Metaverse: Alles nur Hype oder tatsächlich das neue Internet?
Liebe Leserinnen und Leser,
„Dichtung und Wahrheit“ hat Goethe seine Autobiografie genannt. „Wahn und Wirklichkeit“ – so könnte man, angelehnt an Goethe, eine der wichtigsten Tugenden moderner Unternehmerinnen und Unternehmer bezeichnen: Die Fähigkeit, zwischen aufgeblasenem Hype und wirtschaftlicher Realität zu unterscheiden. Firmen-Friedhöfe sind voll mit Unternehmen, denen es nicht gelungen ist, das eine vom anderen scharf zu trennen.
Wahn oder Wirklichkeit – womit haben wir es beim Metaverse zu tun? Der Name des Untersuchungsobjekts kann fast freihändig ausgetauscht werden. Nichts produziert die Welt der Technik so verlässlich wie neue Buzzwords, von denen man nur eines sicher weiß: Dass die meisten von ihnen bald wieder verschwunden sein werden. Das Problem ist nur: Einige werden bleiben und richtig wichtig werden. Doch wie findet man die Muschelperlen in einem übervollen Bottich mit Fälschungen?
Vergangene Woche veröffentlichte der Facebook-Mutterkonzern Meta eine erste Aufnahme aus dem sagenumwobenen Metaverse. Zu sehen war der Avatar des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg (oben auf einem Kinder-Foto) vor dem Eiffelturm und einer Kirche – wahrscheinlich die Sagrada Família in Barcelona (Bild unten). So genau war das nicht zu erkennen, denn die Bildqualität war äußerst bescheiden – und das ist schon höflich ausgedrückt.
Zugegeben: Die Anfänge des World Wide Web fanden auch nicht in High Definition-Auflösung mit ruckelfreien Bildern statt. Ganz im Gegenteil: Primitiv ist alles, was die Welt erblickt. Die ersten Webseiten mit ihrem rudimentären Stil sehen für uns heute aus wie Urviecher einer längst vergessenen Zeit. Ein Beispiel gefällig? Der Screenshot unten zeigt den ersten Auftritt von Amazon – kaum zu glauben, oder?
Aber – und dieses Argument muss Mark Zuckerberg gegen sich gelten lassen – Meta ist keine Truppe Halbwüchsiger mehr, die in ihrer Garage an Hard- und Software tüftelt. Meta ist ein Milliardenkonzern mit vielen der besten Designerinnen und Programmierern der Welt. Über zehn Milliarden Dollar sollen in Meta-Entwicklungen für das Metaverse fließen. An Geld und Talent mangelt es nicht. Wie kann also eine Aufnahme dabei herauskommen, die mehr an ein Nintendo Wii-Spiel aus den frühen 2010er Jahren, als an die nächste Evolutionsstufe des Internets erinnert?
Vivek Sharma, Chef der Meta-Virtual-Reality-Plattform Horizon, hat nun angekündigt, dass er das Unternehmen verlassen wird. Er war für die Entwicklung der virtuellen Umgebung im Metaverse zuständig. Freiwilliger Abschied oder erzwungener Abgang? Wie auch immer: Meta, die Firma, steht unter Druck, das Metaverse zum Erfolg zu führen. Jetzt noch mehr als zuvor.
Wir haben Angie Gifford, Vizechefin von Meta in Europa, in unserem Podcast gefragt, warum diese simple Aufnahme überhaupt veröffentlicht wurde. Ihre Antwort lautete:
„Es ist schwierig, zu verstehen, was das Metaverse ist und wie wir dahin kommen. Kommunikation schafft Transparenz, und Transparenz schafft Vertrauen. Gute Kommunikation ist sehr wichtig. Und das versuchten wir mit dieser Darstellungsweise zu verfolgen.“
Was sie mit dieser etwas verschlungenen Antwort vermutlich meint, ist, dass auch bei uns nicht alles rund läuft, aber es ist nicht das Ende aller Tage. Wir sind zu einer langen Reise aufgebrochen und die hat gerade erst begonnen. Und richtig: Besser kommunizieren können wir auch noch. Das gilt sogar für den Chef.
Angie Gifford hat gerade ein Buch mit dem Kapitel „Die digitale Dekade“ herausgegeben. Die Lektüre loht sich, gibt sie doch zwei Dutzend Köpfen Gelegenheit, den Stand der Digitalisierung in Deutschland darzulegen.
Ihre Kernthese lautet:
„In Deutschland haben wir bei der Digitalisierung kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsthema: 88 Prozent der CEOs sagen, dass es großen Nachholbedarf gibt. Und 79 Prozent geben sogar zu Protokoll, Deutschland müsse eigentlich Treiber der Digitalisierung werden.“
Die Krönung der Digitalisierung wäre dann irgendwann auch ein Internet, in dem der reale und der virtuelle Raum nahtlos miteinander verbunden sind.
Heute kaufen wir im Laden um die Ecke genauso wie auf Amazon ein, googeln, unterhalten uns gleichzeitig über Zoom, debattieren auf Twitter und netflixen. Dennoch sind all das einzelne, entkoppelte Anwendungen. Die Idee des Metaverse ist, all diese losen Einzelteile miteinander zu verbinden.
Es ist trotzdem nicht einfach, zu verstehen und sich vorzustellen, was das Metaverse ist. Und es scheint auch, als wüsste selbst Meta noch nicht so richtig, was sie eigentlich im Metaverse sollen. Dennoch: Das Web befindet sich im Umbruch und Meta will weiterhin ganz vorne dabei sein.
Metas Plan ist eine „Metaverse Company“ zu werden, nicht zwangsläufig, dass Facebook das Metaverse vollumfänglich baut. Es bleibt viel Platz für andere. Angie Gifford:
„Das ist nicht unser Metaverse.“
Google, Netflix oder Amazon haben heute auch nicht jeweils ein eigenes Internet. Sie sind nicht das Internet, sondern einzelne, sehr dominante Produkte oder Services im Internet. Und diese Produkte will Meta liefern:
„Es braucht einen Player, der die Infrastruktur, die Hardware, die Sensoren bereitstellt. Wir wollen ein Ökosystem schaffen.“
Während das Metaverse die Frontend-Anwendung des neuen Internets beschreibt, bildet Web3 die Backend-Grundlage. Nach dem Web1 und dem Web2, mit dem wir heute arbeiten, stecken wir nun in den ganz frühen Anfängen des Web3.
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Das Web3 ist eine neue Version des Internets (unten Web-Erfinde Tim Berners-Lee), die auf der Blockchain Technologien aufbaut, durch Tokens orchestriert und über Smart Contracts abgewickelt wird.
Welche Vorteile hat das Web3 im Vergleich zum Web2? Hier die wichtigsten Punkte:
Raffaela Rein hat eine der führenden Online-Schulen für UX-Design gegründet, ist eine Forbes Top Women in Tech und eine der 50 einflussreichsten Frauen in Venture Capital und Startups in Europa. Außerdem ist sie ein aktives Mitglied der Web3 Community. Sie sieht im Web3 eine Revolution. Die Macht im Web wird der Community zurückgegeben:
„Facebook macht Milliarden. Und was bekommen die Nutzer davon? Gar nichts.“
Jack Dorsey, ehemaliger Twitter-CEO, widerspricht ihr oder es mangelt ihm an Optimismus, wenn es um die dezentrale Struktur geht. Dorsey meint, dass es die großen Wagniskapitalfirmen wie etwa Andreessen Horowitz sind, die bereits mehr als 4 Milliarden Dollar für Investitionen bereitgestellt und in mehrere Dutzend Kryptounternehmen investiert haben, die das Web3 letzten Endes kontrollieren werden. Er twitterte:
„Web3 gehört euch nicht, sondern den VCs und ihren LPs. Es ist nichts als eine zentralisierte Einheit mit einem anderen Label.“
Wie sehen also konkrete Anwendungsbeispiele für Unternehmen aus? Einige Beispiele:
„Beim Lieferkettengesetz oder bei ESC könnte man alles von vornherein tracken und würde sich dann viele Kosten sparen,“
sagt Raffaela Rein. Die Blockchain Technologie ermöglicht es, den gesamten Lebenszyklus und die Produktreise vom Rohstoffproduzenten bis zum Endverbraucher zu digitalisieren und nachzuverfolgen. Hersteller können alle Schritte in der Lieferkette unveränderlich aufzeichnen. Denn heute sind diese Nachverfolgungen zeit- und kostenintensiv:
„Wie wird das heute umgesetzt? Bei den meisten Unternehmen wird das wirklich in Fragebögen umgesetzt.“
Einige wichtige Führungskräfte in Technologieunternehmen haben allerdings ihre Skepsis zu Web3 schon öffentlich zum Ausdruck gebracht. Elon Musk etwa verhöhnte es als Marketing Buzzword und scherzte auf Twitter:
„Hat irgendwer das Web3 gesehen? Ich kann es nicht finden.“
Fazit: Das Internet wird sich weiterentwickeln. Dieser Prozess ist bereits in vollem Gange. Ob die nächste Evolutionsstufe des Internets aber eine kollektive, dezentrale Version des Web sein wird oder ob es die großen Player des Web2 schaffen, durch Hardware und Milliardeninvestitionen dem Metaverse ihren Stempel aufzudrücken, das wird die Zukunft zeigen.
Noch spalten sich die Gemüter an der Web3-Front, und zwar in diametral entgegengesetzte Richtungen. Und trotzdem, relativ sicher ist schon heute: Ein reiner Hype sind Web3 und Metaverse schon heute nicht mehr.
Mehr dazu hören Sie heute in unserem Tech Briefing Podcast.
Ihnen und Euch weiterhin einen erfolgreichen Tag.
Herzlich
Storytelling-Coach | Medien und Industrie | Branding | Marketing | Change Management | Speaker
2 JahreGute Fragestellung. Ein Double Bind Problem.
Senior Principal Product Designer at NetSuite
2 JahreDanke für Deinen inspirierenden Reality-Check, Christoph - essentiell für mich war der Amazon Screenshot als Warnung, junge Technologien niemals zu unterschätzen. Allerdings finde ich die zentrale Grafik zur Web 1-2-3 Evolution schlicht falsch - Cloud, KI und darauf aufbauende digitale Assistenten sind alles Web 2 Beispiele für zentrale Services. Hilfreicher finde ich diese Unterteilung: Web1 = READ, Web2 = WRITE, Web3 = OWN. Denn damit wird das entscheidende neue Motiv des dezentralen Eigentums durch die Nutzer deutlich (neues Vertrauen durch im Web 2 fehlende Transparenz, faire Netzwerk-Gewinnteilung, unzensierten Zugriff). Das Metaverse ist dann in +10 Jahren möglicherweise das einzig denkbare User Interface, die Komplexität dieser Milliarden dezentraler User, Bots und Services benutzbar zu machen. Das würde den Hype rechtfertigen - aber nicht 2022 ;)
Co-creator of a digital Europe // Digital Communication by Sopra Steria // Content Management and Media Analytics.
2 JahreMetaverse scheint der Ausdruck der (digitalen) Spaltung der Gesellschaft zu sein. Auf der einen Seite diejenigen, die digitale Technologien frühzeitig nutzen, sind dazu austauschen, was zu einer Art Hype führt. Auf der anderen Seite wächst die Zahl derjenigen, die sich schon heute von der #digitalisierung überfordert fühlen. Deswegen stellt sich die Frage, wie massentauglich #Metaverse ist und wen Unternehmen hier erreichen können.
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2 Jahredanke für die Perspektiven Christoph Keese Ich sehe es eigentlich in Summe sehr positiv, weil das #Metaverse prinzipiell konzeptionell kompatibel mit unseren Sinnen ist Wie bei jeder Adaption einer neuen Technologie gibt es auch hier ein paar Muster 1/Hypecycle 2/fehlende Interface es, die massentauglich und Massen zugänglich sind 3/fehlende kollektive skalierbare Rechenleistung 4/UX, die an die frühen Tage vergangener Technologien und Lösungen erinnern, und heute aber in allen Händen und allen Herzen sind Viel wichtiger ist die Frage, wie sollten Organisationen damit umgehen Und diese Operating Model Frage stellt sich immer wieder vor dem Hintergrund neuer Geschäftsmodelle, und exponentieller Technologien. Also würde ich mich einmal mit dieser Frage befassen. Leuten zusätzlich eine Taskforce, ein Projekt, etc. umzuhängen wird relativ wenig systematische Befassung erlauben Am Spielrand zu sitzen und zu sagen, „das ist nichts, das wird nichts“ ist sicherlich die beste Option, um wieder einen Zug zu versäumen Dr. Martha Boeckenfeld metaverse Academy ist ein guter Spielplatz
Co-Founder @nuwo.co | Not on any Forbes list
2 JahreDanke für euren Artikel 👍 meine persönliche Einschätzung: web3 und Metaverse haben kaum etwas miteinander zutun. Ich sehe vor allem die virtuelle (also 3D Anwendungen) Umgebungen als führendes Medium für das Metaverse, dh vor allem Hardware (AR/VR Brillen) sind essentiell wichtig. Und genau hier ist für mich der Haken des ganzen: jeder Gamer weiß, VR ist noch lange nicht so weit und leider auch nicht besonders erfolgreich (= wenig Umsatz für Weiterentwicklung). Für AR gibt es kaum gute Hardware. Decentraland und Co wurden gepusht durch Crypto-Hochs, heute 90% usage eingebrochen. Echt Anwendungen habt ihr genannt, nur will sie aktuell kein Kunde.