhanden ist !! Wie soll das gehen ??? ´Und die staatlichen Einrichtungen so etwas wie Digitalisierung für die Dienste an Ihren Bürgern´ noch gar nicht richtig auf dem Schirm haben´ bzw. diese gar nicht bieten kann´ ! Wieso klappte das in Schweden und Estland ohne große Übergangszeiten ! Da haben Sie es eben gemacht und sind es rigoros angegangen ... zum Wohle der Allgemeinheit ! ´´Aber das Wohl der Allgemeinheit scheint in Deutschland nicht mehr auf der obersten Agenda zu stehen´´ ! ´´ Bemerkenswert ist eigentlich´ das unsere Volksvertreter immer noch nicht begriffen haben´ das Deutschland schon längst auf dem absteigenden Ast ist´´ !
Produktionstechniker bei Carl-Severing-Kollegschule Bielefeld
5 Jahre„Das heißt, wir haben gar keine Kluft zwischen den Bundesländern, sondern eher zwischen Orten, Schulen, oder sogar einzelnen Klassen. Das können wir uns in einem Land, in dem der Rohstoff Geist für unser Wachstum und unseren Wohlstand sorgt, nicht leisten.“ Das kann ich nur voll unterstützen. Und auch dem Weiterbildungssektor für Erwachsene bekommt einen hohen Stellenwert!