Erdrandsiedler
"Ich habe 1988 begonnen, ein Archiv der verschiedenen Völker der östlichen Welt anzulegen, wobei ich keinen Unterschied zwischen den Weiten des Osmanischen und Russischen Reiches gemacht habe. Am Höhepunkt der dramatischen Entwicklung im Ost-West Konflikt jener Jahre, welcher mit dem Fall der Berliner Mauer, sowie der deutschen Wiedervereinigung ein so glückliches Ende gefunden hatte, habe ich sämtliche Kriege, Bürgerkriege und Grenzverschiebungen, die sich aus der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens ergeben hatten, akribisch aufgezeichnet und auf ein Kartenbild übertragen, welches bei Bedarf weitergeführt wird. Während damals die Experten jubelnd „das Ende der Geschichte“ propagierten und den endgültigen, d.h. globalen Sieg des Kapitalismus westlicher Prägung feierten, legte ich eine Sammlung der willkürlich gezogenen Grenzen westlicher Geostrategen an. Über die Hälfte der dargestellten Völker sind in beiden Reichen anzutreffen und offenbaren in Bezug auf Trachten, Linienführung der Ornamente, deren Materialien und im Habitus eine gemeinsame Klangfarbe, ähnlich wie die verwandten Sprachen, wenn sie auch bei gleicher Ausgangslage der Worte im Zweifel das Gegenteil ausdrücken. Anders gesagt, es zeigt sich, dass Sprache ein untaugliches Mittel zur Kommunikation darstellt, wenn man einander nicht verstehen kann oder will und unabhängig wankelmütiger Nationalismen.
Die Sammlung beinhaltet diverse Stiche, Kaltnadelradierungen, Zeichnungen und Fotos, die ich auf meinen vielfältigen Reisen und Ausstellungsprojekten in Südosteuropa, der russischen Föderation sowie der turkmenischen Welt gesucht und nach werktreuen Angaben coloriert, weitergeführt oder vollendet habe. Ich bin dieser Spurensicherung wie ein Ethnograph gefolgt, die untergegangene Vielfalt aus einer immer vernebelten wie problematischen Welt suchend, um sie als objektivierbare Wirklichkeit in der Sprache der Kunst im Raum zu verankern. In der Ödnis unserer westlichen Betonwüsten wirkt die kulturelle Eigenart berauschend und bezeugt eine Einheit in der Vielfalt, die sich nicht nur verbal äußert.
Wenn wir heute auf das unendliche Leid, den endlosen Tod und die Zerstörung im Nahen Osten blicken, auf die frischen Wunden in den Regionen des Balkans, der Ukraine und des Kaukasus, müssen wir anerkennen, dass die „Orientalische Frage“, dieser erbitterte Kampf zwischen den Großmächten und dem schon damals im europäischen Konzert isolierten Zarenreich um Macht und Einfluss auf den diversen Schauplätzen vom Nahen Osten bis zu den südrussischen Steppen, seine moderne Analogie gefunden hat. Sämtliche Konfliktherde finden auf den Trümmern dieser Imperien statt und wir sollten daraus andere Schlüsse ziehen als wir sie im 20. Jahrhundert gezogen haben, diesem Jahrhundert der Ideologien und der Emigration." Text und Installation in der Bibliothek des Münchner Literaturhauses, Literaturfest München, 2016
Malerei ist Denken - Painting is thinking
8 JahreWunderbarer Artikel ,sehr gut beschrieben