Entschleunigung und Selbstreflexion
Seit den Neunzigerjahren und in der heutigen Zeit wird vieles nach dem Grundsatz „just in time“ bestellt, produziert und anschliessend auch angewendet oder verbraucht. Der vernetzte Mensch ist es sich gewohnt, seine Bedürfnisse dann zu befriedigen, wenn die Lust und Zeit dafür vorhanden sind. Er bestellt seine Lebensmittel in der Nacht, die Auslieferung erfolgt stundengenau tagsüber am vereinbarten Zustellort. Oder der hungrige Spätheimkehrer kann sich rund um die Uhr das Essen nach Hause bestellen. Die Bezahlung offener Rechnungen kann zu jeder Tageszeit erledigt werden. Begonnen hatte dieser Prozess der ständigen Verfügbarkeit von Mensch und Technik schon vor längerer Zeit. Die Folgen sind kürzere Produktelebenszyklen, veränderte Rahmenbedingungen und letztendlich verstärkter Wettbewerb und Innovationsdruck. (vgl. Doppler et al. 2014: 91)
Die technische Revolution im Bereich der Informatik in den letzten Jahren hat wie erwähnt im beruflichen Kontext das Tempo und den Erfolgsdruck auf das einzelne Individuum, aber auch auf Gruppen und Organisationen nochmals verstärkt. Fast keine Unternehmung kann es sich mehr leisten, diesem Veränderungstrend zu widerstehen. Wehe dem Individuum oder auch Team, welches sich dieser Entwicklung widersetzt oder schlichtweg verpasst [zum Beispiel die Firma Nokia].
Diese technologischen Möglichkeiten führen gerade auch durch die Nutzung der Sozialen Medien [wie Facebook, o.ä.] dazu, dass sich die Menschen auf diesen Erfolgsdruck einlassen, sich präsentieren, vergleichen und sich selbst immer nur von der persönlichen Schokoladenseite zeigen. Nuber zitiert eine Studie: (Nuber 2016: 59)
„Facebook macht neidisch und verdirbt die Laune.“ (…) „Über ein Drittel der Befragten gab zu, sich während und nach der Nutzung von Facebook-Seiten frustriert, unzufrieden, einsam, traurig und neidisch zu fühlen.“
Die Reaktionen auf das ständige Vergleichen, Messen und die eigene Selbstdarstellung liessen nicht lange auf sich warten: (Nuber 2016: 59)
„Um das scheussliche Gefühl der Minderwertigkeit zu kompensieren, gingen viele zum „Gegenangriff“ über: Sie posteten ihrerseits die tollsten Storys und brillantesten Fotos – vieles davon geschönt und zum Teil ziemlich weit entfernt von der Realität.“
So dreht sich das Karussell der Selbstdarstellung immer schneller und die Erwartungen werden immer grösser. Diese Art der Reaktion und Gegenreaktion führt wie beim Sportteam früher oder später zur Niederlage. Es wird sich immer jemand finden, der höher, weiter, schneller war und sowieso den tolleren Urlaub hatte! Ein Teufelskreis.
Und wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden? Eigentlich nur durch ein bewusstes Innehalten. Das moderne Weltbild und oft auch die Werbung suggerieren dem Individuum täglich, dass Erfolg etwas ganz Natürliches und vor allem etwas Selbstverständliches ist. Wenn der Mensch sich nur im diesseitigen Leben genügend anstrengt – dann ist alles erreichbar. Früher, als der Einfluss der Kirche und Religion noch grösser war, wurde der Mensch auf eine kommende, bessere Welt vertröstet. Auf den beschwerlichen und entbehrungsreichen Alltag sollte das wunderbare Paradies, das Dschanna oder auch das Nirwana warten. Allen Religionen gemeinsam ist, dass die Zeit nach dem Leben das unendliche Glück beinhalten.
Und so rennen die Menschen, denen schon alles heute verfügbar scheint und versprochen wird, jedem noch erdenklichen Trend hinterher – immer auf der Suche nach dem ständigen Glück bereits im Diesseits. Eine alternative Verhaltensweise wäre, sich eine Auszeit vom lauten Alltag zu nehmen und innezuhalten. Sich als Individuum einer fundierten Standortbestimmung zu unterziehen – und aus den bereits gemachten Erfahrungen im Erfolg wie im Scheitern zu lernen. Mir persönlich hat eine Auszeit von E-Mail, Whatsapp und allgemeiner Ablenkung die nötige Distanz und Ruhe zurückgebracht. Ich habe durch die noch bewusstere und gezielte Nutzung dieser vielen und auch tollen elektronischen Erungenschaften wieder einen weiteren Schritt in meiner Selbstführung und meinen ganzheitlichen Verständnis der Umwelt gemacht.