„Man muss Milton Friedman im historischen Kontext lesen“

„Man muss Milton Friedman im historischen Kontext lesen“

Interview mit Christoph A. Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie, Universität Luzern - Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Von Andreas Schaffner

Milton Friedman, Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, gilt als einer der wichtigsten Ökonomen des letzten Jahrhunderts. Er hat unter anderem die Nixon- und die Reagan-Regierung beraten; später auch Margaret Thatcher. Friedman zählt zu den bekanntesten Vertretern der amerikanischen neoliberalen Schule. Für Christoph Schaltegger ist es höchste Zeit, die vorurteilsbeladene Interpretation des Neoliberalismus fallen zu lassen und sich ernsthaft mit dem Erbe des Monetarismus auseinanderzusetzen.

Warum ist Milton Friedman heute noch aktuell?

Christoph Schaltegger: Es gibt eine einfache Antwort und eine vielleicht etwas komplizierte. Zuerst die einfache: Wirtschaft und Staat haben einander in den letzten Jahrzehnten zunehmend durchdrungen, schon vor Corona, auch in der Schweiz. Die Stichworte lauten Staatswirtschaft und Wirtschaftsstaat: Der Staat beansprucht einen wachsenden Anteil des BIP für sich, immer stärker greift er ins Wirtschaftsgeschehen ein, bis hin zu einer neuen Industriepolitik. Die freiheitlichen Kräfte der Marktwirtschaft wieder verstärkt in den Vordergrund zu stellen, wie dies Milton Friedman seit 1960er Jahren angemahnt hat, kann angesichts dieser Tendenzen keine so schlechte Idee sein. Ausserdem erhält der von Friedman begründete Monetarismus in der Geldpolitik im heutigen Umfeld wieder seine Bedeutung: Inflation ist immer auch ein monetäres Phänomen. Das heisst: Geldmengenwachstum führt nicht zwangsläufig in die Inflation, aber ohne ein solches übertriebenes Wachstum kann kein Inflationsprozess am Leben gehalten werden!

Und nun die längere Antwort ...

Wir sollten uns hier von der Karikatur verabschieden, die Linke, Konservative, aber auch manche Liberale von «den Neoliberalen» zeichnen. Hierfür hilft es, in die Geschichte der Ökonomik hinabzutauchen und zu differenzieren. Milton Friedman wird am 31. Juli 1912 in New York geboren. Seine Eltern stammen aus der heutigen Ukraine und kamen als jüdische Einwanderer nach Amerika. Friedman hat als junger Mann hautnah erlebt, wie stark die Feinde einer offenen Gesellschaft, um mit Karl Popper zu sprechen, gewirkt haben. Sein Einstehen für die Freiheit des Individuums rückt ihn in die Nähe der von Carl Menger begründete Wiener Schule der Nationalökonomie rund um Ludwig von Mises, die später der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek bekannt gemacht hat. Friedman nahm im April 1947 auch am Gründungstreffen der von Hayek ins Leben gerufenen Mont Pelerin Society teil, die den Liberalismus nach den Planwirtschaften im Zweiten Weltkrieg neu lancieren wollte. Von 1970 bis 1972 war er sogar deren Präsident.

Was waren die Unterschiede zwischen einem Hayek, der später in Freiburg begründeten Schule von Ordoliberalen wie Walter Eucken und den «Chicago Boys» rund um Milton Friedman?

Die deutschen Ordoliberalen um Walter Eucken – die Begründer der Ordnungspolitik – begriffen den Ordo, die Ordnung, auch als eine moralische Kategorie: Es gibt kulturelle, institutionelle und mentale Voraussetzungen einer Marktwirtschaft. Diese Voraussetzungen muss der Staat durch geeignete Rahmenbedingungen schaffen. Das Gegenbild war Milton Friedman, der vor allem auf die freien Marktkräfte in einer Wettbewerbsordnung vertraute. Wettbewerb ist immer und überall gut, kann man verkürzt Milton Friedman und seine Chicago Boys zusammenfassen. Friedrich August von Hayek nahm gewissermassen eine Zwischenstellung ein. Sie lässt sich in seinem Opus magnum «Verfassung der Freiheit» nachlesen.

Friedman sagte einmal: «Die staatliche Lösung eines Problems ist für gewöhnlich genauso schlecht wie das Problem.» War er – im Gegensatz zu den Ordoliberalen – ein Staatshasser?

Nein, bestimmt nicht. Milton Friedman ist ohne Zweifel ein Verfechter des Neo-Liberalismus, also ein Verfechter der Haltung, dass dem Staat nicht nur Nachtwächteraufgaben zugedacht werden. Aber er sah auch die Probleme des Staatsversagens. Das verbindet ihn auch mit Hayek, der ja den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren neuen Wissens beschrieb. Bei den Ordoliberalen hingegen war – ganz klassisch – die Gestaltung über den Preis zentral. Auch dies muss man vor dem historischen Hintergrund verstehen: Deutschland, aber auch in vielerlei Hinsicht die Schweiz, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weitgehend eine Ständegesellschaft mit zum Teil staatlichen Mechanismen der Preisfestlegung. Der Schritt hin zur Preisfreigabe wurde von den Ordoliberalen und in der Folge auch vom deutschen Bundeskanzler Ludwig Erhard mit seinem Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft gegen alle Widerstände durchgeboxt. Diese Leistung kann man ihm nicht hoch genug anrechnen.

Dann würden Sie Milton Friedman und dessen Chicagoer Schule als die echten Neoliberalen bezeichnen?

Ja, aber nicht im Sinn der negativen Interpretation, die der Begriff in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfahren hat. Milton Friedman sah sich in der Tradition der europäischen Liberalen des 19. Jahrhunderts. Persönliche und wirtschaftliche Freiheit sind bei ihm untrennbar miteinander verknüpft. Milton Friedmans Skepsis gegenüber dem Staat sollte man meiner Meinung nach in den historischen Kontext stellen, als es galt, die freiheitlichen Gedanken nach den Kriegswirtschaften und Keynesianischen Experimenten des Deficit-Spending zu retten. Friedman war deshalb weit mehr als ein Ökonom, der – auch wenn er ursprünglicher Mathematiker war - am Pult sass und seine Glasperlenspiele verfertigte. Er analysierte die Weltwirtschaftskrise und mischte sich in die politischen Debatten ein: Er verteidigte das Erziehungsrecht der Eltern, forderte Bildungsgutscheine und auch die Abschaffung der Wehrpflicht. Ja, man weiss von ihm auch, dass er sich noch im hohen Alter gegen das Verbot von Cannabis-Konsum einsetzte. Bekannt waren auch seine Filme, wo er versuchte, in ehemaligen Goldgräberstädten oder auch Tabakplantagen der Frage nach den Ursprüngen von Inflation nachzugehen; natürlich immer auch mit einem pädagogischen Hintergrund und dem Rucksack des Monetaristen ausgestattet. Viele seiner Interventionen sind auf Youtube zu sehen – sehr lohnenswert!

Schauen wir uns doch im spezifischen auch den Monetarismus an.

Auf jeden Fall. Heute ist zwar keiner der Zentralbanker mehr ein dogmatischer Monetarist, doch angesichts der Inflation in den USA und im Euro-Raum müssen wir das Geldmengenwachstum einer Volkswirtschaft wieder ins Zentrum der Analyse stellen. Die Nationalbanken haben die vergangenen Krisen mit einer massiven Ausweitung der Geldmengen und einer Ausweitung ihrer Bilanz bekämpft. Die Lösung der Probleme war immer dieselbe: noch mehr Geld für die Wirtschaft, noch mehr Schulden für die Staaten. Die Folgen dieser expansiven Politik bekommt man jetzt zu spüren. Die Staatsverschuldung hat weltweit in bisher ungekanntem Ausmass zugenommen. Hier kommt der Monetarismus, der sich auf die Wirksamkeit der Geldpolitik fokussiert, an seine Grenzen. Heute müsste die Fiskalpolitik in einer Gesamtbetrachtung stärker berücksichtigt werden.

Als positives Beispiel des Monetarismus wird oft der sogenannte «Volker-Schock» bezeichnet, als der damalige Fed-Chef Paul Volker 1979 eine massive Zinssteigerung angekündigte. Wie sehen Sie das heute?

Auch hier müssen wir uns die damaligen Umstände vor Augen führen: Die Aufhebung des Goldstandards nach dem Bretton-Woods-System verschob weltweit die Gewichte zugunsten der Zentralbanken. Es bestanden aber noch keine Erfahrungen mit einer Geldpolitik bei flexiblen Wechselkursen. Vieles musste erst erfahren und gelernt werden. Ausserdem befanden sich die USA nach dem verlorenen Vietnamkrieg und den teuren Ausgabenprogrammen in einer anhaltenden Krise, einer Stagflation, also einer wirtschaftlichen Stagnation bei steigender Inflation. Der stark gestiegene Ölpreis erhöhte die Produktionskosten, die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 8 Prozent. Die ausserordentlich hohen Leitzinsen von zeitweise über 20 Prozent (!) hatten zwar einen radikal bremsenden Einfluss auf die Gesamtwirtschaft – aber sie konnten die Inflation unter Kontrolle bringen. Die Schattenseiten dieser Poliitik, die waren vor allem in ärmeren Ländern zu spüren.

Was passierte dort?

Zuvor hatten sich Investoren in die kapitalhungrigen Staaten Lateinamerikas, Afrikas, aber auch in Südkorea massive Positionen aufgebaut und die Staaten in der Folge beträchtliche Schuldenberge bei niedrigen Realzinsen angehäuft. Diese «Party» endete abrupt mit den Zinserhöhungen in den USA. Jene Staaten landeten in einer enormen Schuldenkrise, da ihre Schulden in US-Dollar denominiert waren.

Der Vergleich mit der gegenwärtigen Situation drängt sich auf: mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der Gefahr einer Rezession. Sehen Sie das auch so?

Ja, wir sehen, wie die hohe Nachfrage auf ein stockendes Angebot trifft und in der Folge die Preise steigen. Kommt das Problem der Lieferketten und der steigenden Zinsen dazu. Es droht also in westlichen Ländern tatsächlich eine hartnäckige Stagflation.

Hohe Inflation ist also keine gute Idee?

Auf keinen Fall. Sie kennen ja den Spruch von Lenin: «Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muss man ihr Geldwesen verwüsten.» Hier können wir uns an ein Zitat erinnern, das der ehemalige Bundesbank-Präsident Otmar Emminger – wie sein damaliger Schweizer Gegenpart Fritz Leutwiler ein pragmatischer Monetarist – zugeschrieben wird: «Wer mit der Inflation flirtet, wird von ihr geheiratet.» Gleichwohl muss man meiner Meinung nach nicht nur auf die Geldmenge schauen, sondern auch andere Faktoren wie den Arbeitsmarkt und die Fiskalpolitik im Auge behalten.

Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt, der sich immer stärker herauskristallisiert: dem neuen Wettbewerb der Systeme. Welche Position würde hier Milton Friedman vertreten?

In der Tat, wir sind in einem gewissen Sinn wieder in eine Art kalten Krieg zurückgefallen: Marktwirtschaft versus Staatswirtschaft, Demokratie versus Autokratie. Zu letzteren zählt Russland ebenso wie China. Wir müssen uns wieder auf unsere freiheitlichen Werte besinnen und uns eben gerade nicht am Vorbild der Staatswirtschaften orientieren, indem wir immer weitere Bereiche unserer Wirtschaft unter staatliche Obhut stellen. Die planwirtschaftlichen und sozialdemokratischen Reflexe, die wir in der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre verorten, gilt es zurückzufahren. Der Crony Capitalism, wo Big Business und Big Government unter einer Decke stecken, führt uns in die falsche Richtung. Fällt erst die Wirtschaftsfreiheit, fällt auch die Meinungsfreiheit – und die politische Freiheit.


Was also braucht es heute, in einem Satz gesagt?

Mehr Ordnungspolitik, weniger Mischwirtschaft!


Kurzbiographie

Christoph A. Schaltegger ist seit 2010 ordentlicher Professor für Politische Ökonomie und seit 2021 Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern und lehrt auch an der Universität St. Gallen zum Thema öffentliche Finanzen. Gemäss NZZ-Ranking zählt er zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Zuvor leitete er als Mitglied der Geschäftsleitung von Economiesuisse den Bereich Finanz- und Steuerpolitik. Bis 2008 arbeitete Christoph A. Schaltegger als Referent von Bundesrat Hans-Rudolf Merz im Eidgenössischen Finanzdepartement. Sein Studium schloss Christoph A. Schaltegger mit einem Lizentiat in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel ab, wo er 2003 auch sein Doktorat erwarb (ausgezeichnet mit dem Fakultätspreis 2004). 2009 folgte die Habilitation an der Universität St. Gallen. Anschliessend war er Visiting Scholar an der Queensland University of Technology in Brisbane, Australien.

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