Klagen vor Gericht für das Klima
Die Richterinnen und Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg gaben am 9. April einer Klage der Schweizer Klimaseniorinnen statt und verdonnerten die Schweiz zu stärkeren Anstrengungen beim Klimaschutz.
Für den Europäischen Gerichtshof war die Beschäftigung mit dem Klima eine Premiere. Weltweit reiht sich das Urteil aber in einen bemerkenswerten Trend ein, erläutert der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl für Planet A.
Immer öfter müssen sich Regierungen und Unternehmen wegen eines Mangels an Klimaschutz juristisch verteidigen
In den Augen vieler Wissenschafter, Umweltorganisationen und Bürger sind Regierungen und Parlamente viel zu langsam darin, die erforderlichen Veränderungen herbeizuführen, um eine gefährliche Erderwärmung zu vermeiden. Deshalb wurden in den vergangenen Jahren immer öfter die Gerichte angerufen – etwa in den USA, in Australien und in mehreren EU-Ländern.
Häufig mit Erfolg. Künftig muss bei der Genehmigung neuer Förderprojekte für fossile Energie der Klimawandel berücksichtigt werden – davon konnten erst im August des vergangenen Jahres 16 junge Menschen im US-Gliedstaat Montana eine Richterin überzeugen. Die Kläger beriefen sich auf einen Artikel in der Verfassung von Montana, der den Einwohnern «das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt» garantiert und vorschreibt, dass die Umwelt «für gegenwärtige und zukünftige Generationen» erhalten und verbessert werden müsse.
Die Jugendlichen brachten in dem Verfahren vor, dass sie bereits heute unter den Folgen des Klimawandels litten. So würden etwa ihre Möglichkeiten, auf die Jagd zu gehen und zu fischen, durch Waldbrände und Extremtemperaturen eingeschränkt. «Die psychischen Verletzungen der Kläger, die sich aus den Auswirkungen des Klimawandels auf die Umwelt in Montana ergeben, durch Gefühle wie Verlust, Verzweiflung und Angst, sind anzuerkennende Verletzungen», hiess es in der Urteilsbegründung .
Ähnlich urteilte im Mai 2021 ein Bundesgericht in Australien . Es verpflichtete die Regierung, die Interessen von jungen und gesundheitlich schwächeren Menschen durch effektiven Klimaschutz zu berücksichtigen.
In Deutschland wird ein Gesetz verschärft
Im April 2021 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in seinem «Klimabeschluss» noch viel direkter in die Politik eingegriffen, als es Teile des deutschen Klimaschutzgesetzes für unzureichend erklärte. Das Gericht wies den Gesetzgeber an, klare jährliche Zielvorgaben für die CO2-Reduktion festzulegen.
Das Gericht fuhr in seiner Begründung schweres Geschütz auf: Ohne klare und verbindliche jährliche Ziele sei die Freiheit der ebenfalls meist jungen Kläger bedroht, und zwar auf doppelte Weise: dadurch, dass zunehmende Klimaextreme ihr Leben prägen könnten, und dadurch, dass die Last der CO2-Reduktion auf später verschoben und damit jüngeren Menschen aufgebürdet würde.
Eine «intertemporale Freiheitssicherung» sei nötig, argumentierte das Gericht. Der Staat müsse mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umgehen, «dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten».
Schon wenige Monate später verschärfte der Deutsche Bundestag daraufhin das Klimaschutzgesetz. Dessen mangelnde Umsetzung stellte Ende 2023 dann das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg fest und verurteilte die Bundesregierung dazu, ein Sofortprogramm zur CO2-Reduktion in den Bereichen Gebäude und Verkehr aufzulegen. Geklagt hatten der Umweltverband BUND und die Deutsche Umwelthilfe.
Klagen gegen Firmen sind aufwendiger
Klimaklagen richten sich nicht nur gegen Regierungen, sondern auch gegen Unternehmen. Dabei kann es für Kläger aber schwieriger sein, eine Verantwortung nachzuweisen, als bei Staaten, da es viele Emittenten und keine klare Ursachen-Folgen-Wirkung gibt und zudem kriminelle Aktivitäten schwer nachzuweisen sind. Das betonen die Juristin Mai-Lan Tran und Marc-Philippe Weller, Direktor am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, im Fachjournal NPJ Climate Action .
Umso bemerkenswerter ist es, dass 2021 nach einer Klage mehrerer Umweltorganisationen das Bezirksgericht von Den Haag in den Niederlanden den in dem Land ansässigen Ölkonzern Shell dazu verpflichtete, seine CO2-Emissionen und die seiner Zulieferer bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu senken. Auf dem Klimagipfel in Glasgow liessen sich die Vertreter der Organisation Milieudefensie dafür feiern und veröffentlichten eine 70-seitige Gebrauchsanweisung für künftige Klagen gegen andere Unternehmen.
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Anfang 2024 reichte die Stadt Chicago Klage gegen BP, Chevron, ConocoPhillips, ExxonMobil, Phillips 66, Shell und das American Petroleum Institute ein mit dem Argument, die Unternehmen würden mit ihren Produkten «katastrophale Folgen» wie extreme Hitze, starke Stürme, Überschwemmungen und Küstenerosion herbeiführen.
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Selbst wenn Umweltschützer die Urteile als Siege feiern, verbessern sie nicht sofort den Klimaschutz. Denn die Beklagten – ob der Staat Montana, die deutsche Bundesregierung oder Shell – ziehen alle Register der Berufung.
Firmen bestreiten die rechtliche Verantwortung
Nicht alle Klagen haben Erfolg. 2023 scheiterten zum Beispiel eine Klage gegen Shell in Grossbritannien und eine Klage von Greenpeace Deutschland gegen den Volkswagen-Konzern (Reuters ). Vergangene Woche wies zeitgleich mit dem Erfolg der Schweizer Seniorinnen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwei Klimaklagen von portugiesischen Jugendlichen und einem früheren französischen Bürgermeister ab.
Erst vor wenigen Tagen argumentierte Shell vor Gericht in einem Berufungsverfahren, die Entscheidung von vor drei Jahren sei falsch, weil Regierungen und nicht Unternehmen rechtlich dafür verantwortlich seien, das Klimaabkommen von Paris umzusetzen (The Guardian ). Ein führender Manager schob zudem Verbrauchern die ultimative Verantwortung zu: «Solange sich die Nachfrage nach den Produkten nicht ändert und die Leute einfach zum Konkurrenten gehen können, gibt es kein einziges Kohlenstoffmolekül weniger in der Luft.»
So einfach kann es sich die Regierung in Bern nicht machen. Sie muss nun einen Umgang mit dem Urteil aus Strassburg finden, der nicht nur vor Gericht, sondern auch vor der Bevölkerung standhält.
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