GroKo: Mit Volldampf gegen den Eisberg!

Von Roland Appel, am Freitag, 9. Februar 2018

SPD und CDU/CSU haben eine Koalitionsvereinbarung beschlossen, die keine Linie hat, gegensätzliche Positionen nebeneinander stehen lässt und erwiesene Fehlentwicklungen fortschreibt. Sie ist ein Dokument der Ideenlosigkeit zweier ausgebrannter und im Klein-Klein der Regierungstechnokratie erstarrter Parteien. Sie verleugnet große Fragen wie die nach den gesellschaftlichen Folgen der digitalen industriellen Revolution und verweigert gesellschaftliche Diskurse wie den über ein Einwanderungsgesetz. Der Wirtschaftspolitik fehlt jegliche Richtung, eine soziale und ökologische Idee, sie ist geprägt vom Einknicken vor Lobbyinteressen. Bürgerrechte sind für diese Koalition ein Fremdwort. Es mangelt an Bereitschaft, die Bürger und ihre individuellen und sozialen Grundrechte zu schützen, ob gegen den Überwachungsstaat oder gegen übermächtige Industrieinteressen ob Chemie- oder Internetkonzern. Die Umweltpolitik ist eine Katastrophe. Das schlimmste aber: Selten hat sich Politik derart hinter ideologischen Formeln, Expertenspräch, irreführenden und verharmlosenden Formulierungen versteckt, wie diese GroKo. Sie zu beleuchten ist wichtig, um hinter die Fassade des „kleinen Übels“ zu leuchten. Diese Vereinbarung ist nicht in allen Teilen schlecht, aber sie wird dem Land Schaden zufügen.

Der Kompass klemmt, die Navigatoren…

Bereits am Finanzrahmen der geplanten Regierung fällt das Prinzip auf, nach dem diese Vereinbarung geschrieben wurde: Weil nicht zusammen passt, was zusammen soll wird der Geldhahn aufgedreht. Waren in den Sondierungen von „Jamaika“ nur 30 Milliarden zu vergeben, sind es nun 46 Mrd. Euro. Die wundersame Geldvermehrung gleicht der letzen GroKo, als die CSU die Mütterrente, die SPD die Rente ab 63 wollten und obwohl nicht finanzierbar, in der Konsequenz beides beschlossen wurde. Nun sind plötzlich die 16 Mrd. zum Abschmelzen des Solidaritätszuschlages da, die der FDP im November partout nicht zugestanden werden sollten. Dafür bleiben hohe und höchste Einkommen unbehelligt und auch die schleichende Progression, die den schwindenden Mittelschichten zu schaffen macht, sie bleibt ebenso unangetastet wie die Steuerfreiheit von Unternehmens-Veräußerungsgewinnen. Unangenehme Finanzfragen wie eine gerechte Besteuerung von Facebook, Google, Amazon und co. werden auf die EU-Ebene verschoben. Die Umvereilung von unten nach ganz oben und das Austrocknen der Mittelschichten wird also fortschreiten, weil man sich auf keine gemeinsame Richtung einigen konnte.

Dieses Prinzip setzt sich in einer Kernfrage der Zukunft, den sozialen Auswirkungen der Digitalisierung auf alle Lebensbereiche exemplarisch fort. Eine Erforschung und Vorsorge der Folgen des bevorstehenden tiefgrifenden technologischen Wandels der Arbeitsverhältnisse durch die Wirtschaft 4.0. fällt unter den Tisch. Während Unternehmer in Sillicon Valley das bedingunglose Grundeinkommen fordern, streift diese Koalition nicht einmal die Frage danach. Großen Sprechblasen wie „wollen wir Deutschland zu einem weltweit führenden Standort bei der Erforschung von künstlicher Intelligenz machen“ und ideologischem Geschwurbel „wir gestalten den Weg in die Gigabit-Gesellschaft“ stehen ganz kleine Maßnahmen entgegen, wie ein deutsch-französisches Forschungszentrum für künstliche Intelligenz der Ausbau der Netze bis 2025 – das ist dann in der übernächsten Legislaturperiode! Die Ursache dieser lähmenden Entwicklung, die in Dobrindt’s falscher Subvention der veralteten Telekom-Kabeltechnik liegt, kann jeder im kürzlich veröffentlichten Bericht des Bundesrechnungshofes darüber nachlesen. Die GroKo aber macht unverfroren „weiter so!“

…haben schon lange jede Richtung verlor’n

Ständig schwankt der Katalog der „Wünsch Dir was“ Maßnahmen zwischen großspurigem Anspruch: „10 bis 12 Milliarden Euro für flächendeckende Glasfaser-Netze, möglichst direkt bis zum Haus. Beseitigung bestehender Funklöcher. Vorreiterrolle beim Aufbau des Echtzeit-Mobilfunkstandards 5G“ und kleinstem Karo: „Freies WLAN an allen öffentlichen Einrichtungen, Zügen und Bahnhöfen der Deutschen Bahn.“ Und dass die Lobbyisten der Deutschen Telekom und anderer wohl mit am Tisch gesessen haben zeigt sich an Formulierungen wie: “ Um den Ausbau in bisher unterversorgten Gebieten wirtschaftlicher zu machen, wollen wir den Mobilfunkanbietern für ein nationales Roaming durch entsprechende Änderungen im Telekommunikations- und Kartellrecht Absprachen erlauben.“ – die jeden fairen marktwirtschaftlichen Wettbewerb verhöhnen.

Die Wirtschaftspolitik dieser Koalition dümpelt ziellos zwischen Ideenlosigkeit, Inkompetenz, Dirigismus, Subventionen und dem Einknicken vor Lobbyinteressen. Sie kann sich nicht zwischen der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen und Interessen der Großkonzerne entscheiden. So heißt es einerseits: “ Mit dem neuen bundesweiten Förderprogramm go-digital wollen wir kleine und mittlere Unternehmen sowie Handwerksbetriebe auf den Feldern IT-Sicherheit, digitale Markterschließung und digitalisierte Geschäftsprozesse mit konkreten Maßnahmen unterstützen. Darüber hinaus wollen wir ein neues Investitionsprogramm „Digitalisierung des Mittelstands“ auflegen, um gezielt in digitale Technologien und Know-how zu investieren.“ – ohne die Dimension der Förderung zu benennen.

Die Nacht ist schwarz, der Nebel so dicht….

Wenige Zeilen weiter unten entlarven die Koalitionäre selbst, dass sie die Mechanismen der Internetwirtschaft nicht verstanden haben. Die klarste Erklärung, die ich kenne, stammt vom Satiriker Marc-Uwe Kling in „Qualitiy Land“: Zwei Eisdielen gibt es in einem Dorf, die eine hat Super-Spitzen-Eis, die andere ist nur ein kleines bisschen schlechter. Natürlich gehen alle zunächst in die erste, aber entweder ist Ihre Sorte ausverkauft oder der Andrang zu groß und so verteilen die Kunden sich auch auf die andere – so gleicht der Markt in der Realwirtschaft aus. Im Internet braucht aber niemand die zweitbeste Suchmaschine, das zweitbeste soziale Netzwerk, das zweitgrößte Internet-Shoppingportal – die allgegenwärtige Verfügbarkeit und Marktmacht eines scheinbar besten Anbieters führt zwangsläufig zur Monopolbildung.

Die Koalitionäre stellen dagegen fest: „Gleichzeitig wollen wir im Wettbewerbsrecht alle Voraussetzungen dafür schaffen, in Deutschland und Europa die Entstehung von Digitalkonzernen zu ermöglichen, die international eine wettbewerbsfähige Größe erreichen.“ heisst übersetzt: anstatt Quasi-Monopole wie Amazon, Facebook, Google und co. zu bekämpfen, wollen wir von Staatswegen die Gründung von Monopolen derselben Art in Europa erleichtern. Sie haben es nicht verstanden! Das Internet ist für Merkel und Schulz offensichtlich immer noch „Neuland“. Nicht grundlos scheinen deshalb Forderungen wie: „Wir werden die Potenziale der Digitalisierung in der landwirtschaftlichen Produktion, beispielsweise zur Reduzierung des Einsatzes von Pflanzenschutz- und Düngemitteln, des Medikamenteneinsatzes in der Tierhaltung… fördern.“ – vermutlich direkt von der Bayer/Monsanto-Lobby in die Feder von Ministerialbeamten diktiert.

…und seit Jahren kein Land in Sicht

Auch in der digitalen Bildung schwankt die Vereinbarung zwischen vollmundigen Ankündigungen von längst bekanntem – 2 Milliarden Euro für Ganztagsbetreuung in den Schulen, 5 Milliarden für den Ausbau der IT-technischen Infrastruktur. Zwar hatten wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre immer wieder deutlich gezeigt, dass es weniger an der technischen Infrastruktur, als vor allem an den IT- und Datenschutzkompetenzen der Lehrer*innen und Ausbilder*innen hapert. Dazu liest man aber nur bekannte Programme, die Abstimmung der Mittelvergabe mit den Ländern und ein lapidarer Verweis auf die Kultusministerkonferenz. Immerhin ist man sich einig, das unsinnige Kooperationsverbot von Bund und Ländern in Schulfragen endlich abzuschaffen. Aber von verbindlichen Mindestandards der IT-Kenntnisse oder nachhaltigen Maßnahmen, die Mendienkompetenz der Lehrenden an Schulen und Hochschulen zu verbessern, sucht man vergebens. Aber eine Knaller hat die Koalition doch noch bereit: Einen Deutschen Bildungsrat will sie einberufen – was für eine neue Idee! Den hat es schon einmal von 1969 bis in die siebziger Jahre gegeben, bis er wegen der ideologischen Grabenkämpfe zwischen CDU/CSU einerseits, SPD und der damals linksliberalen FDP andererseits aufgelöst wurde.

Sie sind auf Odysee, Odysee…

Auch Wahlkreise durften offensichtlich Wünsche äußern, das merkt die Leserin an so interessanten Forderungen wie: „Wir halten an der Beteiligung des Bundes am Flughafen Köln-Bonn fest.“(SPD KÖLN) „Alle Beteiligten sind aufgefordert, an einer zügigen Fertigstellung des neuen Hauptstadtflughafens BER mitzuwirken.“ (CDU Berlin) Oder: „Es ist wichtig, die Potenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft…zu nutzen. Wir wollen den German Motion Picture Funds stärken.“ (Von Dieter Kosslick ist das nicht)

Weniger problemadäquat dagegen die Formulierungen des Koalitionsvertrages zum Thema Dieselskandal und seine Folgen: Hatte Umweltministerin Hendricks noch im Wahkampf Hardware-Nachrüstungen der Schmutzdiesel gefordert, sucht man diese nun vergeblich: „…Ziel… ist die Realisierung einer emissionsarmen und klimaneutralen Mobilität. Hierzu müssen alle Potenziale genutzt werden. Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass der Weg zu einer nachhaltigen Mobilität technologieoffen und ohne politische Technologiefestlegung erfolgt. Die Politik ist gefordert, die richtigen Rahmenbedingungen und Grenzwerte zu setzen und deren Einhaltung zu überwachen. Die Wirtschaft ist gefordert, die richtigen Technologien zu entwickeln und mit innovativen Produkten und Geschäftsmodellen die gemeinsam gesetzten Ziele umzusetzen. Das Gelingen dieses Wandels ist wichtig für die Sicherheit der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie.“ Hier hat sich offensichtich die CSU im Schulterschluss mit der Autolobby durchgesetzt. Dass im Justizteil der SPD zugestanden wurde, dass man „vor Ablauf von Verjährungen“ Sammelklagen von Verbrauchern ermöglichen wolle, kann angesichts den engen Zeitrahmens nur als ambitioniertes Trostpflaster bezeichnet werden.

Keine Schutzmacht der „kleinen Leute“ und ihrer Rechte

Das Verhältnis dieser Koalition gegenüber der Schutzfunktion des Staates zur Wahrung von Grundrechten wird am besten anhand diverser Passagen zum Datenschutz deutlich, der ja durch die am 25.5.2018 inkrafttretende EU-Datenschutz-Grundverordnung gestärkt wird. Warum, so fragt man sich, will dann die Groko sich:“ auf EU-Ebene außerdem für eine Privacy-Verordnung einsetzen, die im Einklang mit der EU-Datenschutz-Grundverordnung die berechtigten Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern und Wirtschaft angemessen und ausgewogen berücksichtigt.“ Das kann übersetzt nichts anderes heissen als: Wir werden uns für die Änderung und Aushöhlung der DSGVO zugunsten der Wirtschaftsinteressen einsetzen? Dass es sich hierbei nicht um Voreingenommenheit des Verfassers handelt, zeigt die Vereinbarung ab Zeile 2087: „Wir wollen uns für eine Stärkung der Kompetenz der Nutzerinnen und Nutzer sowie für mehr Transparenz und „Privacy by Default“ und „Privacy by Design“ auf Seiten der Anbieter einsetzen und die Entwicklung von innovativem Einwilligungs-management fördern und unterstützen.“ Einwilligung zu erleichtern, heisst, leichter an personenbezogene Daten zu gelangen. Und so heisst es auch an einer der folgenden Stellen: „Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts.“ und weiter: „Wir setzen uns für eine innovationsfreundliche Anwendung der Datenschutzgrundverordnung ein.“ „Innovationsfreundlich“ klingt hier wie ein Synonym für die Aushöhlung dieser Grundsätze, bekannt durch Bestrebungen auf den beiden letzten beiden „IT-Gipfeln“, wo seitens der Industrie und des BitKom versucht wurde, den Datenschutz durch den Begriff einer sogenannten „Datensouveränität“ zu relativieren.

Verschwurbelte Formeln und ideologische Floskeln

Entsprechendes Mißtrauen verdienen deshalb auch Formulierungen wie: „Wir werden zeitnah eine Daten-Ethikkommission einsetzen, die Regierung und Parlament innerhalb eines Jahres einen Entwicklungsrahmen für Datenpolitik, den Umgang mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und digitalen Innovationen vorschlägt. Die Klärung datenethischer Fragen kann Geschwindigkeit in die digitale Entwicklung bringen und auch einen Weg definieren, der gesellschaftliche Konflikte im Bereich der Datenpolitik auflöst.“ Hier sollen offensichtich ernsthafte und grundlegende ethische Fragen, die untrennbar mit ökonomischen Interessen verknüpft sind, von einer Kommission „erschlagen“ werden. Ein derartiges Vorhaben innerhalb von Jahresfrist bewältigen zu wollen, kann nur auf ein zutiefst unseriöses Verfahren hindeuten. Ebenso könnte man festlegen, das Problem des Baus eines interstellaren überlichtschnellen Antriebs binnen Jahresfrist zu erledigen. Was die GroKo bei diesen Themen in Sinn hat und warum sie kritische gesellschaftliche Diskussionen füchtet, wird in wolkigen Insider-Formulierungen deutlich: „Die Wettbewerbsfähigkeit Europas hängt entscheidend von der Verwirklichung des einheitlichen digitalen Binnenmarkts ab. Deshalb wollen wir grundsätzlich auf einseitige, nationale Regulierungen verzichten, um die europaweite Umsetzung von digitalen Geschäftsmodellen zu erleichtern. Wir streben an, die Freizügigkeit von Daten als fünfte Dimension der Freizügigkeit zu verankern.“ – stellt sich doch die Frage, wessen Daten – die der Bürger*innen? Und in wessen Freizügigkeit – die der Datenkraken? Und welche fünfte Dimension – den Hyperspace ?

Viel Sicherheitsstaat, wenig Intelligenz

Ein zweifelhafter Umgang mit den Bürgerrechten zieht sich durch die gesamte schwarz-rote Koalitionsvereinbarung. An vielen Stellen haben Sozial- und Christdemokraten ihr problematisches Verhältnis zu den Grund- und Freiheitsrechten verklausuliert und versteckt. So wird etwa der Überwachungsstaat technisch aufgerüstet: „Um Sicherheit und Ordnung auch in der vernetzen Welt zu fördern, legen wir ein neues Rahmenprogramm für die zivile Sicherheitsforschung auf. … Wissenschaft, Wirtschaft, Sicherheitsbehörden und Einsatzkräfte sollen zusammenarbeiten.“ Wir wollen das Bundeskriminalamt als zentrales Datenhaus im polizeilichen Informationsverbund etablieren und einen gemeinsamen Investitionsfonds für die IT- der deutschen Polizei schaffen.“ Der Sicherheitsstaat rüstet ohne Rücksicht auf den Föderalismus oder das verfassungsrechtlliche Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten auf. Das Thema Ursachenerforschung des Terrorismus und Islamismus kommt in diesem Zusammenhang nicht vor.

Wie bereits in den siebziger Jahren soll ein Musterpolizeigesetz die Länder in die Pflicht nehmen, soll die Bundespolizei bundesweit zur Bekämpfung von Alltagskriminalität eingesetzt werden. Die „intelligente“ Videoüberwachung mit Gesichtserkennung soll erweitert werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) soll mehr Kompetenzen bekommen, Vorgänge an sich ziehen können und das Verfassungsschutzgesetz schon wieder novelliert werden – vermutlich um die skandalösen, derzeit im Hessischen Verfassungschutzgesetz beabsichtigten Erweiterungen wie den „Staatstrojaner“ und die verfassungswidrige Vermischung geheimdienstlicher Vorfeldbeobachtung und polizeilicher Gefahrenabwehr in die gleiche Richtung voran zu treiben. Außerdem soll das BfV als „zentrale Servicedienststelle“ für den Einsatz operativer Technik im Verbund gestärkt werden. Die haben dann schon mal alle Daten – auch die der Ländergeheimdienste – verfassungsrechtlich zweifelhaft! Ebenso übel und rechtstaatswidrig, die Absicht, dass alle Organisationen, die gefördert werden, um Rechtsextremismus und Salafismus – sowie wegen G20 nun auch gegen Linksextremismus – mit Aussteiger- oder Aufklärungsprojekten politisch entgegenzuwirken, zukünftig wie in Hessen geplant, vom Verfassungsschutz überprüft werden sollen – also jeder Stadtjugendring, die Jusos, die Junge Union und viele andere.

 Kein gutes Omen für den Rechtsstaat

Schon wieder will die GroKo durch Änderungen der Strafprozessordnung „Verfahren beschleunigen“, ohne, dass Bereiche und Gründe genannt werden, man will „in besonders umfangreichen Strafverfahren die gebündelte Vertretung der Interessen von Nebenklägern durch das Gericht.“ ermöglichen – also längere Vorträge von Nebenklägern, wie etwa im NSU-Verfahren, abkürzen. Darüber hinaus hat diese Koalition offensichtlich die Absicht, „gesetzgeberischen Handlungsbedarf einer Rechtsgrundlage für die Tatprovokation“ zu prüfen, also die Tätigkeit von „Agents Provokateurs“ zu legalisieren – vor dem Hintergund der Vorkommnisse um den Attentäter Anis Amri und weiterer Fälle ein rechtstaatlich mehr als zweifelhaftes Unterfangen.

Verleugnete Migration, getarnte Obergrenze

So defensiv und hilflos, wie sich die SPD und insbesondere Martin Schulz als Spitzenkandidat von der rassistsch motivierten Kampagne der AfD und Teilen der Öffentlichkeit im Wahlkampf hat treiben lassen, in gleicher Weise behandelt die GroKo das Thema Einwanderungsrecht. Eine wichtige und breit gesellschaftlich zu diskutierende Frage, an der sich Humanität, Menschenbild und die Offenheit unserer Gesellschaft prüfen lassen muss, wird von dieser Koalition in einem Spiegelstrich unter „Ausbildungsinitiativen“ abgehandelt. Wer in diesen drei Möchtegern-Regierungsparteien glaubt eigentlich, dass auf diese Weise eine gesellschaftlich notwendige Diskussion derart abgehandelt werden kann? Wie verzagt sind sozialdemokratische Führungskräfte inzwischen, während ihre Parteimitglieder in zahllosen Flüchtlinginitiativen und in der ehrenamtlichen Tätgkeit mit Migranten täglich hervorragende Integrationsarbeit leisten?

Da heisst es versteckt in Zeile 2968: „Um Deutschland für qualifizierte internationale Fachkräfte noch attraktiver zu machen, wollen wir ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschieden, mit dem wir den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland ordnen und steuern.“ Keine Kriterien, keine Anhaltspunkte, wie ein solches wichtiges Gesetz aussehen könnte. Vielleicht deshalb, weil die SPD im Gegenzug die „Obergrenze“ der CSU mit flexiblem Rahmen schlucken musste: „…mit Blick auf die vereinbarten Maßnahmen und den unmittelbar steuerbaren Teil der Zuwanderung – das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bleiben unangetastet – stellen wir fest, dass die Zuwanderungszahlen (inklusive Kriegsflüchtlinge, vorübergehend Schutzberechtigte, Familiennachzügler, Relocation, Resettlement, abzüglich Rückführungen und freiwilligen Ausreisen künftiger Flüchtlinge und ohne Erwerbsmigration) die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000 nicht übersteigen werden.

 Sie sind auf Odyssee, Odysee….

 Stellen wir fest, dass…nicht übersteigen werden – so etwas nennt man Obergrenze! Und dann die sogenannte „Härtefallregelung“, im Familiennachzug, von der 2017 ganze 96 Personen profitiert haben sollen: „Für diese Regelung zum Familiennachzug bei subsidiär Geschützten ab dem 1. August 2018 ist die Festsetzung erfolgt, dass der Zuzug auf 1000 Personen pro Monat begrenzt ist und die Härtefallregelung nach §§ 22 und 23 Aufenthaltsgesetz jenseits dieses Kontingents Anwendung findet. Die weitere Ausgestaltung des Gesetzes obliegt den Koalitionsparteien bzw. deren Bundestagsfraktionen… Dieser Familiennachzug wird nur gewährt, wenn es sich um Ehen handelt, die vor der Flucht geschlossen worden sind, keine schwerwiegenden Straftaten begangen wurden, es sich nicht um Gefährder handelt, eine Ausreise kurzfristig nicht zu erwarten ist.“ Diese „Härtefallregelung“ ist ein Placebo, eine Farce und eine menschliches Armutszeugnis, das seinen Namen nicht verdient.

Doch damit nicht genug, vereinbart die SPD mit der CDU/CSU nun endgültig zentrale Internierungslager für Asylsuchende und Flüchtlinge. „Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, brauchen Asylverfahren, die schnell, umfassend und rechtssicher bearbeitet werden. Deren Bearbeitung erfolgt künftig in zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen, in denen BAMF, BA, Jugendämter, Justiz, Ausländerbehörden und andere Hand in Hand arbeiten. In den AnKER-Einrichtungen sollen Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung bzw. Rückführung (AnKER) stattfinden. Wir streben an, nur diejenigen auf die Kommunen zu verteilen, bei denen eine positive Bleibeprognose besteht. Alle anderen sollen, wenn in angemessener Zeit möglich, aus diesen Einrichtungen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.“ Anker – das klingt nach sicherem Hafen – welch ein Euphemismus – und „zurückführen“ tönt doch viel humaner als „abschieben“ – manche saufen sich die Wirklichkeit schön, die GroKo redet sie sich schön. 

 …weil der Wahnsinn am Steuer steht!

Als I-Tüpfelchen dieses migrationspolitischen GAU schlucken die Sozialdemokraten noch eine Regelung, die bereits erfolgreiche integrierte Menschen wieder aus ihren Zusammenhängen herausreisst, für eine dauernde Überlastung des BAMF sorgt und wegen der bereits in der Vergangenheit hunderttausende Erstanträge unbearbeitet auf Halde lagen: Spätestens drei Jahre nach einer positiven Entscheidung ist eine Überprüfung des gewährten Schutzes erforderlich. Für dieses Prüfverfahren werden verbindliche Mitwirkungspflichten der Betroffenen gelten.

Nein, Ralf Stegners große Klappe zu Beginn der Verhandlungen, man könne sich auf die Sozialdemokraten verlassen, haben sich wieder einmal als Schaumschlägerei erwiesen. Er hat ein mieses Ergebnis ausgehandelt.

Die Umweltpolitik dieser GroKo entspricht genau dem, was sich bereits in den Sondierungen abzeichnete: Die „Handlungslücke zur Erreichung des Klimaziels 2020 so schnell wie möglich zu schließen“ also das Abrücken von den eigenen Klimazielen ist der politische Offenbarungseid dieser Regierung. Mehr Wort brauchen nicht darüber verloren werden. Insektenschutz ja, aber zu Glyphosat kein Wort, auch kein Verbot des Einsatzes von Notfallantibiotika in der Tiermast. Das zweifelhafte „Tierwohl-Label“ soll erhalten bleiben und die Versorgung mit billigem Strom geht vor ökologischer Stromerzeugung – wie in der letzten GroKo gehabt.

Was also bleibt unterm Strich?

Ja, es gibt positive Seiten dieser Koalitionsvereinbarung. Die gleichwertige Finanzierung der Sozialbeiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist – wenn auch nur die Rückkehr zum ursprünglichen Status Quo – eine gute Nachricht. Aber schon bei den Ergebnissen um die Aufhebung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen greift erneut die Verwirrung aufgrund des Schlingerkurses dieser Regierung um sich: Den Arbeitgebern ist die Lösung viel zu weitgehend, der DGB feiert sie und viele, die sie lesen, empfinden sie als schwer verständlich. Mit dem Einstieg in die Bürgerversicherung wurde auch kein erster Schritt erreicht.

Nein, es ist nicht alles schlecht, was da nächtelang ausverhandelt wurde, es ist nur ideenlos, rückwärtsgewandt, stellt sich nicht entscheidenden Zukunftsfragen wie die nach den sozialen Auswirkungen der Digitalisierung, betreibt keine wirkliche Fluchtursachenbekämpfung, hat keine neuen Ideen für eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Beteiligung Russlands sondern verwaltet Deutschland und Europa richtungslos und auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.

Schulz‘ Entsorgung und Merkeldämmerung

Die personellen Vereinbarungen der GroKo können im Prinzip niemanden überraschen.

Angela Merkels Stern scheint mit dieser Koalition den Zenit endgültig überschritten zu haben. Zu krass sind aus Sicht vieler Konservativer in der CDU die Zugeständnisse an die SPD, der Arbeitgeberflügel der Union muss vor Wut schäumen, weil Merkel in der Tat um des Erhalts der eigenen Macht die Sozialdemokratisierung der CDU mit diesem Koalitionsvertrag in dessen Augen noch weiter getrieben hat, als bisher. Gleichwohl gibt es derzeit niemanden, der sich gegen sie aus der Decke wagt und sie wird ihre Vertrauten Julia Klöckner und möglicherweise gar Annette Kramp-Karrenbauer zu sich nach Berlin holen. Denn auch bei der CDU/CSU ist das Personalkarussell eröffnet, verabschiedet sich Thomas de Maiziére und Horst Seehofer gilt bereits jetzt als Auslaufmodell. So ist mit Spannung zu erwarten, ob sich auf dem CDU-Parteitag zaghafte Stimmen der Opposition gegen Merkel erheben werden.

Die SPD-Basis hat es scheinbar in der Hand, jedoch ist nicht zu erwarten, dass die Mitglieder anders entscheiden, als der letzte Parteitag. Knapp könnte es schon werden. Schulz‘ Stern sank drastisch während des Wahlkampfes – zu viele Fehler, Selbstüberschätzung, ein falsches Image als „Bürgermeister von Würselen“ und mangelnde Sachkenntnis in Flüchtlingsfragen sowie keine Strategie: Damit ist kein Kanzler zu machen. Schon auf dem SPD-Parteitag zeichnete sich sein politisches Ende ab und die heimliche Vorsitzende Nahles machte mit ihrer engagierten Rede klar, wer in der Partei die Mehrheiten besorgt und in der Hand hat. Schulz wird nun der teuerste Entsorgungsposten seit Guido Westerwelle als Außenminister sein. Er kann im Prinzip nicht erklären, was seine Politik von der seines Vorgängers Sigmar Gabriel unterscheidet und kann allenfalls den Mitleidsbonus für getane Schwerstarbeit in schwerer Stunde für sich reklamieren. Ob das die SPD-Mitglieder überzeugt, ist ziemlich offen, birgt für Nahles das größte Risiko neben Gabriel, den sie unverdient schachmatt gesetzt hat.

Ob Schulz‘ späte Karriere eine ganze Legislaturperiode hält oder ob Andrea Nahles nach zwei Jahren Schamfrist die Reißleine zieht, sei dahin gestellt. Klar ist, dass sie als Fraktions- und Parteivorsitzende eine Machtfülle innehat, die ihr erlaubt, nicht nur jederzeit mitzuregieren, sondern auch im Zweifelsfall wie ein Trainer die Spieler im Kabinett auszutauschen oder sogar das Spiel vorzeitig zu beenden. Diese Option sollte die CDU/CSU nicht unterschätzen.

Grokos Werk und Lindners Beitrag

„Lieber gar nicht regieren als schlecht regieren“ hat Christian Lindner den Ausstieg der FDP aus den „Jamaika“-Verhandlungen begründet. Im Lichte dieses Koalitionsvertrages muss er sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht durch den wehleidigen Rückzieher letztlich ein ganz schlechtes Regieren erst ermöglicht, gar herbeigeführt hat – Täterschaft durch Unterlassen. Die SPD hat gezeigt, dass für die Rückführung des Soli noch Spielraum war, dass noch lange nicht alles ausgereizt war. Die guten Ansätze in der Wirtschafts- Innen- und Rechtspolitik, aber vor allem Digitalisierung und Innovation – vielleicht sogar eine bessere Umweltpolitik sind so lange vor dem Ziel aufgegeben worden. Insofern erinnert die Taktik der FDP, sich in schwieriger Lage „vom Acker“ zu machen, an die Strategie mancher linker Splittergruppen der 68er wie der KPD/ML, die damals ihre Mitglieder aufforderte, CDU und CSU zu wählen, damit sich die „Widersprüche im Kapitalismus“ schneller zuspitzen sollten und so der Weg zu Revolution beschleunigt werde. Einige von denen sind später bei den Grünen gelandet und die glühendsten „Realos“ geworden. Merke: Auch wer die Verantwortung scheut, den kann sie ganz schnell wieder einholen!

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