Kunden verdienen mehr - Eine ethische Betrachtung von Finanzdienstleistungen


Markus Unterhofer. Article published in Handelszeitung, Oct 2017


Ethische Aspekte bei der Geldanlage werden üblicherweise mit dem Thema der nachhaltigen Anlagen assoziiert. Die grossen Banken und Vermögensverwalter haben dieses Thema des Anlegens nach bestimmten ethischen, sozialen und ökologischen Kriterien wie viele andere Themen längst geschickt in ihre Produktepalette integriert und das disruptive Potenzial in ein Profit-Center verwandelt. In diesem Artikel geht es hingegen um die seltener thematisierten ethischen Aspekte in der Beziehung zwischen dem Kunden und dem Finanzdienstleister (z.B. Bank, Vermögensverwalter, Anlageberater). Die meisten Dienstleister im Finanzsektor beanspruchen diesbezüglich hehre Ziele für sich, beispielsweise den Kunden und seine Interessen in den Mittelpunkt zu stellen. Dass für die Branche die hohen Ansprüche der Wirklichkeit nahekommen, wird allerdings spätestens seit der Finanzkrise stark angezweifelt.

Die Grossbanken als die grössten und mächtigsten Finanzdienstleister haben durch ihre entscheidende Rolle in der Finanzkrise 2007/2008 (mit Vergabe, Verbriefung und Vertrieb von Ramschhypotheken) sehr viel an Vertrauenskapital verloren. Jedoch scheinen die Banken durch die langwierige Aufarbeitung dieser Fälle sowie durch nachfolgende Verstösse und Rechtsfälle (z.B. Manipulationen von Zinsen und Devisen, Geldwäscherei, Korruption, Betrug) auch nach zehn Jahren immer noch nicht aus den Negativschlagzeilen heraus zu kommen.

Vereinzelt haben sich bereits unmittelbar nach der Finanzkrise Stimmen erhoben, die die Rückbesinnung auf das in der Renaissance entstandene Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ forderten, als Gegenstück zur reinen und sehr kurzfristig orientierten Gewinnmaximierung. Der ehrbare Kaufmann stellt eine Einheit aus praktisch-fachlicher Kompetenz und charakterlich-tugendhaften Eigenschaften dar, und stützt sein Verhalten auf Werte wie Verlässlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Anstand und Fairness. Diese Werte und Tugenden haben den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg zum Ziel, ohne den Interessen der Gesellschaft zu schaden.

Trotz dieser Rufe nach mehr Ethik hat es die Finanzindustrie jedoch insgesamt versäumt, die eigenen Grundwerte zu reflektieren, das ethische Vakuum zu füllen und den massiven Verlust an Glaubwürdigkeit und Kundenvertrauen auszugleichen. Stattdessen erfolgte seit der Finanzkrise ein gewaltiger Ausbau der regulatorischen Vorschriften, gesetzlichen und internen Richtlinien sowie der damit einhergehenden Kontrollfunktionen und -prozesse. Die damit verbundenen Kosten gehen letztendlich zu Lasten der Kunden, und es ist fraglich, ob die oben erwähnten Fälle von Fehlverhalten durch noch grösseren Compliance-Aufwand hätten verhindert werden können. Die Compliance-Funktion, ursprünglich Teil der Rechtsabteilung, ist zu einem sehr bedeutenden Industriezweig geworden, der sich verselbständigt hat. Eine Stellensuche auf „jobs.ch“ mit dem Stichwort „Compliance“ ergibt für die Branchen „Banking / Versicherungswesen“ sowie „Finanzen / Treuhand / Immobilien“ 186 Treffer, für das Stichwort „Ethik“ mit derselben Brancheneinschränkung hingegen nur einen einzigen Treffer. Etwas provokant könnte man feststellen, dass in der Finanzindustrie das ernsthafte Nachdenken über die eigenen Grundwerte nicht nur unterlassen wurde, sondern die Schaffung riesiger Compliance-Apparate die Wertefrage verindustrialisiert und dadurch – zumindest kurzfristig – abgeschafft hat.

Zwar wird mitunter immer noch gefordert bzw. vorausgesagt, dass das Pendel wieder in Richtung „mehr Ethik – weniger Compliance“ zurückschlagen möge.[1] Allerdings ist dies zumindest für die grösseren Finanzdienstleister wenig realistisch, da alle Beteiligten (Aufsichtsbehörden, Kontrollfunktionen, und nicht zuletzt das Top-Management selbst der grossen Finanzdienstleister) von der gegenwärtigen Entwicklung profitieren und keinerlei Anreiz besteht, am eigenen Ast zu sägen. Bei Verfehlungen verweisen Top-Manager sehr gerne und rasch auf die qualitätsgeprüften und zertifizierten Kontrollprozesse und auf Abertausende alljährlich mustergültig durchgeführter Mitarbeiter-Compliance-Schulungen, während die Problemfälle als Verstösse gegen Gesetze und Richtlinien durch Einzeltäter dargestellt werden. Compliance hat somit die Funktion eines Schutzwalls für das Top-Management, das im ungünstigen Fall weiterhin an der Maximierung des eigenen Profits arbeitet.

Problematisch ist dies besonders insofern, als die Unternehmenskultur sehr stark über die Vorbildfunktion ihrer Führungskräfte geprägt wird. Verschiedene sozialpsychologische Experimente und Studien haben gezeigt, dass Mitarbeiter sich Arbeitskollegen und vor allem Vorgesetzte als Beispiel nehmen, auch wenn es um unethisches Verhalten geht. Charakterliche Aspekte werden für die Entstehung unethischen Verhaltens überschätzt, während situations- und umgebungsbedingte Faktoren unterschätzt werden.[2] Vorschriften und Richtlinien (sogenannte präskriptive Normen) können durch deskriptive Normen, die durch das Verhalten von Bezugspersonen entstehen, unterlaufen oder in Frage gestellt werden. Traurige Berühmtheit in diesem Zusammenhang erlangte RICE, der Ethikkodex von Enron, einst eines der grössten und meistgeachteten US-Unternehmen vor dem Zusammenbruch wegen Bilanzfälschung. Umso wichtiger ist es, dass die Unternehmensführung ethische Werte und Haltung im Unternehmensalltag vorlebt und konsequent umsetzt. Leider fehlen zumindest bei den kotierten Unternehmen aus der Finanzbranche hierzulande die Vorbilder, wie die jüngsten Diskussionen um die Managementgehälter und die erst nach starkem Druck von Aktionären und öffentlicher Meinung angekündigten Bezugskürzungen erneut gezeigt haben. Positivbeispiele für nicht erzwungene Selbstbeschränkung finden sich eher in anderen Branchen. So gab es nach dem Frankenschock 2015 einige Industrieunternehmen (z.B. Huber+Suhner), bei welchen die Führungsetage mit eigenen Gehaltskürzungen voranging, um bei den Mitarbeitern die erforderlichen Rationalisierungsmassnahmen durchzusetzen.

Um eine ethisch fundierte Unternehmenskultur etablieren zu können, in welcher die Kunden nicht nur auf dem Papier im Mittelpunkt stehen, spielen Firmengrösse, Komplexität und Firmenstruktur eine zentrale Rolle. Anders als bei sehr grossen und komplexen Firmen gibt es generell bei kleineren und mittleren Finanzdienstleistern mehr Spielraum, um die eigenen ethischen Grundwerte zu leben und andere dafür zu motivieren. Hier sind es fast immer die Gründerpersönlichkeit(en), die die Struktur und Kultur des Unternehmens direkt prägen, welche wiederum sehr grossen Einfluss auf Denken und Verhalten der Mitarbeiter haben. Jedoch sollen hier nicht die „bösen“ Grossbanken gegen die „guten“ KMU ausgespielt werden. Grösse allein ist nicht ausschlaggebend, und auch bei kleinen Unternehmen gibt es ethisch fragwürdige Geschäftspraktiken. Selbst im Vergleich grosser Finanzunternehmen sind Unterschiede hinsichtlich Kundenzentriertheit erkennbar. Ein Beispiel hierfür ist der Leistungsausweis von Vanguard hinsichtlich der pro-aktiv vorgenommenen Reduktionen der ETF-Gebühren zugunsten der Kunden, im Unterschied zu den Produkten der Konkurrenz. Diese Unterschiede sind letztendlich durch die unterschiedlichen Firmen- und Eigentümerstrukturen erklärbar: Vanguard besitzt eine genossenschaftsähnliche Eigentümerstruktur, bei welcher im Gegensatz zur börsenkotierten Konkurrenz Gewinne in Form von tieferen Gebühren an die Fonds-Investoren, denen letztlich Vanguard gehört, zurückgegeben werden.[3]

Neben Grösse, Firmen- und Eigentümerstruktur sind damit verbundene Einflussfaktoren zur Bildung einer kundenzentrierten und ethisch ausgerichteten Unternehmenskultur wichtig. Der Finanzdienstleister sollte das eigene Geschäftsmodell, das Dienstleistungs-/Produkt-Angebot und den daraus resultierenden Mehrwert für den Kunden sowie die Gebühren- und Anreizstrukturen einer gewissenhaften Reflexion unterziehen. Völlige Unabhängigkeit und ein sehr fokussiertes Dienstleistungsangebot begünstigen die Vermeidung von Interessenkonflikten. Wenn man gleichzeitig unter einem Dach Kunden berät und Produkte verkauft, eventuell sogar noch eine Investment Bank führt, ist es ungleich schwieriger, kommerzielle und ethische Ziele zu vereinen. Ein Finanzdienstleister, der seine eigenen Stärken und Schwächen ehrlich reflektiert hat, kann durch Konzentration auf seine tatsächlichen Stärken einen Mehrwert für den Kunden schaffen.

Handlungsbedarf bestünde hier in diversen Bereichen. Ein Beispiel sind die vielen aktiv verwalteten Fonds bzw. Vermögensverwaltungslösungen, die durch schlechte Investitionsentscheidungen und hohe Gebühren Wert für den Kunden vernichten. Gemäss einer Analyse[4] von Anbietern von Vermögensverwaltungsmandaten für den Zeitraum 2010-2016 haben 72% der Anbieter die Benchmark-Rendite nicht erwirtschaftet. 37% der gemäss Benchmark erreichbaren Erträge wurden von Gebühren weggefressen und weitere 33% durch falsche Portfolio-Entscheidungen. Der mit der aktiven Bewirtschaftung in Aussicht gestellte Mehrwert für den Kunden wird von den meisten Anbietern somit nicht erbracht. Eine ehrliche Auseinandersetzung durch den Finanzdienstleister mit der tatsächlichen Wertschöpfung für den Kunden wäre angebracht. Aktives Management kann sehr sinnvoll sein, wo der Finanzdienstleister nach Kosten längerfristig tatsächlich einen Mehrwert für den Kunden generieren kann. Dort, wo dies nicht der Fall ist, können durch passive und wesentlich günstigere Portfolio-Elemente die Gesamtkosten gesenkt und die Wahrscheinlichkeit von wertvernichtenden Aktiv-Entscheidungen reduziert werden. Ergänzend könnten auch die üblichen fixen Verwaltungsgebühren von 1% bis zu 1,75% durch eine fairere asymmetrische Gebührenstruktur – mit einer tiefen Fixgebühr und einer zusätzlichen leistungsabhängigen Gebühr im Erfolgsfall - ersetzt werden, die die Interessen des Anbieters denen des Kunden angleicht. Vereinfacht gesagt, sollte es dem Anbieter nicht gut gehen, wenn es dem Kunden nicht gut geht, aber der Anbieter kann eine zusätzliche leistungsabhängige Gebühr erhalten, wenn er tatsächlich Mehrwert für den Kunden generiert.

Die ehrliche Überprüfung des eigenen Dienstleistungsangebots und echten Wertschöpfungs-Potenzials kann für den einzelnen Finanzdienstleister Unerfreuliches zutage fördern, stärkt jedoch den Kunden und seine Interessen. Die Kunden würden mehr verdienen, nicht nur in finanzieller Hinsicht.


[1] S. Amstutz, U. Koch, K. Stricker: „Mehr Ethik und weniger Compliance sind gefragt“, in: KMU-Magazin Nr. 2, Februar 2017

[2] Siehe R. A. Prentice: „Ethical Decision Making: More Needed than Good Intentions“, in: Financial Analysts Journal, Nov./Dec. 2007, Vol. 63, S. 17-30

[3] A. Rachleff: „Why We Avoid BlackRock ETFs“, in: Seeking Alpha, April 2017

[4] K. W. Wellershoff: „Investing – ein Reality Check“, in: Finanz und Wirtschaft, Verlagsbeilage „Indexing“, S.3, Juni 2017



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