"John Stuart Mill integriert eine moralische und soziale Dimension in das Nützlichkeitsprinzip"
Interview mit Jean-Marc Daniel, Ökonom und Dozent
Von Jérôme Sicard
Universalgenie, Philosoph, Ökonom und Politiker, der er war, kämpfte er im 19. Jahrhundert für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands und für die Frauenemanzipation – beides sehr moderne Anschauungen im damaligen Grossbritannien. Zwar ist sein Werk als Ökonom in die Jahre gekommen – seine liberale Vision einer Gesellschaft, die die individuelle und unternehmerische Entwicklung, den Wettbewerb und den freien Handel fördert und gleichzeitig die Ungleichheit minimiert, hat jedoch nichts an Aktualität eingebüsst. Jean-Marc Daniel, der seine Histoire de l’économie mondiale (Geschichte der Weltwirtschaft) im Tallandier-Verlag veröffentlicht hat, erläutert für uns die wichtigsten Grundgedanken.
Wo ist John Stuart Mill in der liberalen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts anzusiedeln?
Generell gilt John Stuart Mill als der letzte klassische Wirtschaftswissenschaftler, der im Wesentlichen die Thesen von David Ricardo aufgriff. In gewisser Weise ist er ein Zeitgenosse von Karl Marx. Obwohl Mill im Mai 1806 und Marx im Mai 1818 geboren wurde, erschien eines von Mills Hauptwerken, seine Principles of Political Economy (Grundsätze der politischen Ökonomie), im Jahre 1848, genau wie das Manifest der Kommunistischen Partei, das Gemeinschaftswerk von Marx und Engels. Mill starb am 8. Mai 1873 in Avignon. Im Jahr 1871 veröffentliche Jevons das Werk, mit dem die Hinwendung zum Marginalis mus bzw. Grenznutzen-Prinzip und zur Verwendung der Mathematik bei der Formulierung wirtschaftlicher Theorien begann. Letzterer stand Mill mit grosser Skepsis gegenüber.
Worin bestehen die sozialen Anschauungen von Mill?
Mill schloss sich einigen Anhängern von Ricardo an, zu denen auch der Franko-Italiener Pellegrino Rossi zählte. Sie unterschieden zwischen einer wissenschaftlichen Wirtschaftslehre, die wie die Physik wiederkehrende Gesetze aufstellt, und angewandter Wirtschaft, in die die politische Macht eingreift. Mill vertrat die Auffassung, dass Produktion, also die Schaffung von Wohlstand, anhand eines streng wissenschaftlichen Ansatzes analysiert werden muss, dessen Ergebnisse nicht in Frage gestellt werden können, während die Analyse, wie dieser Wohlstand zu verteilen ist, der Politik obliegt. Die Herleitung des Wachstums beruhte auf einer wissenschaftlichen Betrachtung, die zu dem Schluss kam, dass Wachstum ohne Sparmassnahmen und technischen Fortschritt nicht möglich sei. John Stuart Mill prognostizierte darüber hinaus eine Erschöpfung dieses technischen Fortschritts und damit das Vorhandensein einer Obergrenze für die Produktion. Er sah eine Vollendung der industriellen Revolution in einem „stationären Zustand“ voraus, in dem der Wohlstand durch die Entfaltung der Künste wächst. Der Staat hingegen müsse aktiv werden und sich über den Egoismus derjenigen, die keine Steuern zahlen wollen, und den Hass der Neider hinwegsetzen. Er müsse eine Politik verfolgen, die das Wettbewerbsumfeld sicherstellt und das Privatvermögen schützt, gleichzeitig aber die soziale Ungleichheit reduziert. Voraussetzung für eine derartige Politik ist nach Auffassung von Mill ein Steuersystem, das auf einer Steuer auf Grundbesitz und einer hohen Erbschaftssteuer beruht. Später, vor allem nach den Revolutionen von 1848, näherte er sich den gemässigten Sozialisten an, was ihn dazu brachte, die Genossenschaftsbewegung zu unterstützen..
Worin bestehen seine liberalen Anschauungen?
Liberal war seine Haltung zur Wirtschaft, da er die Theorien von Ricardo aufgriff. Liberal war er auch in der Politik, denn er entwickelt eine Vision der Freiheit, die nicht auf das Wirken von Unternehmen beschränkt ist. Er liess sich im Übrigen zum Abgeordneten der liberalen Partei wählen und amtierte von 1865 bis 1868.
Im Jahr 1859 veröffentlichte er sein Werk On Liberty – Über die Freiheit –, in dem er darlegt, welche Grenzen die Gesellschaft der Freiheit des Einzelnen auferlegen darf. Dazu schrieb er Folgendes: „Die Freiheit des Einzelnen darf nur dann durch einzelne oder mehrere Personen eingeschränkt werden, wenn dies zum Zwecke des Selbstschutzes geschieht. Der einzig legitime Grund, der den Einsatz von Gewalt durch eine Gemeinschaft gegen eines ihrer Mitglieder rechtfertigt, besteht darin, dieses Mitglied davon abzuhalten, den anderen Mitgliedern zu schaden. Das körperliche oder moralische Wohlergehen dieses Mitglieds, das anderen schaden will, ist kein ausreichend relevanter Grund.“
Auf welchen Grundsätzen beruhen die Arbeiten von John Stuart Mill?
Als erklärter Anhänger von Ricardo vertrat er die Auffassung, dass die Wirtschaft durch das Interesse strukturiert werde – was Ökonomen als das Hedonismus-Prinzip bezeichnen –, dass die Produktion im Raum durch abnehmenden Ertragszuwachs begrenzt und dass die Wirtschaft generell durch Wettbewerb und freien Handel verbessert werde.
Welcher war letztendlich sein wichtigster Beitrag zu den Wirtschaftswissenschaften?
Er war der Erste, der eine ausführliche Analyse des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage vorlegte. Für seine Vorgänger war dies eine Selbstverständlichkeit. Für Mill ist dieses Gleichgewicht einerseits als Notwendigkeit und andererseits auch als erfreulicher Effekt des Wettbewerbs zu betrachten. Er war der Meinung, dass diese Ausgewogenheit umso strikter dargestellt sein müsse, da Pellegrino Rossi auf das Problem der zeitlichen Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage hingewiesen hatte. Mill vertrat die Anschauung, dass sich dieser Zeitunterschied stabilisiere und zu seiner korrekten Beschreibung nur anerkannt werden müsse, dass die Lagerhaltung ein Parameter der Nachfrage sei.
Er entfernte sich zudem vom Wertkonzept, mit dem sich Ricardo und später Marx beschäftigt haben, und demzufolge der Preis die Menge an notwendiger Arbeit zur Herstellung eines Gutes widerspiegelt. Er vertrat die Meinung, dass das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage den Preis bestimme.
In welchen Bereichen war Mill ein Vordenker?
Für George Stigler, der 1982 den Nobelpreis für Wirtschaft für seine Arbeiten über die Geschichte der Wirtschaftsphilosophie erhielt, ist Mill nicht nur ein weiterer Vertreter der klassischen Schule, sondern auch der uninteressanteste. Umgekehrt gilt Mill für Robert Heilbroner in seinem 1953 erschienenen Buch The Worldly Philosophers (Die bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler) als der wichtigste Ökonom. Er schreibt, dass John Stuart Mill angesichts des begründeten «Ja» von Adam Smith und des resignierten «Ja» von Ricardo zum Markt bei der Verteidigung der Sozialtransfers ein «Ja, aber» vorschlug, welches das vernichtende «Nein» von Marx verhindern konnte..
In seinen beiden Essays On Liberty und dem 1879 posthum erschienenen On Socialism versucht Mills zu definieren, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die auf wirtschaftlicher Effizienz, dem Schutz der Freiheit und der Garantie eines würdevollen Lebens für alle aufbaut.
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Worin unterscheidet sich Mill von Bentham und dessen utilitaristischer Anschauung?
1861 veröffentlichte Mill Utilitarism, mit dem er zu einem der massgeblichen Denker des auf Bentham zurückgehenden Utilitarismus avancierte. Mill griff einige Grundelemente des Utilitarismus auf – das Streben des Individuums nach Glück durch die Steigerung der Lust und die Vermeidung der Unlust. Dies entspricht dem Hedonismus-Gedanken der klassischen Ökonomen. Nassau William Senior, der 1825 zum ersten Professor für Wirtschaftswissenschaften nach Oxford berufen wurde, begründete die Logik der Ökonomen mit vier Axiomen, deren erstes wie folgt lautet: „Every man desires to obtain additional wealth with as little sacrifice as possible.“ – „Jeder Mensch strebt zusätzlichen Wohlstand mit kleinstmöglichem Einsatz an.“
In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich Mill vom Utilitarismus von Bentham. Der erste Aspekt betrifft die Bemessung der Lust. Diese sei mehr oder weniger intensiv und von mehr oder weniger hoher Qualität, weshalb ein Weg gefunden werden muss, um diese Qualität zu berechnen. Der zweite Aspekt ist die Behauptung, dass sich die Wahrnehmung des Individuums für das, was Lust für es ausmacht, weiterentwickelt und durch Bildung verändert werden kann. Damit integrierte er eine moralische und soziale Dimension in das Nützlichkeitsprinzip.
Wie erklären Sie sich, dass das Werk von John Stuart Mill heute wieder so aktuell ist?
Die erneute Auseinandersetzung mit Mill ist weniger seinen Arbeiten als Wirtschaftswissenschaftler geschuldet als vielmehr seinen politischen Ideen. Sein Eintreten für eine Gesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen achtet und Armut bekämpft, entspricht den Zielsetzungen unserer Zeit, die von einer besorgniserregenden Zunahme der Ungleichheit geprägt ist. Verstärkt wird diese Sichtweise zum einen durch das Scheitern des sowjetischen Kommunismus, der gezeigt hat, dass es sinnlos, um nicht zu sagen: kriminell ist, die Freiheit im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu opfern; zum anderen durch die Grenzen der von der historischen Sozialdemokratie betriebenen Umverteilung.
Inwieweit bereitete John Stuart Mill im 19. Jahrhundert den Weg für John Maynard Keynes im 20. Jahrhundert?
Beide verkörpern das Gedankengut des linken Flügels der liberalen Partei ihrer Zeit. Sie vertraten die Auffassung, dass es Aufgabe des Staates sei, die Lebensbedingungen vor allem der am stärksten benachteiligten Menschen zu verbessern.
Allerdings haben wir es mit zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten zu tun. Keynes ist in vieler Hinsicht nicht einzuordnen. Er inspirierte die Sozialdemokratie, den politischen Ausdruck der von ihm verachteten Mittelschicht. Er wird von einigen Wirtschaftswissenschaftlern verehrt, obwohl er sich über sie lustig machte und schrieb, dass sie erst dann respektabel würden, wenn sie die gleichen Dienstleistungen wie Zahnärzte erbrächten. Von den Anhängern des Dirigismus wird er regelmässig zitiert, obwohl er sich selbst als Liberaler sah. Mill dagegen passt eindeutig nicht in diese Provokationslogik.
Und aus wirtschaftlicher Sicht sind ihre Ansätze völlig gegensätzlich.
John Stuart Mill zählt zur Gruppe der klassischen Ökonomen. Für sie kreiste das Wirtschaftswachstum um das Angebot von Waren und Gütern, wobei dem Sayschen Theorem zufolge jedes Angebot sich seine Nachfrage selbst schafft. Keynes machte aus seiner Verachtung für Jean-Baptiste Say keinen Hehl und vertrat die Ansicht, dass die Nachfrage die Determinante des Wachstums sei. Mill dagegen argumentierte, dass die Wirtschaft dank der kontinuierlichen Anpassung der Preise zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage tendiere, während das Postulat von Keynes auf der Starrheit von Preisen und Löhnen und einer Anpassung durch die Produktionsmenge beruhte. Die praktische Folge ist, dass nach Keynes ein nachhaltiges Gleichgewicht möglich ist, ohne dass Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt ausgeglichen sind – das Unterbeschäftigungsgleichgewicht. Um Vollbeschäftigung zu erreichen, empfiehlt er die globale Nachfrage durch höhere öffentliche Ausgaben zu steigern, während Mill zu flexiblen Löhnen rät.
Für welche grossen Reformen trat Mill ein?
Als Abgeordneter tat sich Mill vor allem durch sein Eintreten für das allgemeine Wahlrecht für Frauen hervor. Generell setzte er sich dafür ein, dass Frauen die gleichen Rechte erhalten wie Männer. Unbestritten ist ferner, dass die Gründer der britischen Arbeiterpartei, die aus der Gewerkschaftsbewegung kamen, von seinem letzten Werken inspiriert wurden.
Wie kommt es, dass der sozialliberale Mills seine Karriere grösstenteils bei der Britischen Ostindien-Kompanie verbracht hat, einem Musterbeispiel des 19. Jahrhunderts für den Kapitalismus und seine Schwächen?
Schon sein Vater James war Angestellter der Britischen Ostindien-Kompanie. Dieser James Mill erzog seinen Sohn nach sehr strengen Regeln: Mit 3 Jahren sprach John Stuart Griechisch, mit 8 beherrschte er die Differentialrechnung, mit 13 las er Ricardo und mit 20 verfiel er in eine Depression. Daraufhin gab er sein Jurastudium auf und trat eine Stellung an, die ihm sein Vater in unmittelbarer Umgebung organisiert hatte. Dort blieb er aus Trägheit, ohne jemals seine Arbeit oder seine Kollegen wertgeschätzt zu haben.
Wer sind die geistigen Erben von Mill heute?
Heute sind dies wohl die Denker dessen, was man in Frankreich einst als die „Zweite Linke“ und im Vereinigten Königreich als „Dritter Weg“ bezeichnete und heute vom Soziologen Anthony Giddens postuliert wird. Das Schröder-Blair-Papier aus dem Jahr 1999 gründet auf dem Gedankengut von John Stuart Mill. Doch die Entstehung einer gesellschaftlichen Umweltschutzbewegung konnte man im 19. Jahrhunderts nicht einmal ansatzweise erahnen.
Kurzbiographie - Jean-Marc Daniel
Der Ökonom und Dozent Jean-Marc Daniel ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der ESCP-Europe. Darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter in Paris an der Ecole des Mines und der École nationale de la statistique et de l’administration économique (ENSAE). Er begann seine berufliche Laufbahn als Verwaltungsangestellter des INSEE. Er ist Direktor der Zeitschrift Sociétal und schreibt regelmässig Kolumnen für die Zeitung Les Echos und den Wirtschaftssender BFM Business. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der Wirtschaftspolitik, sowohl in ihrer theoretischen als auch in ihrer historischen Dimension. Er hat diesen Themen mehrere Werke gewidmet, darunter La politique économique (Die Wirtschaftspolitik) in der Reihe Que sais-je, L’histoire vivante de la pensée économique (Geschichte der Wirtschaftsphilosophie), Huit leçons d’histoire économique (Acht Lektionen der Wirtschaftsgeschichte), Ricardo, réveille-toi, ils sont keynésiens (Ricado, wach auf, sie sind Keynesianer) und Le gâchis français (Das französische Chaos). Vor Kurzem veröffentlichte er sein Werk Histoire de l’économie mondiale (Geschichte der Weltwirtschaft) im Tallandier-Verlag. Jean-Marc Daniel ist Absolvent der École Polytechnique und der École nationale de la statistique et de l’administration économique (ENSAE).
Kurzbiographie - John Stuart Mill
Wäre er noch am Leben, wäre einer der führenden Akteure der ESG-Bewegung. Der 1806 geborene und 1873 verstorbene John Stuart Mill gilt als einer der grössten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts. Als Ökonom war er wie Adam Smith ein Jahrhundert zuvor auch ein Wirtschaftsphilosoph und begründete die klassische Schule neben berühmten Theoretikern wie Ricardo, Bentham, Malthus und Say. Beeinflusst durch Bentham und Ricardo, entwickelte Mill sein eigenes Konzept des Utilitarismus, den er – der Analyse von Jean-Marc Daniel zufolge – um eine moralische und soziale Dimension erweiterte. Als ein früher Vertreter der Nachhaltigkeit trat er für die Emanzipation der Frauen und die fundamentale Rolle ein, die der Staat im Dienste aller Bürger und bei der Verteilung des Wohlstands spielen muss, was er als „soziale Umverteilung“ bezeichnete. Aus diesem Grund hatte für ihn die Politik unbedingt Vorrang vor der Wirtschaft. Unter dem Einfluss der Ideen von Tocqueville formulierte er damit die Grundprinzipien moderner Demokratien.