Kann Künstliche Intelligenz erfinden?
Mit dem offenkundigen Erfolg der neuen KI-Systeme kehrt die alte philosophische und gesellschaftspolitische Frage, die schon die Gründerväter der KI gestellt haben, mit voller Wucht zurück: Können Maschinen schöpferisch tätig sein? Die Beantwortung dieser Frage wird ganz wesentlich den Sinn, Umfang und die Rechtsprechung zum Schutz geistigen Eigentums beeinflussen.
Um mich einer möglichen Antwort anzunähern, betrachte ich zwei Facetten geistigen Eigentums, bei denen diese Frage besonders relevant ist: Schutz auf Erfindungen mittels Patenten und Schutz auf künstlerische Werke mittels Urheberrecht.
Kann somit ein KI-System heute oder in näherer Zukunft
a) tatsächlich erfinderisch tätig sein (Patentsystem)?
b) tatsächlich künstlerische Werke hervorbringen (Urheberrecht)?
Für beide Ebenen gibt es Hinweise, die auf eine positive Beantwortung deuten. KI scheint sogar fähig zu sein, eigene Literatur und künstlerische Werke zu produzieren. 2018 wurde ein Gedicht – „Sonnenblicke auf der Flucht“ – veröffentlicht, das von einer KI geschrieben wurde. Werke von Goethe und Schiller fungierten als Trainingsdaten und das Gedicht wurde dann von der KI generiert. Dieses Gedicht wurde sehr unterschiedlich rezipiert. Ist es ein echtes künstlerisches Werk oder einfach eine Aneinanderreihung von Worten und Sätzen auf Basis moderner Algorithmen?
Wir müssen also der Frage nachgehen:
Was ist eigentlich ein kreativer, schöpferischer Akt (sei er technischer oder künstlerischer Natur)?
Und in weiterer Folge: Kann ein solcher von einer Maschine (einer Software) generiert werden?
Runco et al. definieren Kreativität als die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder originell und dabei nützlich oder brauchbar ist.[1] In diesem Zusammenhang ist zu ergänzen, dass Kreativität sich auch in einem künstlerischen Werk, das im engeren Sinn nicht „nützlich“ ist, zeigt. Allerdings reicht für Kreativität nicht alleine die Neuheit aus, sondern das Ergebnis muss auch einen „sinnvollen“ oder „sinnstiftenden“ Aspekt in sich tragen. Ansonsten wäre jede Handlung, die es noch nicht gab, also neu ist, automatisch kreativ, auch wenn sie bizarr oder sinnlos ist.
Diese Fähigkeit der Kreativität ist von allen Lebewesen auf diesem Planeten bis heute nur den Menschen gegeben. In einem gewissen Sinn können auch manche Tierarten erfinderisch tätig sein, diese Fähigkeit ist aber sehr limitiert. Beim Menschen scheint sie hingegen grenzenlos zu sein. Der Philosoph Max Scheler spricht in Der Stellung des Menschen im Kosmos von „ungeheurem Phantasieüberschuss“, „der von vornherein im Gegensatz zum Tier bei ihm angelegt ist“[2].
Wird diese Fähigkeit uns jetzt von KI streitig gemacht?
KI ist sehr gut darin, auf Basis von vielen Daten in hoher Geschwindigkeit zu lernen und die Ergebnisse wieder sehr geschickt miteinander zu kombinieren. So können heute etwa mit KI Gesichter generiert werden, die aus Fotos von drei unterschiedlichen Menschen zusammengefügt worden sind. Ein solches „künstliches“ Gesicht kann vom menschlichen Betrachter nicht von einem realen Foto unterschieden werden. KI hat also ganz selbstständig ein „neues“ menschliches Gesicht generiert.
Aber reicht das für einen echten schöpferischen Akt?
Üblicherweise wird Kreativität als etwas gesehen, das nicht „deterministisch“ von bereits Vorhandenem abgeleitet werden kann. Beispielsweise verlangt auch das Patentsystem einen „erfinderischen Schritt“, damit eine Erfindung patentfähig ist. Es braucht also so etwas wie einen Einfall, eine Inspiration, eine Intuition, die nicht direkt von bereits bekannten Erfindungen abgeleitet werden kann. Könnte eine KI einen solchen zusätzlichen Faktor, einen erfinderischen Schritt, hervorbringen?
Ich sprach in der Vorbereitung zu diesem Kommentar mit unterschiedlichen KI-Experten und diese hatten unterschiedliche Ansichten darüber, ob KI rein deterministisch funktioniert oder nicht.
Die eine Ansicht ist, dass KI nur aus Mathematik besteht und nur rein deterministisch funktionieren kann (auch wenn wir von „außen“ nicht mehr nachvollziehen können, wie es zu einem Ergebnis kommt („black box“)).
Die andere Ansicht aber ist, dass herkömmliche Computersysteme inklusive der „klassischen Methoden“ der KI zwar völlig deterministisch sind, aber in komplexen, künstlichen neuronalen Netzwerken, auf denen Deep Learning beruht, nicht deterministische Vorgänge realisierbar werden, die keine eindeutigen Wenn-Dann-Beziehungen mehr sind.
Wenn KI-Systeme letztlich deterministisch funktionieren, so ist aus meiner Sicht das wesentliche Grundelement von Kreativität nicht vorhanden: eine gewisse schöpferische Freiheit.
Aber auch wenn KI-Systeme nicht deterministisch funktionieren, bleibt noch das zweite Element: die Sinnstiftung, die Fähigkeit, Ergebnisse in einen Kontext einzufügen. Der Aspekt der Neuheit alleine ist eben nicht ausreichend für „echte“ Kreativität.
Genau diese Frage der Unterscheidung zwischen wirklich Originellem (Patentsystem: erfinderisch / Urheberrecht: künstlerisch) und einer Rekombination von bereits Vorhandenem beschäftigt vielfach das Rechtssystem. Diese Unterscheidung ist nicht einfach und kaum objektivierbar, aber die Rechtssysteme rund um „geistiges Eigentum“ sind im Kern darauf ausgelegt. Eine geschickte Rekombination von vorhandenen künstlerischen Werken ist ein Plagiat und eine geschickte Kombination von bereits vorhandenen Erfindungen enthält eigentlich keinen erfinderischen Schritt.
Kann KI also tatsächlich kreativ sein oder kann sie Kreativität nur nachäffen?
Kann sie sozusagen mit hoher Kapazität nur komplexe Plagiate erschaffen? Oder könnte KI zum Beispiel tatsächlich eine neue Musikströmung, eine neue Bildersprache entwickeln? Könnte KI eine Zwölftonmusik wie Arnold Schönberg oder einen Kubismus wie Pablo Picasso entwickeln?
Oder kann das doch nur der Mensch mit seiner schöpferischen Freiheit?
Natürlich kann man auch gegenteilig argumentieren und der Ansicht sein, dass die schöpferischen Werke, die aus dem menschlichen Geist kommen, letztlich auch nur neue Kombinationen von bereits Vorhandenem sind. Doch damit ist meiner Ansicht nach nicht die Geschichte der menschlichen Zivilisation in all ihren Facetten (Kunst, Kultur, Wissenschaft, Technik, Religion …) erklärbar.
Das Verständnis von Kreativität war über die Jahrhunderte hinweg, dass es dafür etwas „Zusätzliches“, nicht Fassbares, braucht. Eine Inspiration, die mit Sinn zu tun hat. Wir sind heute oft gewohnt, unseren Geist bzw. unser Gehirn mit einem Computer zu vergleichen. Doch möglicherweise gehen bei so einem Vergleich die eigentlichen, spezifischen Fähigkeiten des menschlichen Geistes verloren.
Der US-amerikanische Philosoph John Searle wandte sich gegen das Computermodell des Geistes, da der Geist eben nicht wie ein Computerprogramm, das sich darauf beschränkt, Symbole zu verknüpfen, funktioniere. Searle zufolge lässt sich das kreative Denken nicht auf eine Symbolverknüpfung auf syntaktischer Ebene reduzieren, sondern bezieht sich auf die semantischen Inhalte. Computerprogramme könnten zwar bereits Vorhandenes kombinieren, nicht aber etwas völlig Neues zu schaffen, das sich jeder Formalisierung entzieht.
Gleichzeitig wird durch die Diskussion, was eigentlich schöpferische Kreativität ist, ein neuer Blick auf die gelebte Praxis des Patentsystems und Urheberrechts geworfen. Aus meiner Sicht werden heute viele Patente an Erfindungen vergeben, die keinen „echten“ erfinderischen Schritt enthalten, sogenannte Trivialpatente. Solche Trivialpatente könnten möglicherweise tatsächlich alleine von einer KI generiert werden. Daher ist die Debatte um KI auch eine gute Gelegenheit, den Sinn und die Zielrichtung der IP-Rechtssysteme neu zu schärfen und neu auf die Bedürfnisse von schöpferischen Menschen, Unternehmen und der Gesellschaft insgesamt auszurichten.
[1] Mark A. Runco, Garrett J. Jaeger: The Standard Definition of Creativity. In: Creativity Research Journal. Band 24, Nr. 1, 1. Januar 2012, ISSN 1040-0419, S. 92–96.
[2] Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928, 108.