Etappensieg des #Postfaktischen?

Etappensieg des #Postfaktischen?

[Wenn Fakten kein Gehör mehr finden, bestimmen die Polemiken einiger weniger unser aller Schicksal – droht der Siegeszug des #Postfaktischen?]

Die implizite Nichtanerkennung oder aktive Verleumdung eigentlich unübersehbarer Tatsachen scheint eine neue, im Social Media-Zeitalter willkommene Bereitschaft bei vielen neumedialen Meinungsmachern zu sein. Und dennoch erleben wir lediglich, wie ein in der Politik schon lange beobachtbares Phänomen perfektioniert und intensiv angewendet wird. Jeder kennt es, wenn einem Politiker* eine konkrete Frage gestellt wird, und er* auf etwas völlig anderes, oder auch auf gar nichts, antwortet, und am Ende noch eine Attacke gegen das andere politische Lager an das Ende seiner* (Nicht-) Ausführungen stellt.

Dieses Verhalten war schon immer ein Ärgernis. Nicht, weil es den Politikern grundsätzlich zu missgönnen wäre, wenn sie jeden Trick anwenden, um an Wählerstimmen zu kommen - aber, weil die Tricks immer mieser werden, und weil die aktuell zu beobachtende Inhalts-Ignoranz, die stets an eine Lüge grenzt, und immer öfter diese Grenze klar überschreitet, eine neue und bedenkliche Qualität erreicht hat: Die Welt muss mit einem 45. US-Präsidenten zurechtkommen, der gewählt wurde, obwohl er im Wahlkampf zahllose anerkannte rote Linien überschritten hat (zum Beispiel Beleidigung von Veteranen, Spott über Minderheiten, offener Rassismus, Nichtoffenlegung der Steuererklärung), obwohl er ur-amerikanische Prinzipien, auf die dieses Land immer stolz war und stolz sein kann, mit Füßen tritt, und obwohl er nachweislich und mehrfach öffentlich so gelogen hat, daß sich die berühmten Balken biegen müssten.

Mag sein, daß Rassismus in manchen amerikanischen Kreisen oder Schichten wieder salonfähiger geworden ist; mag sein, daß viele Amerikaner einfach die Schnauze voll haben, von Political Correctness und der Hofierung auch der aller-exotischsten Minderheiten, von der obsessiven Luxusproblem-Fixierung der liberalen, wohlhabenden Küstenstadt-Elite. Mag auch sein, daß eine wirtschaftlich marginalisierte, von der egozentrischen politischen Oberklasse jahrzehntelang vernachlässigte (oder - wie von Hillary Clinton - gar beleidigte) weiße Unter- und Mittelschicht wirklich daran glaubt, daß ein Multimilliardär und sein Multimillionärs-Kabinett sich ausgerechnet um ihr Wohlergehen kümmern werden.

Mag alles ein. Aber daß so viele Wähler sich weitgehend unwidersprochen anlügen lassen, daß die Masse nicht aufmuckt, wenn eine nachweißlich nichtvorhandene Zuschauermenge einfach herbeigeredet und als Alternativer Fakt bezeichnet wird, daß diese Leute nicht größte Sorgen haben, wenn ein Präsident und sein Regierungsapparat sich schon bei derart irrelevanten Themen zu dermaßen dreisten Lügen und der völligen Ignoranz der Realität hinreißen lassen - das ist Anlaß zu Sorge. Man mag sich gar nicht vorstellen, was für postfaktische Zombies aus diesem Massengrab der Rationalität noch auferstehen werden. Sicher scheint nur, daß die über Jahre gewachsene Verbitterung über Politik und Politiker in den USA sich derart verfestigt hat, daß nun einer wie #45 - vorerst - tun kann, was er will.

In der entgegengesetzten Ringecke haben wir eine unkoordinierte, hyperventilierende Linke, immer noch geschockt vom Wahlsieg, die sich in Scharmützeln verbraucht und deren lauter und teils sogar aggressiver Protest auf die Straße eher Bilder liefert, die #45 im Ansehen seiner Anhänger weiter festigen. Deren antrainierter Minderheitenschutz-Reflex die postfaktische Wählerschaft von #45 letztendlich nur bestärkt – oder was wird ein weißer Arbeiter im Mittleren Westen denken, wenn – in seiner Wahrnehmung - sich sofort eine Menschenmenge formiert, wenn ein paar Iraker an einem Flughafen nicht gleich einreisen dürfen, aber die Schließung von Fabrik um Fabrik in seiner Region vom Washingtoner Establishment immer nur mit einem Schulterzucken kommentiert wurde?

Aber wir sollten nicht auf unsere transatlantischen (Noch-)Freunde und deren 45. Präsidenten herabschauen, der für uns (ein)gebildete Europäer ein armseliger Ignorant – leider mit dem Rotem Knopf – ist, und der sich hoffentlich in einer derartigen Geschwindigkeit selbst demontieren wird, daß am Ende alles gar nicht so schlimm kommt.

Wir können auch bei uns dem #Postfaktischen begegnen, und zwar ganz ohne am rechtspopulistischen Rand zu suchen, wo es leicht zu finden, wohlgefällig anzuprangern und plakativ zu verurteilen ist. Man betrachte z.B. realitätsignorierende Aussagen von Spitzenpolitikern über angeblich lupenreine Demokraten oder was Deutschland alles schaffen kann. Man kann sich aber auch vergegenwärtigen, was Politiker im Ernstfall hinterher so gar nicht gewußt haben, als sie ihre in der Rückschau falschen Entscheidungen trafen oder als sie ihre im nachhinein juristisch relevanten Taten umsetzten. Legendär die Erinnerunglücken von Kohl, Koch und Kanther, wenn es um CDU-Parteispenden ging – für ansonsten sehr detaillierte Autobiographien reicht das Gedächtnis allerdings meist aus.

Die moderne Wortschöpfung „postfaktisch“ umfaßt diese Arten von Wahrheitsbeugung eigentlich gar nicht, aber jene Spielarten der Realitätsignoranz fallen ebenso darunter, und wir alle erleben sie schon lange. Täglich, wöchentlich, und regelmäßig ohne jede Konsequenz. Ganz wie im Postfaktischen.

In diesem Sinne ist #45 einfach nur konsequenter als andere – er macht es immer, überall und mit jedem. Erfunden hat er die strukturierte Anwendung von Lüge und Realitätsleugnung in der Politik aber ganz sicher nicht.

Um von einem Siegeszug des Postfaktischen zu sprechen, ist es allerdings noch viel zu früh. Die Überzeugungskraft und Beharrlichkeit von Realität und Wahrheit sind immens und nicht zu unterschätzen. Ebenso wie die Wucht der postmittelalterlichen Aufklärung das Mystische und Gottgewollte verdrängt oder relativiert hat, und so Zeitenwenden wie die Französische Revolution beförderte, ebenso dürfen wir darauf hoffen, daß Lüge und Ignoranz nur eine Episode der politischen Geschichte sein werden.

Die schärfsten Waffen gegen das Postfaktische sind Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in der Politik. Und zwar nicht nur dann, wenn die Lügen anderer allzu dreist und auffällig werden, sondern jeden Tag, bei allen Themen, auf allen Ebenen und insbesondere im einem Wahlkampfjahr.

Kein Wähler läßt sich gerne anlügen, und die meisten merken es dann doch – irgendwann. Steuersenkung und mehr innere Sicherheit bei gleichzeitiger Erhöhung der Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen, mit freien KiTa-Plätzen für alle bei Mindestrente, Grundeinkommen und freier Krankenversicherung, sowie Verdreifachung der Entwicklungshilfe und Vollintegration aller Einwanderer, das gelingt eben nur vor der Wahl. Verbal.

Warum muß man uns Wahlvolk nur immer fast alles versprechen und fast nichts halten? Sind wir zu blöd für die Wahrheit - oder ist uns die Wahrheit zu blöd? Haben wir nicht kapiert, daß man jeden Euro nur einmal ausgeben kann? Zyniker sagen gerne, Demokratie sei die Herrschaft der Dummen. Behandelt werden wir auf jeden Fall so, benehmen tun wir uns allzuoft auch so.

Wer aus der sogenannten Mitte geht denn noch hochmotiviert zur Wahl und setzt sein Kreuz mit Freude bei (s)einer Partei, weil bei der alles genau paßt? Am linken und rechten Rand mag das so passieren, aber in der reflektierteren Mitte ist diese Art der parteilichen Vollidentifikation zur Ausnahme geworden.

Vielleicht sollte man sich einfach gemütlich zurücklehnen und zuschauen, wie die postfaktischen Neupolitiker den etablierten Wahrheitsgestaltern so richtig Angst und Beine machen, mit ihren einfachen „Wahrheiten“, Lösungen und Forderungen: Frankreich raus aus der EU, Ausländer raus aus Frankreich, Wiedereinführung des Franc, French First, fehlt nur noch die Krönung eines neuen Sonnenkönigs, und alles wäre wieder gut in der „Grande Nation“?

Zurücklehnen geht natürlich nicht. Wenn man zu lange mit dem Unkraut zupfen wartet, muß das ganze Beet umgegraben werden. Leider ist bundesweit keine parteiübergreifende Vorzeige-Front ehrlicher Politiker, die sich als Diener von Staat und Volk begreifen, auszumachen. Deren erster Reflex eben nicht ist, den politischen Gegner möglichst schlecht zu machen, um selber besser dazustehen. Die ihre Versprechen nicht am Wahlabend wegjubeln, -heulen oder -saufen, um am nächsten Tag frei von moralischen Verpflichtungen an der eigenen und parteilichen Machtmehrung zu arbeiten. Ihr Nichtexistenten, ihr könntet die Politik vor Leuten wie #45 retten und Demokratie wieder zu dem machen, was sie ist: Eine der größten Errungenschaften der Menschheit.

(*: die männliche Form wird hier nur stellvertretend für alle denkbaren Formen verwendet)

Andreas Baechle

Unternehmer, CEO - Retired

7 Jahre

Genau genommen müssten wir Deutsche uns ja mit dem Phänomen des Postfaktischen bestens auskennen. War es nicht ein gewisser Walter Ulbricht der mit altbekannter Fistelstimme rief: "Niiiieeeemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten". Was darauf folgte ist hinreichend bekannt. Der ostdeutschen Bevölkerung wurde erklärt, dass man diesen antifaschischtischen Schutzwall brauche. Tatsächlich drohte die DDR auszubluten, da immer mehr Bürger das Heil in der Flucht suchten. Auch damals schon eine alternative Wahrheit. Ergo auch wir Deutschen kennen das. Da brauchts keinen #45. Das traurige daran... Wir lernen nichts daraus

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