Hilfe! Schluckauf beim Gendern
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Hilfe! Schluckauf beim Gendern

Eigentlich wollte ich über etwas anderes schreiben, etwas ganz anderes, aber letztens ereignete sich eine Situation, die mich ins Grübeln brachte …

In einer gemütlichen und großen Runde saßen wir in einem Restaurant und sprachen über diverse Themen und Anliegen. Dabei ist anzumerken, dass wir eine primär männliche Gruppe im höheren Alter sind und von den wenigen Frauen war nur ich an diesem Abend da gewesen. Diese demografische Verteilung ist nicht der Auslöser dieses Beitrags, sondern der verwunderte Blick eines Freundes in meine Richtung, der bei diesem Zusammentreffen das Protokoll schrieb, und mich plötzlich Fragte: „Gendern wir eigentlich im Protokoll?“

Nein, aber sollten wir? Das brachte mich ins Grübeln. Obwohl es in Deutschland etwas mehr Frauen (50,70 %) als Männer (49,30 %) in der Bevölkerung gibt (bpb, Stand 2020) und Frauen die höheren Schulabschlüsse (40,50 % zu 39,40 % im Jahr 2019, WSI 2022) erzielen, herrschen über die Jahre hinweg die gleichen Probleme: durchschnittliche -18 % schlechtere Bezahlung bei gleicher Arbeit (Gender-Pay-Gap, DeStatis 2022), 9 % - 50 % höhere Altersarmut (BMFSFJ 2021), nur 29,4 % weibliche Führungspersonen (DeStatis, 2019), etc.

Zwar mag es über die Jahre hinweg Veränderungen und auch positive Entwicklungen gegeben zu haben, aber es geht nur langsam voran. Sehr, sehr langsam. Doch was und besonders wie soll und kann man die Situation von Frauen verbessern? Zum Thema Führungspositionen wurde im Jahr 2015 das Führungspositionen-Gesetzt (FüPoG) verabschiedet und im Jahr 2021 als FüPoG II erweitert. Ziel des Gesetzes ist, den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen und verbindliche Vorgaben für die Wirtschaft und den öffentlichen Dienst zu machen. Betroffen sind etwa 66 Unternehmen (BMFSFJ 2021), die börsennotiert und paritätisch mitbestimmend sind. Welchen Einfluss und Auswirkung dieses Gesetz auf diese und weitere Unternehmen und die Gesellschaft haben wird, wird sich zeigen. Aktuell kann ich aber einige Stimmen an dieser Stelle beruhigen – wenn man als Frau auf der Straße angesprochen wird, dann wird einem kein Stuhl im Vorstand oder Aufsichtsrat angeboten. Leider. Aber vielleicht noch nicht.

Neben dieser rechtlichen Veränderung taucht auch immer mehr eine sprachliche Bewegung auf: Gendern. In wissenschaftlichen Arbeiten, Reportagen oder vereinzelt auch im Gespräch wird gegendert. Dabei gibt es verschiedene Formen: Kund_innen, Kund*innen, Kund:innen, Kund'innen, … Hilfe! Es gibt keine einheitliche Schreibform und für das ungewohnte Ohr klingt es wie ein Dauer-Schluckauf. Beim Lesen und Schreiben wird es besonders schlimm, denn es stört den Lesefluss und durch die Grammatik stolpert man permanent bei geschlechtlichen Konjugationen bis man anfängt an sich selbst zu zweifeln und irgendwann vor Frust überlegt es gleich wieder bleiben zu lassen. Diesen Aufwand und Frust umgehen immer mehr Menschen, indem sie beispielsweise bei wissenschaftlichen Arbeit zu Beginn vermerken, dass man in der vorliegenden Arbeit das generische Maskulinum beibehält und dies sich zugleich auf die männliche, weibliche und weitere Geschlechteridentitäten bezieht – das ist der eigentliche Grund für diesen Beitrag und warum ich bei der Frage, ob im Protokoll gegendert wird, ins Grübeln kam. Es gibt keinen goldenen Weg. Der Mensch ändert ungern seine Gewohnheiten, besonders wenn es über Jahrhunderte hinweg gut funktioniert hat (hierbei ist die Bewertung natürlich immer eine Frage der Perspektive), was man bei der Verabschiedung von FüPoG gesehen hat. Das Gendern in der deutschen Sprache hingegen ist eine Bewegung und Protest zugleich und spiegelt die aktuelle Situation, Wahrnehmung und Empfindung der Gesellschaft wieder. Die Intention ist vom Ansatz her richtig, denn Sprache prägt, aber in der Umsetzung gibt es zwei wichtige Probleme:

  • durch das Gendern wird die männliche und weibliche Form gleichermaßen in den Vordergrund gestellt, aber was ist mit dem dritten Geschlecht? Zwar soll das jeweilige Gender-Zeichen alle Geschlechter beinhalten, aber wäre ich eine Person des dritten Geschlechts, dann wäre mir das nicht ausreichend, denn man sieht/hört das weibliche und männliche Geschlecht, aber das diverse Geschlecht fehlt
  • die Grammatik ist nicht kompatibel mit dem Gendern. Das Beginnt bei der Wahl des Artikels (der*die Reporter*in, ein*e Reporter*in, jede*r Reporter*in) und geht beim Verb, Adjektiv und dies bei den verschiedenen Zeitformen weiter. Eine einheitliche Regelung gibt es nicht. Es wird nur empfohlen weitestgehend neutral zu formulieren, aber da stößt man auch bald an seine Grenzen

Sollen wir also das Gendern lassen? Nein. Der Ursprung der Bewegung ist wichtig und die Sprache ist immer im Wandel, weil sie durch die Zeit und Gesellschaft geprägt und beeinflusst wird. Anstatt aber die Grammatikregeln zu erweitern und sie damit noch komplizierter zu gestalten, stelle ich eine andere Idee (die sowohl einfach als auch komplex ist) in den Raum, wodurch gegendert werden kann ohne ein aktuell bestehendes oder zukünftiges Geschlecht auszuschließen und es beim Lesen und Schreiben keinen Krampf verursacht: ein*e*es geschlechterneutral*e*es Deutsch*e*es :)

Dr. Regine Schmalhorst

Den Mutigen lächelt das Glück

2 Jahre

Liebe Yasemin Demir, ich bin da ganz klar: ja, wir gendern, denn Sprache schafft Wirklichkeit 😉. Wir haben viele Möglichkeiten zu gendern, auch ohne Schluckauf beim Sprechen, indem wir anders formulieren und dadurch allen Geschlechtern gerecht werden können. Wir brauchen noch ein bisschen Übung, doch ich bin zuversichtlich 😉🌈. Liebe Grüße und bis bald 👋

Eduard Sawatzki

Quality Manager @Siemens Mobility | First-Gen College Grad | 6σ Green Belt

2 Jahre

Klasse Beitrag, Yasemin! Ich finde es toll, dass Du dich positionierst und Stellung nimmst! Ich würde gerne meinen weissen-Cis-Mann-Gedanken in die Runde werfen aka. mansplainen oder herrklären (um auch den Anglizismenhassenden gerecht zu werden): In mittleren Abschnitt stellst du die Frage "[...]wie soll und kann man die Situation von Frauen verbessern" und nennst FüPoG als eine Massnahme und schliesst das Gendern hinten dran. Ich persönliche finde, dass diese Argumentationskette Ursache und Wirkung vertauscht: Gendern führt nicht zu einer Verbesserung der Situation für Frauen und nicht-binäre Menschen, sondern erst die Verbesserung der Situation der genannten Personengruppen führt dazu, dass sie jetzt auch einen Anspruch an die Sprache stellen können und sollen! Denn die deutsche Sprache ist nicht nur eine schwierige, sondern auch eine patriarchalische geprägte, das sich natürlich auch auf die Ästhetik und Melodie der Sprache ausübt. Deswegen klingen zunächst gendergerechte Sprache "merkwürdig" und "fremd", aber das wird mit der Zeit besser. Viva la gendergerechte Sprache!

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