Heimkommen. 
Die große Sehnsucht.

Heimkommen. Die große Sehnsucht.

Am Anfang meines Studiums wollte ich unbedingt Kardiologe werden. Wie Grisu, der kleine Drache, der unbedingt zur Feuerwehr wollte, sagte ich nach dem Zivildienst, dass für mich nur die Kardiologie eine berufliche Heimat wäre.

Die 15 Monate in der Klinik nach dem Abitur hatten mich zwar auch mit dem Sterben vertraut gemacht, aber der Wunsch, Leben zu retten, invasiv und lebenretteneingreifend tätig zu werden, Katheter und Stents zu setzen war derart groß, dass es gefühlt keine andere Option gab.

Famulaturen, Praktika, AIP… alles sollte mich dorthin bringen, wo ich sein wollte. Dann aber, mit zunehmender Erfahrung in der Inneren Medizin, meiner Zeit auf der Intensivstation, auf der ich irgendwann wegen meiner Gespräche mit den Angehörigen den Spitznamen „Jürgen Fliege“ (nach dem gleichnamigen TV-Pfarrer) bekommen hatte, und den zahlreichen Hausdiensten wurde mir klar, dass es eine andere Heimat geben kann.

Eine Heimat mit Ruhe und Zeit. Mit Nähe und menschlicher Fürsorge. Für den Patienten und seine Angehörigen. Der Wechsel in die Palliativmedizin war dann eigentlich die logische Schlussfolgerung und der notwendige Schritt. Und plötzlich war es wieder da. Ein zweites Mal: heimkommen.

Nicht nur, weil es sich für mich selbst so angefühlt hatte, sondern weil es mir in der täglichen Arbeit immer wieder begegnete. Oder besser – sie mir begegneten: Menschen. Schwerkrank. Sterbend. Mit dem Wunsch heimzukommen. Und dabei war nicht automatisch der Wunsch gemeint, die Klinik zu verlassen und zuhause zu sein. Nein, es ging um ein inneres Heimkommen. Einen Platz zu finden, der einen trägt, auffängt, nimmt und liebt, wie man ist. Für die einen war dieser Platz ihre Familien, also die Menschen selbst. Andere nannten ihn Himmel oder Gott. Jeder hatte für sich das auserkoren, was ihm helfen sollte, die kommende Zeit mit Leben zu füllen, wenngleich dieses Leben vom Sterben umgeben war.

Und wenn es für uns Kinder hoffentlich und bestenfalls unsere Eltern oder Großeltern sind, aus denen wir entspringen und die uns Schutz und Zuflucht bieten, uns aufnehmen, immer und jederzeit, sind es später meist unsere selbstgegründeten Familien, unsere Partner und geliebten Menschen um uns herum. Wieder einmal dürfen wir dann heimkommen. Im Außen und Innen.

Auch wenn es wohl nicht die Ebene des mütterlichen Schoßes oder der väterlichen Schulter hat, ist es eine andere tiefe Heimat, nach der wir uns sehnen und die wir vorerst gefunden haben. Mit den ersten größeren Verlusten, dem plötzlichen Alleinsein, der Sorge vor der Einsamkeit oder auch der realen Existenz von Einsamkeit in unserem Leben, wird der Ruf nach einem Seelenschoß immer größer, und nichts scheint uns mehr so stützen zu können wie in der Kindheit die Eltern oder in der Jugend der beste Freund oder die beste Freundin. Stirbt dann einer dieser wichtigen Schutzkräfte, scheint der Hafen zu implodieren und zu versinken.

Verlust, Angst, Trauer reihen sich vielleicht als unsere Begleiter in den täglichen Ablauf ein. Heimkommen wird immer wichtiger und die Suche nach dem Ort, wo man diese Heimat vermutet, immer intensiver und immer anstrengender. Dabei ist diese Heimat ja oft kein Platz, keine real existierende Stelle irgendwo, bei der man sagen kann: Hier bin ich jetzt daheim.

Diese Heimat, die wir so oft wirklich suchen und derentwegen wir uns oft mit den falschen Momenten und Dingen, Menschen oder Ausflüchten umgeben, liegt aber gar nicht da draußen. Nicht in der Sonne oder dem Regen, nicht am Strand oder der Wohnung, nicht im Geld, im Auto, Handy oder Job.

Diese Heimat liegt eigentlich nur in uns selbst. In jedem Menschen. Jeder kann für sich Heimat und Hafen sein. Sein eigener Seelenschoß. Nur dann haben wir überhaupt die Chance, anderen diesen Hafen geben zu können.

Erst einmal müssen wir in uns ruhen und Frieden finden, ehe wir aufbrechen können, um unser Glück beim anderen zu suchen oder besser – mit ihm zu teilen. Finden werden wir es nur in uns. Auch den Frieden. Dann aber können wir ihn weitergeben und all denen, die vorübergehend diesen Platz suchen und noch nicht bei sich gefunden haben.

Unsere alten Mitmenschen, Nachbarn, Eltern, Großeltern, Patienten und all die anderen, die auf ein Leben zurückblicken können, werden vielleicht diese bekannte und doch wieder andere Sehnsucht kennen. Diesen Wunsch in sich tragen, heimzukommen. Noch einmal. Dann „so richtig“ in ihren Augen.

Heimkommen ist ein so wunderschöner Begriff, weil er ein Gefühl ausdrückt. Eine Sehnsucht benennt. Einen Frieden bedeutet. Und immer neu in seiner eigenen Zeit. Sei es als Kind, als Erwachsener im aktiven oder ausschleichenden Leben. Heimkommen in sich bedeutet auch, sich selbst zu lieben, ohne in sich verliebt zu sein. Sich selbst zu würdigen und zu schätzen, also den eigenen Wert zu erkennen und den Schatz in sich wahrzunehmen.

Seid Euer eigener Hafen. Euer eigener Seelenschoß und kommt heim. In Euch. Zu jeder Zeit.

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