Lebe keine Konjunktive: Ein Gespräch mit Marianne Schild.

Lebe keine Konjunktive: Ein Gespräch mit Marianne Schild.

Bandy: Welches Zitat oder Sprichwort magst Du besonders? Marianne: Einzelne Zitate oder Sprichwörter mag ich eigentlich nicht. Wenn ich James Baldwin, den grossen amerikanischen, schwarzen und homosexuellen Autor, der in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, lese oder höre, eignet sich jeder zweite Satz als Leitwort. Er ist eine grosse Inspiration für mich. Baldwins Werk «the fire next time» kann man in einer sehr angenehmen Lesung auf Deutsch auf Spotify hören.

Welcher Mensch (Vorbild, Coach, Mentorin) hat Dich besonders geprägt? Meine Grossmutter hat mich sicherlich stark geprägt. Sie hatte einen calvinistischen Arbeitsethos, war eine sehr gute Verkäuferin (sie führte den Dorfladen) und war sehr herzlich. Sie hat mich gelernt, mich nicht zu beklagen. Das ist eine eher ländliche Eigenschaft, die ich bei vielen Leuten vermisse. Es ist manchmal schon sehr ein Gejammer hier.

Was hast Du in den letzten Jahren gelernt? Ich habe gelernt, dass es nicht für alles eine Lösung gibt. Meine kleine Schwester Erika ist vor 8 Jahren ganz unerwartet gestorben. Sie war der begabteste Mensch, der mir bis heute begegnet ist. Die Trauer lässt sich nicht nachvollziehen, wenn man sie nicht selbst erlebt hat.

Was war der beste Ratschlag, den Du erhalten hast? In Genf im Studentenwohnheim wohnte ich mit einem Japaner auf demselben Stock. Er hiess Moto und studierte französische Literatur. Wir waren eine Gruppe von Leuten aus verschiedenen Ländern und wollten aus. Alle Bars waren schon zu. Ich nervte mich und sagte zu Moto «das ist doch enorm nervig, dass wir keine Bar finden, findest du nicht?» Er, der Balzac-Fan, sagte mit der grössten Gelassenheit: «Je considère ceci plutôt comme une proménade nocturne». Es war ihm egal, ob wir eine Bar fanden oder nicht. Er freute sich, dass wir gemeinsam einen nächtlichen Sparziergang machen. Die Proménade ist überhaupt eine der besten Erfindungen unserer Zivilisation. Aber bitte nicht in Funktionskleidung spazieren am Sonntag.

Wie erreichst Du Deine Ziele? Ich verfolge weniger einen konkreten Plan, als dass ich Gelegenheiten, die sich mir bieten, spontan, aber wirksam nutze. Da ich recht bodenständig bin, sind meine Ziele nicht völlig fernab vom Wahrscheinlichen. Ausserdem leiste ich mir den Luxus, meine Ziele immer wieder zu ändern.

Welcher Ort ist Dir besonders wichtig? Ganz klar unser Zuhause. Wir wohnen mit unseren beiden Kindern in einer Wohngemeinschaft und sind sehr privilegiert, in einem so schönen Haus zu wohnen. Das Streben nach einer Wohnsituation, in der man richtig wohl ist, lohnt sich aus meiner Sicht enorm.

Was ist Dein Lieblingsbuch? Ich habe kein Lieblingsbuch, so wie ich keine Lieblingsserie habe. Aber nun, da meine Kinder etwas grösser sind und ich in den Ferien manchmal wieder Zeit zum Lesen habe, habe ich wieder erfahren, wie erholsam und essentiell es ist, zwischendurch einen Roman zu lesen. Was ist seit vielen Jahren hingegen jedes Wochenende lese, ist das Tagimagi. Nur tanzen ist noch besser als lesen. Tanzen ist das Beste.

Wenn Du heute für immer verreisen müsstest: Wohin würdest Du gehen? Nichts ist für immer. Wenn ich dort wo ich hingehe Leute finde, die mir sympathisch sind, kann ich überall hin. Ich habe mich entschieden, in Genf zu studieren, obwohl ich noch nie vorher dort war. Ich habe mich in letzter Sekunde entschieden, nach Florenz anstatt nach Paris ins Erasmus-Austauschjahr zu gehen, weil ein Professor nebenbei fand, Florenz sei doch viel schöner. Ich kann sehr spontan sein, denn ich habe ein gutes Grundvertrauen. Es müsste einfach sicher sein an dem Ort. Ohne Angst leben zu können, das ist das höchste Gut und ich wünsche mir, dass jeder Mensch auf der Welt so leben darf.

Welcher Moment war «magisch»? Mir kommen immer wieder Situationen in den Sinn aus meiner Jugend. Jeder Lachanfall war magisch, so befreiend und verbindend. Nach der Matura bin ich durch Brasilien gereist. Ich mag mich an eine Konstellation erinnern, wo wir zwei Schweizerinnen, ein Amerikaner, ein holländisches Paar und ein Cousin-Cousinenpaar aus Israel waren. Wir waren auf der Insel Morro de Sao Paulo im Staat Bahia. Nach einem Ausgang sind wir auf dieser unglaublichen, verkehrsmässig nur aus Fussgängern und Sandwegen bestehenden Insel, am Strand in den Sand gefallen und haben uns kaputtgelacht.

Wann hast Du das letzte Mal geweint? Mir kommen schnell die Tränen, bei verschiedenen Emotionen. Das ist bei mir fast nicht der Rede wert.

Auf was bist Du stolz? Stolz sein sollte man nur auf Erreichtes, zu dem man selbst was beigetragen hat. Ich habe nichts, das mich besonders Stolz macht. Ausser vielleicht, das ich einen wirklich fantastischen Freundeskreis habe. Aber das ist auch mehr Dankbarkeit als Stolz.

Was ist ein gutes Leben? Keine richtig tiefgreifenden Sorgen zu haben. 


Marianne und ich sind uns ursprünglich auf den Gängen der SBB begegnet. Sie kämpft für ihre Themen und Ansichten. Hartnäckig. Sie lässt sich nicht - und dies finde ich besonders beeindruckend - von "Störmanövern" ablenken. Wertemässig bodenständig und gleichzeitig offen für das Neue.

Bei Lebe keine Konjunktive kommen inspirierende und reflektierte Menschen aus meinem Leben zu Wort.

Diggelmann Daniel Dan

Genau formuliert. Gut verstanden.

3 Jahre

Sehr wohltuende Antworten. Herausragend für mich ist die Antwort zu den Zielen.

Patricia Bice Musfeld

Führungsunterstützung Geschäftsleitung Anlagen, Produktion Personenverkehr bei der SBB CFF FFS

4 Jahre

Inspirierend, faszinierend und wunderbar. Genau so ist sie. Seit Kindheit auf, hat mich meine liebe Freundin so viel gelernt. Auch ich werde Marianne definitiv in den Gemeinderat wählen!

Reto Luescher

Leiter Preis- und Ertragsmanagement @SBB

4 Jahre

Danke für das tolle Interview Christian Bandy! Viel Erfolg bei den Gemeinderatswahlen Marianne!

Ebinger Tobias

SWISSAID: Veränderungen, die bleiben.

4 Jahre

Genau solche wunderbare Frauen brauchen wir in der Politik: deshalb wähle ich Marianne am 29. November in den Gemeinderat!

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