Ein Jahr Zeitenwende
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Ein Jahr Zeitenwende

Die Welt ist nicht mehr dieselbe seit Russland vor einem Jahr die Ukraine überfiel. Der Angriffskrieg läutete eine Zeitenwende für Deutschland und Europa ein. Die IGBCE zieht Bilanz und blickt auf die Folgen für unsere Branchen, Energie und Geflüchtete.

Als Russland vor einem Jahr, am frühen Morgen des 24. Februar 2022, die Ukraine angriff, veränderte sich das Leben von Lyudmyla Volynets grundsätzlich. Die 39-Jährige war mit ihrem Mann gerade für ihren Job als Fachsekretärin in der Abteilung Gute Arbeit und Betriebspolitik in der Hauptverwaltung der IGBCE nach Hannover umgezogen. Doch mit Kriegsbeginn wurde sie zur Flüchtlingshelferin, Gastgeberin und Bezugsperson für rund zwei Dutzend Verwandte und Freunde, die im Zuge des Krieges in Deutschland Schutz suchten. Zeitweise bot sie neun Personen in ihrer Wohnung Zuflucht. »Ohne die Unterstützung der Gewerkschaft, Kolleginnen und Kollegen hätte ich das nicht geschafft«, sagt die gebürtige Ukrainerin heute.

Für Volynets war der russische Überfall auf die Ukraine ein ganz direkter, persönlicher Einschnitt. Für Deutschland, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz nur wenige Tage nach Kriegsbeginn, bedeute der Angriff eine »Zeitenwende«. »Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor«, so der Kanzler am 27. Februar 2022. Der Begriff Zeitenwende prägte in den vergangenen Monaten den öffentlichen Diskurs in Fragen der internationalen Weltordnung, der Wirtschaft, der Energieversorgung, aber auch in Bezug auf die Ausstattung der Bundeswehr oder Waffenlieferungen. Denn tatsächlich änderte sich die Welt, wie wir sie kennen, sehr plötzlich und gründlich. »Zeitenwende« wurde nicht ohne Grund zum »Wort des Jahres 2022«.

ENTLASTUNGEN FÜR HUNDERTTAUSENDE BESCHÄFTIGTE

Rund eine Million Menschen flohen seit Kriegsbeginn aus der Ukraine in Richtung Deutschland. Massive internationale Sanktionen wurden gegen Russland verhängt, Gaslieferungen von Russland nach Deutschland erst gedrosselt, dann ganz eingestellt, seit Anfang 2023 gilt zudem ein Embargo gegen russisches Öl. Lieferketten wurden überdehnt oder rissen, Unternehmen drosselten ihre Produktion, ganz Deutschland diskutierte über die Füllstände von Gasspeichern und denkbare neue Lieferanten, über Flüssiggas und LNG-Terminals, über Möglichkeiten, in Haushalten und Unternehmen Energie einzusparen. Die Energiepreise stiegen in ungekannte Höhen, auch Lebensmittel verteuerten sich enorm. Knapp acht Prozent betrug die Inflationsrate 2022 im Jahresdurchschnitt – der höchste Wert seit Gründung der Bundesrepublik. In manchen Monaten lag die Teuerungsrate sogar im zweistelligen Bereich.

Die Herausforderungen waren und sind enorm. Die meisten Bürgerinnen und Bürger ächzen unter den hohen Preisen, energieintensive Industrien ebenso. Der Transformationsdruck auf deutsche Unternehmen erhöhte sich drastisch; Unabhängigkeit von russischem Gas ist nun das oberste Gebot. Die Politik organisierte schnelle Hilfen, etwa mehrere Entlastungspakete mit einem Gesamtvolumen von rund 100 Milliarden Euro, die Preisbremsen für Gas und Strom, das tarifliche Inflationsgeld von bis zu 3000 Euro – diese Maßnahmen tragen alle auch die Handschrift der IGBCE, die sich in Berlin gemeinsam mit den DGB-Schwestergewerkschaften massiv für breitflächige Unterstützung und Entlastungen eingesetzt hat. Das zeigte Wirkung: Die massiven Kostensteigerungen bei den Gas- und Strompreisen beispielsweise werden beim Zusammenwirken von Energiepreisbremsen und tariflichem Inflationsgeld für eine IGBCE-Durchschnittsfamilie ausgeglichen.

Die Gefahr ist aber noch nicht vorüber, auch nicht für die deutsche Industrie. Vor allem energieintensive Branchen aus dem Wirkungsbereich der IGBCE wie die Chemie leiden weiter, viele Betriebe haben ihre Produktion gedrosselt oder Maschinen sogar zeitweise abgestellt. Das Prinzip »Wollsocken an, Heizung aus, Gas sparen« funktioniert nicht so einfach bei der Fertigung von Glas oder Keramik. Anlagen können nicht nach Belieben ab- und wieder eingeschaltet werden.

»Die zweite Jahreshälfte hat uns vor große Herausforderungen gestellt«, fasst Marco Hucklenbroich zusammen, Betriebsratsvorsitzender von INEOS in Köln. Das Chemieunternehmen hat seine Produktion wegen der Gaspreise und Lieferschwierigkeiten in vielen Bereichen drosseln müssen – die Auslastung fiel zwischenzeitlich auf unter 30 Prozent. »Wenn man zur Arbeit kommt und das Rauschen der Anlagen nicht mehr hört, ist das verunsichernd. Die Leute sind besorgt.« Das spiegelt auch eine branchenübergreifende Umfrage der IGBCE wider: Nahezu jeder Zweite gab im Herbst an, sich große oder sehr große Sorgen um den Job zu machen. Jeder Vierte berichtete von Produktionsrückgängen im eigenen Betrieb.

In der Chemiebranche — dem drittgrößten Industriesegment in Deutschland – haben bereits 40 Prozent der Unternehmen ihre Produktion gedrosselt oder stehen kurz davor. Die Gesamtproduktion schrumpfte im vergangenen Jahr um zehn Prozent, ergab eine Umfrage des Branchenverbandes VCI. Jedes zweite Mitgliedsunternehmen berichtete laut einer Erhebung im November von Lieferschwierigkeiten. Es fehlt an Pigmenten, Carbon- und Glasfasern, Salzsäure, Natronlauge, technischem CO₂, organischen Silikonverbindungen oder Eisenchlorid. Der Mangel führt dazu, dass erste Wertschöpfungsketten reißen.

»Es ist günstiger, Ammoniak in Schiffen über den großen Teich zu schippern, als selbst zu produzieren.«

Marco Hucklenbroich, INEOS-Betriebsratsvorsitzender

Beispiel Ammoniak: Der Grundstoff wird für Düngemittel und etliche technische Kunststoffe gebraucht. Aber die Produktion ist hierzulande zu teuer geworden, Gas macht etwa 80 Prozent der Herstellungskosten aus. BASF und INEOS setzen die Herstellung seit Monaten aus, stattdessen wird im Ausland zugekauft. »Es ist günstiger, Ammoniak in Schiffen über den großen Teich zu schippern, als selbst zu produzieren. Damit schafft man den Industriestandort Deutschland ab und macht sich abhängig von anderen«, moniert Hucklenbroich.

Problematisch ist diese Entwicklung aus verschiedenen Gründen. So wird Ammoniak als chemischer Grundstoff für etliche weitere Produkte verwendet – wie für AdBlue. Der Dieselreiniger besteht zu einem Drittel aus Harnstoff, der durch die chemische Reaktion von Ammoniak und Kohlendioxid hergestellt wird. Als die AdBlue-Produktion in den Stickstoffwerken Piesteritz für drei Wochen zum Erliegen kam, war der Zusatzstoff zeitweise schwer verfügbar und brachte die Republik in Aufruhr: Ohne AdBlue fahren keine Lkw, und ohne Lkw würden die Regale im Supermarkt leer bleiben.

Die Einstellung der Ammoniakproduktion hat aber noch weitere Folgen. Sie ist zum Beispiel Bindeglied der Wertschöpfungskette des Verbundstandortes Köln: In drei Crackern werden normalerweise unter starker Hitzeeinwirkung Rohbenzin (Naphtha) oder Butan in chemische Grundbausteine zerlegt. Diese Produkte werden von Folgeanlagen abgenommen, die zusätzlich Ammoniak benötigen. Der Produktionsstillstand der Ammoniakanlage beeinflusst daher die Gesamtlast des ganzen Standortes. Auch deshalb laufen zwei der Cracker mit geringerer Auslastung, ein Ethancracker ist ganz abgeschaltet.

Die Gaspreisbremse helfe der Industrie zwar dabei, wieder wirtschaftlicher zu kalkulieren. Doch »die Umsetzung der guten Vorschläge der Gas-Kommission im Oktober ist zu einem Bürokratie-Monster verkommen«, urteilt Hucklenbroich, »obwohl doch ein großer Topf zur Verfügung steht, um der Wirtschaft zu helfen. Mit der aktuellen Ausgestaltung werden viele Unternehmen diese Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen.« Sorge bereite ihm auch das Szenario der Gasmangellage. »Wenn man nur noch eine gewisse Menge Erdgas beziehen kann – reicht das beispielsweise, um eine Produktionsanlage in Betrieb zu nehmen?« Weitere Unsicherheit brächten die Lastabwurfpläne der Versorger: »Es ist völlig unklar, an welcher Stelle die Konzerne stehen. Es muss klare, transparente Regularien geben.«

»Die Sorgen, die wir zu Beginn dieser Zeitenwende hatten, haben sich ein Stück weit beruhigt.«

Oliver Henn, Schott-Betriebsrat

Eine mögliche Mangellage beunruhigt auch die Glasindustrie. Sie hätte für viele Betriebe einen Produktionsausfall zur Folge. Der Mainzer Spezialglashersteller Schott hat bereits vor Ausbruch des Krieges einen Großteil des benötigten Gases für die kommenden Jahre eingekauft. Außerdem »nehmen wir diese Woche unsere Propangasanlage in Betrieb«, sagt Betriebsrat Oliver Henn. »Damit würden wir in einer Gasmangellage behelfen, die Produktion weiterhin aufrecht zu erhalten.« Dank vorausschauender Planung navigiere Schott bisher ganz gut durch die Krise: »Die Sorgen, die wir zu Beginn dieser Zeitenwende hatten, haben sich ein Stück weit beruhigt. Wir sind ganz gut durchgekommen, ohne Kurzarbeit. Aber natürlich herrscht trotzdem eine Unsicherheit, was das Jahr bringt.«

Ähnlich ist es bei Kunststoff, Kautschuk und Papier – die Auswirkungen der Gaspreiskrise ziehen sich quer durch die industriellen Branchen. Allerdings sind sie nicht verallgemeinerbar. »Es ist Managementaufgabe, sich langfristig mit Verträgen zur Gasversorgung abzusichern. Wer das gemacht hat, übersteht die Zeit ganz gut, wer nicht, muss vielleicht eher mal Maschinen abstellen«, erklärt Dr. Matthias Opfinger, Industriegruppensekretär in der Abteilung Wirtschafts- und Branchenpolitik der IGBCE. Wenn die Energiekosten in anderen Teilen der Welt, beispielsweise den USA, nach wie vor günstig bleiben und der Gaspreis hierzulande nicht signifikant sinkt, drohen langfristig Produktionsverlagerungen und Standortschließungen. »Darum muss die Politik dafür sorgen, dass wir hier eine verlässliche Versorgung haben. Das ist wichtig im Wettbewerb mit den anderen Nationen und treibt uns nach wie vor um«, so Schott-Betriebsrat Henn.

Um nötige Anreize für ökologisch tragfähige Investitionen und den Erhalt von Arbeitsplätzen zu schaffen, verlangt die IGBCE daher nach einer rundum neu entwickelten Industriepolitik für Deutschland und Europa. Nur so können weitere Abwanderungen etwa nach China oder in die USA verhindert werden. »Es ist Aufgabe der Politik dafür zu sorgen, dass es auch für kleine und mittlere Unternehmen rentabel ist, ihre Industrieproduktion weiterhin in Deutschland aufrecht zu erhalten und auszuweiten«, betont der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis.

STRESSTEST FÜR DIE BRANDENBURGISCHE RAFFINERIE PCK

Mit einem anderen Aspekt der Zeitenwende ringt die brandenburgische Raffinerie PCK: Seit 1963 wurde die PCK in Schwedt – Nachfolgerin des volkseigenen DDR-Betriebs – über die Pipeline »Druschba« (russisch für Freundschaft) mit russischem Rohöl versorgt. Allerdings beschloss die EU ein Embargo für Öl-Lieferungen per Schiff. Deutschland und Polen vereinbarten zudem, dass auch auf dem Landweg kein Öl mehr fließt. Für Schwedt wird das zum Stresstest.

»Für uns war klar, dass es Alternativen für den Erhalt von PCK geben muss.«

Rolf Erler, Leiter des IGBCE-Bezirks Berlin-Mark Brandenburg

Wegen des Embargos kommt seit Januar 2023 nun kein russisches Öl mehr bei der PCK an. »Für uns war klar, dass es Alternativen für den Erhalt von PCK geben muss«, sagt Rolf Erler, Leiter des IGBCE-Bezirks Berlin-Mark Brandenburg. In Schwedt steht eine von nur zwei ostdeutschen Rohölraffinerien. Etwa zwölf Millionen Tonnen Rohöl flossen pro Jahr dorthin. Daraus stellt PCK unter anderem Kraftstoffe, Heizöl und Kerosin her; weite Teile des Nordostens sind von den Treibstoff-Lieferungen der PCK abhängig. »Druschba« war 60 Jahre lang die Lebensader für den Industriestandort.

Allerdings schrumpfte die Belegschaft der Raffinerie bereits nach dem Ende der DDR von 8600 Beschäftigten drastisch. Heute arbeiten dort noch knapp 1200 Beschäftigte, darunter fast 90 Auszubildende. Mit dem Ölembargo brach wieder eine Zeit der Existenzangst an. Fast 40 Mitarbeitende kündigten danach, so viele wie in keinem Jahr zuvor. Auf der Belegschaft lastete enormer Druck, Beschäftigte und Bevölkerung machten in Schwedt in Protesten ihren Sorgen Luft. »Wir haben immer wieder versucht, das aufzufangen und zu kanalisieren«, berichtet Erler. Es folgten hochrangige Besuche von Bund und Land. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck war in Schwedt; im September kam Bundeskanzler Olaf Scholz. Schrittweise zeichnete sich ein Plan ab: Rohöl kaufen die PCK-Eigentümer außerhalb Russlands auf dem Weltmarkt; geliefert wird über Rostock und Danzig. Auch Öl aus Kasachstan soll in diesem Jahr fließen. Begleitet wird das von einem mehrere hundert Millionen Euro umfassenden Zukunftspaket für den Wirtschaftsstandort und einer Jobgarantie des Bundes: Zwei Jahre lang darf es keine betriebsbedingten Kündigungen bei PCK geben.

Die Neuausrichtung des Standorts folgt einer Vision. IGBCE-Chef Michael Vassiliadis betonte bei seinem Besuch im November zwei Punkte. Erstens: »Niemand verliert hier seinen Arbeitsplatz. Das würden wir als Gewerkschaft nicht akzeptieren.« Zweitens: Die Region könne zu einer Blaupause für eine erfolgreiche Transformation werden. Denn PCK will langfristig auf die Produktion von grünem Wasserstoff umsteigen. Der Plan sieht zunächst den Pilotbetrieb eines Elektrolyseurs vor; voraussichtlich in zwei Jahren ist es soweit. Auch in diesen Strukturwandel investieren Bund und Land. Doch vorerst muss das Ölgeschäft weiterlaufen – und noch sind nicht alle Weichen gestellt. Zwar kommt Öl über eine alte Leitung von Rostock nach Schwedt; diese Pipeline lief aber noch nie unter Volllast. »Die Stabilität muss sich also noch erweisen«, betont Schadow. Für den Lieferweg ab Danzig waren Details auch nach dem Jahreswechsel noch zu klären. Und das kasachische Öl kommt über die »Druschba«, muss also Russland und Belarus passieren. Die russische Regierung hat die Durchleitung genehmigt, aber ob das funktioniert, wird sich zeigen. So ganz ist der Kampf ums Öl noch nicht vorbei.

CHANCEN FÜR GEFLÜCHTETE AUF DEM DEUTSCHEN ARBEITSMARKT

Für Lyudmyla Volynets hat sich die Lage unterdessen leicht entspannt. Mittlerweile lebt nur noch ihre Schwägerin mit einem pflegebedürftigen Kind in ihrer Wohnung. Für ihre übrigen Verwandten und Freunde habe sie Wohnungen gefunden, »alle über meine Netzwerke«, erzählt sie. »Auf dem freien Wohnungsmarkt war nichts zu machen, obwohl ich mich über einhundertmal beworben habe.« Mancher Vermieter sagte ihr offen, dass ukrainische Flüchtlinge als Mieter nicht erwünscht seien: zu unsicher.

»Deutschland braucht dringend Fachkräfte.«

Lyudmyla Volynets, Fachsekretärin in der Abteilung Gute Arbeit und Betriebspolitik der IGBCE 

Dabei könnten die Geflüchteten eine echte Chance für den von Fachkräftemangel geplagten deutschen Arbeitsmarkt sein. Mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine sind seit Februar 2022 nach Deutschland gekommen. Knapp die Hälfte davon ist bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern als erwerbsfähig gemeldet. Doch nur 185 000 (Dezember-Wert) gelten als arbeitslos, stehen also dem Arbeitsmarkt offiziell zur Verfügung. Denn die meisten nehmen derzeit an Integrationskursen teil, gehen zur Schule, betreuen Kinder oder sind krank. Von den Ukrainer*innen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, hat nur ein Bruchteil im einstelligen Prozentbereich bereits Arbeit gefunden: »Gegenüber Februar 2022 sehen wir eine Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung um 63 000 auf 120 000 und bei den Minijobs um 20 000 auf 28 000«, berichtet Vanessa Thalhammer von der Bundesagentur für Arbeit. Lyudmyla Volynets weiß: »Deutschland braucht dringend Fachkräfte.« Ihre Landsleute bringen einen Teil der Lösung für dieses riesige Problem mit, meint sie: »Aber die Infrastruktur ist nicht da, um sie schnellstmöglich zu integrieren.«

Hinzu kommt, dass viele unschlüssig sind, ob sie längerfristig in Deutschland bleiben sollen. Wie die Studie »Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland« des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, sind 80 Prozent der Erwachsenen Frauen. Viele haben Partner, die an der Front kämpfen oder die Ukraine zumindest nicht verlassen dürfen. »37 Prozent der Geflüchteten möchten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 Prozent bis Kriegsende, 27 Prozent sind noch unentschieden und zwei Prozent planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen«, heißt es in der Studie. Deutlich wird aber auch das große Potenzial der Geflüchteten: 72 Prozent der Befragten haben einen Hochschulabschluss.

Lyudmyla Volynets hat Verständnis für alle Entscheidungen, die ihre Verwandten getroffen haben: Für die Cousine, die heimgekehrt ist, weil ihr jugendlicher Sohn depressiv zu werden drohte. Für eine Freundin, die schnell unabhängig sein wollte und einen Aushilfsjob in der Eisdiele annahm. Und für die andere Cousine, die davon träumt, bald wieder in ihren Beruf als Ingenieurin einzusteigen. Dafür lernt sie Tag und Nacht Deutsch, statt den nächstbesten Job anzunehmen. »Wir erkennen, dass die ukrainischen geflüchteten Menschen nicht gerne abhängig von staatlichen Transferleistungen sind, daher suchen sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer Jobs, um auf eigenen Beinen zu stehen«, sagt Vanessa Thalhammer von der Arbeitsagentur: »Aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse oder fehlender Berufsanerkennung kommt allerdings in vielen Fällen erstmal nur ein Helferjob in Frage.« Fündig werden sie nach ihren Erkenntnissen im Gastgewerbe, in der Zeitarbeit und im Baugewerbe. Wer das nicht möchte, muss viel Lebenszeit einplanen. Für ihre Schwägerin hat Lyudmyla Volynets recherchiert: »Die Approbation als Pharmazeutin und Apothekerin hier in Deutschland dauert über ein Jahr lang – bei voller Power.«


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