Fehlerkultur – Wachstum durch Irrtum?

Fehlerkultur – Wachstum durch Irrtum?

(Dieser Beitrag erscheint in der Februar-Printausgabe von «persönlich». Den gestalteten Artikel gibt's als PDF über diesen Link)

Autor: Ralph Hermann Illustration: Vanessa Schütz

«Aus Fehlern lernt man», heisst es. Und doch sind Fehler nicht gerne gesehen im Arbeitsalltag. Was aber, wenn ein Unternehmen auf Irrtümer setzt? Deren Wert für das Unternehmen erkennt? Und wie profitieren Unter­nehmen von einer Innovationskultur?

«Während das Silicon Valley Fehler feiert und damit die Innovation beschleunigt, haben Schweizer Unternehmen Mühe, mit Fehlern umzugehen. Es fehlt hierzulande einfach der Mut zu grandiosem Scheitern.» So tönt es allenthalben. Doch weil man es oft hört, muss es ja nicht stimmen. Heads Corporate Branding geht am nächsten Perikom-Anlass diesem Thema auf den Grund: «Innovation – durch Irrtum zu Fortschritt.» Infos zum Anlass gibt es hier.

Warum ist das Thema Fehlerkultur aus Sicht der Kommunikation überhaupt interessant? Und warum widmet sich eine Branding-Agentur diesem Thema? In der Positionierung von Unternehmen und deren Marken spielt das Thema Innovation eine zunehmend wichtige Rolle. Unternehmen wollen an Agilität zulegen, sich schneller entwickeln und so ihre Zukunftsfähigkeit stärken. Wer Innovation als Markenwert definiert, muss ihn für die Organisation allerdings auch lebbar machen. Und so gelangt man bei der Implementierung des Markenwertes «Innovation» unweigerlich zum Thema Fehlerkultur.

Wie bringt man ein Unternehmen dazu, Fehler als Chance zu sehen? Was passiert mit der Firmen­kultur, wenn Irren gefragt ist? Ist das Unternehmen überhaupt bereit, die Risiken einer schnellen Weiterentwicklung zu tragen? Sind die Führungskräfte motiviert, Fehlern ihren schlechten Geruch zu nehmen und der Belegschaft zu vermitteln, dass es durchaus Irrtümer gibt, die das Unternehmen weiterbringen? Eigentlich kennt man es aus der eigenen Berufslaufbahn; wohl jeder erinnert sich an mindestens einen grösseren Fehler in seiner Karriere, der ihn massiv weiterbrachte – unter der Bedingung, dass man sich intensiv und auf konstruktive Weise mit seinem Scheitern beschäftigte. Trotzdem fällt es immer wieder schwer, eigenen Irrtum in Kauf zu nehmen. Und noch anspruchsvoller wird es, wenn es sich nicht um den eigenen Irrtum handelt, sondern um einen Fehler, der durch gewährten Freiraum erst möglich wurde.

Wollen Unternehmen ihre Innovationskraft stärken, tun sie gut daran, sich mit ihrer Fehlerkultur auseinanderzusetzen. Aufgrund einer Untersuchung im Jahr 2017 skizzierte Michael Herzig, Dozent für Sozialmanagement an der ZHAW, drei mögliche Typen von Fehlerkulturen:

Fehler als Damoklesschwert über den Köpfen der Mitarbeitenden: Diese Organisation ist geprägt durch rigide Regeln und eine hohe Normendichte, die Mitarbeitenden sind starkem Kontrolldruck ausgesetzt, Fehler sind explizit kein Thema, implizit omnipräsent.

Fehler als Risiko und Chance zugleich: In dieser Organisation besteht ein Regelwerk zur Überwachung und Vermeidung von Fehlern, gleichzeitig werden Anstrengungen unternommen, trotz Kontrolldruck angstfrei über Fehler zu sprechen und daraus zu lernen.

Fehler als Lernfeld: In dieser Organisation wird ein konstruktiver Umgang mit Fehlern im Leitbild postuliert. Für die Umsetzung sind Verfahren, Gefässe und Instrumente definiert, deren effektive Nutzung stark von der verantwortlichen Führungsperson abhängt.

 Bei vielen Schweizer Traditionsunternehmen ist «Präzision» tief in ihrer DNA verankert. Kein Wunder, werden da Fehler nicht gleich als Lernfeld gesehen. Doch was sind die Folgen, ist es in einem Unternehmen nicht möglich ist, über Fehler zu sprechen? Prof. em Dr. Theo Wehner ETH Zürich, Referent am kommenden Anlass, gegenüber HR-Today: «Man zementiert damit meist eine bestehende tabuisierende Fehlerkultur oder lässt sich nicht auf eine entstehende produktive ein. Durch diese Haltung verpasst man es, individuelles und organisationales Lernen zu ermöglichen, Veränderungen einzuleiten und eine neue Perspektive auf die Arbeitsabläufe zu gewinnen. Das geschieht häufig aus einer Fehleinschätzung über die Ursachenzuschreibung. Zu oft gehen wir davon aus, dass wir alleine für den Fehler verantwortlich sind. Dabei übersehen wir, dass es der Kontext gewesen sein könnte, der uns dazu verleitet hat, diesen Fehler oder Irrtum zu begehen. In der Psychologie sprechen wir dann von einem fundamentalen Attributionsfehler: Person statt Situation.» Im Interview relativiert Wehner dann aber auch den Zusammenhang von Innovation und dem Machen von Fehlern. Er sei seltener, als er zurzeit immer wieder heraufbeschworen würde. In der Landwirtschaft wisse man: Nicht jeder Mist sei Dünger. Dies gelte auch für unsere Fehler. Manche seien nur lästig, vielleicht ärgerlich, hoffentlich auch mal amüsant oder kurios.»

«In der Landwirtschaft weiss man: Nicht jeder Mist ist Dünger. Dies gilt auch für unsere Fehler.»
Prof. em. Dr. Theo Wehner, ETH Zürich

In der deutschen WirtschaftsWoche vom Februar 2019 wird der Organisationspsychologe Prof. Michael Frese der Universität Lüneburg zitiert, der Fehlerkulturen erforscht: «Wir sozialisieren die Leute in Richtung Fehlerfreiheit». Dass Fehler wehtun, habe eine psychologische Funktion: «Wir sind als Menschen darauf geeicht, die negativen Ereignisse nicht erneut zuzulassen. Wir lernen. Würden wir nicht lernen, hätten wir die Steinzeit nicht überlebt. Vermeiden wir jeden Fehler, kommen wir nicht voran. Sprechen wir nicht über sie, lernt niemand etwas dazu.»

Dr. Silvan Winkler, Senior Manager der Avenir Group, sieht allerdings bereits einen Silberstreifen am Horizont. Er schrieb im März letzten Jahres: «Es wird zunehmend einfacher über Fehler zu sprechen und viele Unternehmen haben nun auch aktiv das Bedürfnis eine Fehlerkultur zu etablieren, die ein Scheitern in gewissen Abteilungen und in gewissen Funktionen erlaubt.»

Sinnvoll Fehler machen

Wenn es um die Fehlerkultur im Unternehmen geht, dann sind aus Sicht von Winkler vor allem zwei Punkte zu berücksichtigen: «Erstens, dass es nicht in jeder Abteilung eine Option ist Fehler zu machen. Zum Beispiel in der Finanzbuchhaltung oder in der Lohnbuchhaltung, wo vermeidbare Fehler keinen Platz haben. Zweitens gibt es Aufgaben, wo Fehler ein wichtiger Teil des Weges hin zu Höchstleistungen oder Spitzenprodukten sind: Wenn Sie z.B. in einer Entwicklungsabteilung arbeiten, dann muss in einem kontrollierten Rahmen Scheitern erlaubt sein, damit man aus den Fehlern lernen kann und ein Produkt oder eine Dienstleistung sich weiterentwickeln kann.»

Auf die Führungskräfte kommt es an

Die Deutsche HR-Beraterin Nicole Neubauer plädiert in der WirtschaftsWoche dafür, geschützte Räume zu schaffen. Mitarbeiter müssten lernen, über Fehler zu sprechen – am besten auch abteilungsübergreifend. Neubauer: «Jüngere Mitarbeiter sind dazu oft bereit», beobachtet sie. Ältere Führungskräfte seien vorsichtiger, auch wenn es darum geht, die Jüngeren in den Mittelpunkt der Fehlerdebatte zu stellen. «Es besteht die Angst, dass eine Führungskraft wegen dieser Fehler mit Konsequenzen zu rechnen hat.» Mehr Offenheit, mehr Mut und mehr Toleranz können helfen, diese Sorge auszuräumen.

Grosse Würfe aus dem Scheitern-Haufen  

Ob die Entdeckung Amerikas, die Erfindung von Viagra, Post-It oder Herzschrittmacher – dem Griff nach den Sternen gehen manchmal Irrtümer voraus. Ein besonders schönes Beispiel stammt aus dem 17. Jahrhundert: Weinbauer füllten Wein zu früh in Flaschen ab. Dies führte zur Bildung von Kohlensäure, welche Korken rausspringen oder gar Flaschen explodieren liess. Die Weinbauer-Mönche waren gar nicht begeistert vom explodierenden «Teufelswein». Ganz anders der erste Benediktinermönch Dom Pérignon, der den Champagner als erster kostete. Sein angeblicher Kommentar nach dem ersten Schluck des Champagners: «Kommt schnell, ich trinke Sterne!»

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Es gibt sie also: Fehler, die noch Jahrhunderte danach Freude bereiten.

Claudia Nef

Organisational development and transformation, with a systemic approach, empathy and a communication background, focused on the human being in the digital transformation. Always learning, curious and dedicated.

4 Jahre

Toller Artikel, der sehr schön vor Augen führt, warum wir im Unternehmen eben einfach mal ausprobieren sollten. Vielen Dank für den Artikel und Denise Girardet fürs sharen ;-)

Andreas Jäggi

Geschäftsführer | Kommunikationsstrategie | interne Kommunikation | Moderator | Dozent

4 Jahre

Danke für diesen gut geschriebenen Artikel!

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