Nachtgedanken 15. Ohne Titel.
Meine betagte Mutter rief mich an: Ihre grosse Schwester liegt im Sterben. Kein Corona, einfach altersbedingt zunehmende Beschwerden und der mutige Entscheid, das Leben nicht um jeden Preis verlängern zu wollen.
Warum das wichtig ist? Weil es wichtig ist, jeden einzelnen Menschen, jedes einzelne Schicksal zu würdigen - so gut es nur geht.
Auch und gerade in diesen Zeiten, in denen uns nackte Zahlen von Todesfällen in aller Welt den Atem rauben. Unbedingt in diesen Zeiten, in denen nicht einmal angemessene Trauerfeiern und Beerdigungen möglich sind.
Ja, es sterben täglich Menschen auf der Welt, die nur als Statistik auftreten, auch jetzt. Hunger, Krieg, Flucht, Lager, andere Krankheiten als Corona.
Aber so lange wir atmen und fühlen, müssen wir wenigstens versuchen, das Leben und Sterben einzelner Menschen wahrzunehmen.
Meine “Tante Dorli” wurde als Älteste von 3 Mädchen (die mittlere, Heidi, ist schon vor vielen Jahren gestorben) in Rawalpindi geboren. Meine Schweizer Grosseltern waren sehr jung nach Indien ausgewandert (heute liegt “Pindi” in Pakistan, nicht allzu weit davon entfernt ist Osama Bin Laden erschossen worden). Zuerst mein Grossvater Emil Kuhn, der nach der Konditor-Lehre keine Stelle fand und als Wirtschaftsflüchtling (!) und Abenteurer nach Indien ging.
Als er ein wenig Fuss gefasst hatte, machte er meiner Grossmutter, die er seit Schulzeiten kannte, einen Hochzeitsantrag. Eine Anekdote behauptet, er habe dies auf einer offenen Postkarte gemacht. Jedenfalls packte meine Grossmutter ihre Sachen, stieg in Italien auf ein Schiff und wurde in einem indischen Hafen von meinem Grossvater abgeholt. Erster scheuer Kuss, Heirat, viel harte Arbeit und beachtlicher wirtschaftlicher Erfolg - aus der Konditorei und Bäckerei wurde ein Hotel. Als Koch ging mein Grossvater mit auf Nanga Parbat-Missionen im Himalaja - bei jedem gescheiterten Versuch starben Bergsteiger. Zu seinen Lebzeiten wurde der Berg nie bezwungen. (Emil Kuhn ist sogar auf einem Foto in einem Buch von Reinhold Messner zu sehen - ich habe allerdings das Bergsteiger-Gen nicht im geringsten geerbt).
Das und einiges mehr geben die spärlichen Quellen her. Meine Grosseltern starben sehr jung, lange bevor ich zur Welt kam. In den 30er Jahren wurden die Töchter eine nach der anderen zurück nach Europa geschickt, wegen der Schule. Nicht in die Schweiz, sondern zu einer Schwester meiner Grossmutter, die in München einen relativ erfolgreichen Kleinindustriellen geheiratet hatte, auch er Schweizer. Meine Mutter wurde dann als letzte 1939, kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs nach München gebracht. Sie sprach vor allem Englisch und Hindi, ihre ersten Schulzeugnisse zeigen, dass sie kaum Deutsch sprach oder verstand. Die Tante, zu der diese 3 Mädchen als Kinder kamen, stellte sich als bösartig heraus (meine Mutter gibt sich noch heute Mühe, auch für deren Verhalten Verständnis zu zeigen; aber die Geschichten die sie erzählt: Die Frau war wirklich übel).
Die 3 Schwestern entwickelten eine eigene Zeichensprache, weil sie in ihrem Zimmer nicht miteinander sprechen durften. Bei kleinstem Fehlverhalten gab es drakonische Strafen.
Dorli schützte die beiden jüngeren Schwestern so gut sie es konnte. Sie nahm vieles auf sich, damit die beiden jüngeren und vor allem meine freiheitsliebende (und manchmal freche und frech lügende!) Mutter nicht die volle Wucht der Bosheit abbekamen.
Später kamen die Revanche-Bombardierungen durch die Allierten, die Angst, die Nöte. Diese Erfahrungen banden die Schwestern stark zusammen.
Meine Mutter kam nach Ende des 2. Weltkriegs 1945 zum ersten Mal in die Schweiz. Zuerst musste sie wochenlang in ein Quarantänelager.
Dorli lernte kurz nach Kriegsende einen amerikanischen GI kennen. Die beiden verliebten sich. Sie heirateten, lebten (wie alles: nach dem Stand meines Wissens) zuerst in Alaska. Ihr Mann arbeitete weiter für die US Army, er diente auch in Vietnam. In den letzten Jahrzehnten lebte Dorli dann in Florida, sie hatten 2 Kinder und viele Grosskinder und Urgrosskinder (das Jüngste kam letzte Woche zur Welt. So ist das Leben: Unglaubliche Freude und tiefe Trauer ganz nahe beieinander).
Dorli und meine Mutter blieben immer in Kontakt. Viele kurze Telefonate (Übersee-Anrufe waren früher sehr teuer), einzelne Besuche von Dorli in der alten Heimat (meine Mutter liebte das Reisen nie - wen wundert’s, dass sie froh war in Basel endlich ihre Heimat gefunden zu haben). Meine Mutter schickte Dorli Schweizer Schokolade und anderes aus der Heimat, das sie in den USA vermisste.
Zum 90. Geburtstag erhielt Dorli eine grosse Anerkennung ihrer methodistischen Kirche, für ihr riesiges Engagement während vielen Jahren. Dass sie danach bald nicht mehr selbst Auto fahren konnte, hat sie geärgert…
Meine Mutter hat am Telefon Abschied genommen von ihrer grossen Schwester. Die Schwester, die sie geschützt und gedeckt hat. Die Schwester, mit der sie Bombardements überlebt hat. Die Schwester, mit der sie nachts im Garten Phosphor einsammelte, das von den Allierten abgeworfen wurde, um Brände auszulösen. Die Schwester, die sie später manchmal auch etwas seltsam fand, wie fast alle Amerikaner.
Die Schwester, die als letzter Mensch eine Verbindung zu ihrer Lebensgeschichte als Kind und als Teenager war.
Das ist nur eine kleine Geschichte unter Hunderttausenden, Millionen.
Wenn wir uns erinnern, behalten wir unsere Menschlichkeit.
Wenn wir Sterbende und Tote betrauern, können wir auch das Leben fröhlich feiern.
Kein Mensch ist nur eine Zahl in einer Statistik. Lasst uns das nie vergessen.
Ich wünsche Tante Dorli ein friedliches Sterben. Und dass ihr tief gegründetes Vertrauen in Gott eine liebevolle Antwort findet. Ich stelle mir vor, dass er/sie Dorli mit offenen Armen erwartet, ihre Tränen abwischt, ihr alles Schwere abnimmt.
Für uns weiter Lebende eine Zeile aus einem Gedicht von Nelly Sachs, die mich immer wieder berührt:
Lasst uns das Leben leise wieder lernen. (Aus “Der Chor der Geretteten”)
Behüt euch!
VR Präsident Basel West Unternehmenskommunikation AG
4 JahreEine hochinteressante, äusserst vielfältige Familie. Aus der ist unser hochgeschätzte, tiefsinnige Martin Dürr hervorgegangen.