Lebendige Digitalisierung
Text: Raphael Pohland
Darüber, wie sich Leben definiert, gibt es zahlreiche philosophische, wissenschaftliche und religiöse Annäherungen. Ein Ansatz ist, das Leben als organisierte Raumstruktur zu betrachten, die an der Grenze zum unbelebten Chaos existiert. Der Biologe und Nobelpreisträger Paul Nurse geht in seinem Buch „Was ist Leben“ unter anderem davon aus, dass es sich bei Lebensformen um abgeschlossene physikalische Gebilde handelt, die von der Umgebung abgegrenzt, jedoch mit ihr kommunizierend sind. Natürlich sind weitere Faktoren, wie das Vorhandensein von Zellen und Genen, die Fähigkeit zur Evolution und das Ablaufen chemischer und physikalischer Prozesse essentielle Bestandteile belebter Materie.
Interessant ist, dass laut Nurse ein integraler Bestandteil von Lebewesen die Informationsverarbeitung ist. Er spricht von „Maschinen“, die durch Verarbeitung von Informationen koordiniert und reguliert werden, um als zweckmäßige Ganzheit zu operieren.
Das bedeutet, dass Leben erst durch die Koordination von Prozessen und der Entwicklung von losen Elementen zu strukturierten und komplexen Verbindungen entstehen kann. Sofort hat man ein christlich tradiertes Bild im Kopf: Michelangelos Deckenfresko „Die Erschaffung Adams“, in dem Gott Adam das Leben schenkt. Ein sicherlich richtiger Grundgedanke, der bildhaft vermittelt wird: Leben wird erst durch Informationsvermittlung, durch wen oder was auch immer, ermöglicht.
Leben kann nur in abgegrenzten Strukturen stattfinden, den sogenannten biologischen Kompartimenten. In diesen Reaktionsräumen können in den Basisstrukturen aller Organismen, den Zellen, alle Prozesse stattfinden. Diese klare Abtrennung zwischen dem unstrukturierten Außen und dem koordinierten Innen liegt an der Grenze zwischen dem Chaos und der Ordnung.
Bei biologischen Prozessen und dem Leben gibt es eine Vielzahl von Protagonisten. Aus Elementarteilchen bauen sich Moleküle zusammen, die sich zu noch komplexeren Molekülstrukturen entwickeln. Aus dem koordinierten Wechselspiel werden Zellstrukturen, die sich zu Organen und letztendlich zu komplexen Lebewesen bilden.
Jede Ebene ist wichtig, um die nächsthöhere Ebene zu errichten. Obwohl sie aufeinander aufbauen, ist es nicht vorhersehbar, wie sich die darauffolgende Schicht auf die Gesamtheit auswirken wird. Man spricht von Emergenz, wenn sich neue Eigenschaften infolge des Zusammenspiels einzelner Elemente herausbilden und man die Auswirkungen der neu entstehenden Qualitäten nicht vorhersagen kann. Oder einfacher gesagt: Das Ergebnis ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile.
Wenn das Zusammenspiel aus Informationseinheiten, Transport, Erfassung, Verarbeitung und erfolgten Reaktionen fundamentale Bedingung für eine lebendige intrazelluläre Funktionsweise ist, dann wagen wir einen Gedankensprung und schauen uns an, wie die Weitergabe von Informationen in der Bildung, einem der gesellschaftlich bedeutendsten Bereiche der Informationsvermittlung, funktioniert.
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Wie sieht Bildung heute in Schulen aus?
Zukünftige Herausforderungen werden nur durch eine sich verändernde Wissensvermittlung und neue Möglichkeiten der Problemverarbeitung möglich sein.
Die heutige Vermittlung von Bildung bedeutet, bereits bestehendes Wissen zu reproduzieren. Wissen wird durch unreflektierte Weitergabe geklont. In der Schule sein, heißt, in Lehrplänen definiertes Buchwissen einbahnstraßenhaft auswendig zu lernen und bereits gelöste Probleme zu konsumieren. Schule hilft nicht dabei, neue Erkenntnisse zu gewinnen und unbekannte lebendige Informationskompartimente aufzubauen, sondern ist darauf bedacht, Epigonen ohne eigene Problemlösungsstrategien zu erzeugen, die nicht schöpferisch wirken können. Um in der Sprache der Biologie zu bleiben: Schule schafft keine neuen Informationsebenen, die sich zu höheren Qualitäten emergieren können. Schule ist nur ein einseitig gerichteter Sender mit eingebauter Abfragefunktion.
Natürlich kann man argumentieren, dass die heutige Art der Informationsvermittlung die Basis für selbständiges Lernen und für die geistige Sozialisierung ist. Nur: eigen erarbeite Problemlösungen müssen gelernt sein. Und der Impuls dazu oder der Funke zur Informationsordnung muss gelehrt und gelernt werden. Und das wird nicht durch vorgekaute Lehrplanbefolgung erreicht.
Schulbildung sollte neu überlegt und umgesetzt werden.
Die Grundlage von Bildung sollte auf der Basis einer gelebten Fehlerkultur fußen. Der Möglichkeit, zu probieren und aus Fehlern zu lernen und daran zu wachsen. Dazu müsste der Unterricht experimenteller und menschlicher sein – ohne Angst und Bildungsdruck.
Es sollte die individuelle Neugier geweckt und gefördert werden, um sich Probleme anzunehmen und Lösungsstrategien im Team zu entwickeln. Auch müsste die Bewertung der individuellen Informationsverarbeitungsintelligenz anders beurteilt werden. Es sollte nicht die Anwendungskompetenz des stoischen Niederschreibens von auswendig gelerntem Wissen als Maßstab höchster Erkenntnis gelten, sondern die kreative Neuanordnung und Problemlösung in den Vordergrund rücken.
Kann uns die Digitalisierung helfen?
Alte Denk- und Lehrmuster werden nicht automatisch durch die Digitalisierung ersetzt. Nur Bücher durch digitale Endgeräte auszutauschen und zu hoffen, dass sich etwas ändert, wird nichts bringen. Dazu bedarf es neuer pädagogischer Konzepte und den politischen Willen, Änderungen auch in den Schulalltag zu transportieren.
Nur durch außenstehenden Druck gibt es Veränderungen. Heute besteht die Möglichkeit, Unterricht neu zu denken, da durch die Revolution der Digitalisierung und der individuellen Bereitschaft zur Veränderung schulpolitische Verkrustungen aufgebrochen werden können. Die technischen Möglichkeiten und der Wille sind in Ansätzen bei den Verantwortlichen zu erkennen. Man kann nur hoffen, dass der Informationsfluss des Wissens nicht mehr durch klassischen Einbahnstraßen-Frontalunterricht gelenkt wird, sondern eine Interaktion zwischen Lehrer und Schülern zukunftsweisende Lernstrukturen ermöglicht. Die Chancen für den Beginn einer neuen evolutionären „Lern-Lebewesen-Form“ sind besser denn je. Die Keimzelle heißt Digitalisierung.