Mariana Mazzucato fordert: Zeit für eine radikale Neudefinition von Wertschöpfung

Mariana Mazzucato fordert: Zeit für eine radikale Neudefinition von Wertschöpfung

Das unternehmerische Potenzial des Staates

In The Entrepreneurial State (dt. Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum) argumentiert Mazzucato, dass der Staat nicht nur eine unterstützende Rolle bei wirtschaftlichem Wachstum und Innovation spielt, sondern häufig die treibende Kraft hinter den größten technologischen Durchbrüchen ist. Eines der prominentesten Beispiele, dass sie anführt, ist die Entstehung des iPhones. Obwohl Apple als Beispiel eines überragenden privatwirtschaftlichen Erfolgs gilt, zeigt Mazzucato auf, dass fast alle Schlüsseltechnologien, die dem iPhone vorausgingen – vom Internet über GPS bis hin zur Touchscreen-Technologie – auf staatlich finanzierte Forschungsprojekte zurückgehen. Diese Technologien wurden durch staatliche Investitionen in Wissenschaft und Innovation entwickelt, oft im Kontext mit Verteidigungs- und Raumfahrtprogrammen.

Ökonomische Logik: Mazzucato kritisiert das traditionelle Bild des Staates als trägen Bürokraten, der lediglich Rahmenbedingungen schafft. Stattdessen betont sie, dass der Staat häufig bereit ist, Risiken einzugehen, die private Unternehmen meiden. Der Staat fungiert als First Mover in Bereichen, die hohe Unsicherheiten aufweisen, und schafft damit überhaupt erst die Grundlagen für späteres privatwirtschaftliches Engagement.

Folgen: Die Hauptkritik Mazzucatos zielt darauf ab, dass der Staat zwar die Risiken übernimmt, die Privatwirtschaft jedoch die Gewinne einstreicht, ohne angemessen zum Gemeinwohl zurückzuzahlen. Sie fordert deshalb, dass staatliche Investitionen besser entlohnt werden sollten – etwa durch Beteiligungen an den Gewinnen von Unternehmen, die von staatlich geförderter Technologie profitieren, oder durch eine stärkere Besteuerung dieser Erträge. Die aktuelle Situation verschärft die Ungleichheit, da private Firmen enorme Gewinne erzielen, ohne die gesellschaftlichen Kosten ihrer Entwicklung vollständig zu tragen.

Die Neudefinition von Wert und Wertaneignung

In ihrem Werk The Value of Everything (dt. Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern) hinterfragt Mazzucato, wie moderne Volkswirtschaften bestimmen, was als "Wert" angesehen wird und wer diesen Wert schafft. Ein zentrales Beispiel ist das Finanzwesen. Banken, Hedgefonds und andere Finanzakteure beanspruchen große Teile des Bruttoinlandsprodukts und werden oft als "Wertschöpfer" betrachtet. Mazzucato argumentiert jedoch, dass diese Akteure häufig keine neuen Werte schaffen, sondern vielmehr existierenden Wert umverteilen oder extrahieren – etwa durch spekulative Aktivitäten oder durch die Manipulation von Finanzmärkten.

Ökonomische Logik: In der klassischen politischen Ökonomie, etwa bei Adam Smith oder Karl Marx, wurde klar zwischen produktiven Tätigkeiten, die Wert schaffen, und unproduktiven Tätigkeiten, die lediglich den Wert verschieben, unterschieden. Mazzucato zeigt, dass diese Unterscheidung im modernen Kapitalismus zunehmend an Eindeutigkeit verliert, was dazu geführt hat, dass bestimmte Sektoren, die kaum zur realen Produktion beitragen, als wertschöpfend gelten.

Folgen: Die Aufblähung des Finanzsektors und die Neudefinition von "Wert" hat gravierende gesellschaftliche Folgen. Zum einen führt sie dazu, dass spekulative Aktivitäten mit einem hohen Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen belohnt werden, während produktive und soziale Tätigkeiten (wie Pflege, Bildung oder Forschung) unterbewertet bleiben. Zum anderen verfestigt dies die Macht der Finanzakteure und trägt zur zunehmenden Ungleichheit bei, da diese Sektoren enorm von den geschaffenen Werten profitieren, ohne substanzielle Beiträge zur Gesamtwirtschaft zu leisten.

Staatliche Investitionen und ihre Entwertung durch die Privatwirtschaft

Ein weiteres Beispiel aus Mazzucatos Forschung ist die Entwicklung der Pharmaindustrie. Sie betont, dass viele der bahnbrechenden Medikamente, die heute auf dem Markt sind, auf Grundlagenforschung beruhen, die von staatlich finanzierten Universitäten oder öffentlichen Institutionen durchgeführt wurde. Dennoch werden die Gewinne dieser Medikamente in erster Linie von privaten Unternehmen eingestrichen, die die Forschungsergebnisse nutzen, um hochprofitable Medikamente zu entwickeln und zu patentieren.

Ökonomische Logik: Mazzucato zeigt auf, dass der Staat durch seine Finanzierung der Grundlagenforschung häufig die hohen Anfangsinvestitionen tätigt, während private Firmen von den Ergebnissen profitieren, ohne jedoch das ursprüngliche Risiko getragen zu haben. Durch Patente und Marktexklusivität können Unternehmen immense Gewinne erzielen, die weit über die Kosten der weiteren Entwicklung hinausgehen.

Folgen: Dies führt zu einer Überteuerung lebenswichtiger Medikamente, was den Zugang zu Gesundheitsversorgung für viele Menschen erschwert. Gleichzeitig profitiert der Staat nicht von seiner initialen Investition, was zu einer Schieflage führt: Öffentliche Gelder finanzieren Risiken, aber die Gewinne werden privatisiert. Mazzucato plädiert daher für eine stärkere staatliche Kontrolle über den Nutzen aus öffentlich finanzierter Forschung, beispielsweise durch Konditionen, die garantieren, dass Medikamente zu erschwinglichen Preisen auf den Markt kommen oder eine „Gesellschaftsrendite“ von den Unternehmen gezahlt werden, die über die Steuerleistungen der Unternehmen hinausgehen.

Ko-Kreation von Wert statt staatlich-private Trennung

Mazzucatos Forschung stellt die Zweiteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft grundsätzlich infrage. Sie argumentiert, dass beide zusammenarbeiten sollten, um echten gesellschaftlichen Wert zu schaffen. Dabei geht es nicht darum, den Staat als Konkurrenten zur Privatwirtschaft zu sehen, sondern als einen Partner, der mit Unternehmen kooperiert, um nachhaltige Innovationen zu fördern, die sowohl dem Gemeinwohl als auch dem Wirtschaftswachstum dienen.

Ökonomische Logik: Diese Vision beruht auf der Überzeugung, dass der Markt allein nicht in der Lage ist, nachhaltiges und inklusives Wachstum zu erzeugen. Der Staat muss aktiv als Lenker und Investor auftreten, wobei jedoch auch Mechanismen existieren müssen, die sicherstellen, dass die Früchte dieser Investitionen gerechter verteilt werden.

Folgen: Dies könnte zu einer Neuausrichtung des Innovationssystems führen, in der sowohl soziale als auch wirtschaftliche Ziele verfolgt werden. Langfristig würde dies möglicherweise zu einer gerechteren Verteilung von Wohlstand und einem geringeren Einfluss spekulativer Finanzmärkte auf die Gesamtwirtschaft führen.

Fazit

Die Arbeiten von Mariana Mazzucato sind ein Aufruf, die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu denken und die Art und Weise, wie wir Wertschöpfung und Innovation verstehen, zu hinterfragen. Sie zeigt, dass der Staat oft der wahre Innovator ist, während private Unternehmen von staatlich geförderten Technologien profitieren. Um eine gerechtere und nachhaltigere Wirtschaft zu schaffen, fordert Mazzucato eine stärkere Anerkennung und Belohnung staatlicher Investitionen sowie eine Neudefinition dessen, was als Wertschöpfung gilt. Ihre Forschung hat das Potenzial, die wirtschaftspolitischen Debatten grundlegend zu verändern und neue Wege für staatlich-unternehmerische Kooperationen aufzuzeigen.

 

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