„Nein!“ genügt nicht!
Created with Midjourney, prompt (c) Daniel Carinsson

„Nein!“ genügt nicht!

Mehrere hunderttausend Menschen sind Mitte Januar bei klirrender Kälte in zig deutschen Städten auf die Straßen und Plätze gezogen, um zu zeigen, dass sie gegen Rechts sind. Das ist gut und ein Hoffnungsfunke zum Auftakt eines Jahres, das sich anschickt, anstrengend und vielleicht entscheidend zu sein. Mit dem dritten Kriegsjahr in der Ukraine, über 70 Wahlen weltweit unter anderem den Europawahlen und natürlich der Präsidentenwahl in den USA.

Leider wird das nicht genügen, um die Feinde der Demokratie nicht weiter bei demokratischen Wahlen Erfolge einfahren zu lassen. Denn mit „gegen Rechts“ erreichen wir leider genau diejenigen nicht, die jenen Antidemokraten ihre Stimmen geben. Solange wir unter diesem Label agieren, so richtig es auch sein mag, wird es uns ergehen, wie einem Wirt, der „Gratisbier für Stammgäste“ an seine Tür schreibt und sich wundert, dass er keine neuen Gäste gewinnt.

Auslöser für dieses „kleine demokratische Wunder“ von vergangenem Wochenende, wie es die Kommentatorin der ZEIT geschwind betitelte, war bekanntermaßen das aufgedeckte Geheimtreffen allerlei rechtsradikal Gesinnter, die nahe Potsdam über Pläne zu „Remigration“ und  über Massendeportationen sinnierten. Sich sichtbar gegen solcherlei völkische Absichten und für eine offene, diverse Gesellschaft zu positionieren ist fraglos ebenfalls gut und wichtig. Wenn wir aber die Verteidigung unserer offenen Gesellschaft und unserer Demokratie auf die Frage nach Herkunft und Migration reduzieren, tappen wir im wahrsten Sinne zu Hundertausenden in die Falle der Populisten.

"Wenn die FPÖ an die Macht kommt, ist die Demokratie am Ende." "Na und?"

Wenn wir die Demokratie verteidigen wollen, müssen wir wieder klar machen, was uns diese Gesellschaftsform bringt, warum sie unter allen Alternativen noch immer die beste ist, und als erstes müssen wir aufhören, die Demokratie schlecht zu reden.

Denn das machen wir – fortlaufend – seit Jahrzehnten. Von den sogenannten Leitmedien bis zum Boulevard, von Social Media bis zum Stammtisch, ständig machen wir zwar nicht den Begriff Demokratie selbst, wohl aber die wichtigsten Zutaten einer demokratischen Gesellschaft madig: den Staat, die Debatte und den Kompromiss.

„Der Staat“, „das Finanzamt“, „die Steuer“ – wir sprechen über die Institutionen unseres Gemeinwesen, als wären es Aliens oder noch immer s a’la Louis XIV., die sich von unserem „Zehnten“ Schlösser bauen und Mätressen halten.

„Ich muss ja dem Staat nichts schenken.“ Wer hat diesen Satz in der einen oder anderen Variation nicht schon gesagt, wenn das Gespräch in der Kaffeeküche am Arbeitsplatz, im Vereinsheim oder beim Grillabend auf das Thema Steuererklärung kommt. Dass „das Finanzamt“ die gemeinsame Kasse unsere Lebensgemeinschaft ist, die wir Staat nennen, hat dabei kaum noch jemand im Hinterkopf. Es lohnt sich aber den Satz einmal so umzuformulieren: „Ich muss ja unserer Gemeinschaftskasse nichts schenken.“ Stimmt auch, aber wäre das so schlimm?

Wir müssen aufhören, die Säulen der Demokratie madig zu machen!

„Die streiten nur!“ Spätestens seit dem Ende der Ären Kohl in Deutschland oder Schüssel in Österreich sieht sich noch jede Koalitionsregierung diesem Vorwurf ausgesetzt, der so lange gebetsmühlenhaft in Zeitungsbeiträgen wie am Stammtisch wiederholt wurde, bis er geradezu in die DNA der Wählerinnen und Wähler eingesickert ist.

Und nirgends steht einmal jemand mit Reichweite auf und entgegnet „Stimmt, denn das ist ihr Job.“

Die Diskussion, die Debatte, das Ausfechten unterschiedlicher Ansichten und Lösungen zu gesellschaftlichen Themen und Fragen ist die wesentliche Aufgabe von Politikerinnen und Politikern – in Regierungsverantwortung ebenso wie in der Opposition, im Parlament ebenso wie innerhalb von Parteien. Dieser zentrale Mechanismus einer Demokratie wurde und wird seit Jahren stets nur als „Streit“ diskreditiert und wird von den Bürgerinnen und Bürgern daher zum Großteil nur noch negativ wahrgenommen.

Demokratie ist nicht der Sieg einer Mehrheit über eine Minderheit

Demokratie, so glauben inzwischen viele, funktioniere ganz einfach: zu einem Problem gibt es einen Lösungsvorschlag, es wird abgestimmt und wenn die Mehrheit – und sei sie auch noch so knapp – dafür ist, dann wird das so gemacht. Ist sie dagegen, dann nicht.

Die populären, um nicht zu sagen populistischen Rufe nach „direkter Demokratie“ und die fortlaufend unternommenen und veröffentlichten Umfragen zu allem und jedem Thema, vom Wahl-O-Mat bis zur rituellen Sonntagsfrage, verfestigen dieses Zerrbild einer demokratischen Gesellschaft.

Dass es in einer Demokratie aber vielmehr darum geht, Kompromisse zu erarbeiten, die dann von einer Mehrheit getragen werden können, ohne dabei die zu vergessen, die sich nicht angemessen berücksichtigt sehen, erscheint Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie allen Berichtenden und Analysierenden zu kompliziert und mühsam.

Im Gegenteil, wann immer dann notwendigerweise von den Verantwortlichen und Verantwortungsvollen Kompromisse gefunden werden, ist der Tadel schnell zur Hand. Sofort wird untersucht, wer wo „Federn lassen“ musste, wer Sieger und wer Verlierer ist und kaum einmal wird der Frage nachgegangen, was die Gesellschaft eventuell mit einem Kompromiss gewonnen haben könnte.

So wird es den autoritären Populisten leicht gemacht, die Kompromisslosigkeit zur Tugend umzudeuten und mit Slogans wie „Keine Kompromisse“ demokratische Wahlen zu gewinnen, um sie im schlimmsten Fall abzuschaffen, oder bis zur Unkenntlichkeit auszuhöhlen.

Widersprechen wir – nicht nur, wenn es um Massendeportationen geht

Kämpfen wir für unsere Demokratie und unsere freie Gesellschaft, indem wir widersprechen. Vom Mittagstisch in der Mensa bis zur Debatte im Parlament, vom Gespräch nach dem Elternabend bis zur Redaktionskonferenz, von der nächsten Podiumsdiskussion bis zum Smalltalk in der U-Bahn, widersprechen wir, wenn es das nächste Mal heißt „die Politiker streiten eh nur“ und sagen „stimmt, denn genau dafür werden sie ja bezahlt.“ Widersprechen wir, wenn wieder lamentiert wird, dass die Regierungsparteien doch nur wieder einen lahmen Kompromiss zustande bringen, und erwidern wir, „stimmt, denn eine kompromisslose Gesellschaft ist eine autoritäre Gesellschaft.“ Widersprechen wir, wenn die Freunde wieder jammern, dass sie „vom Finanzamt“ abgezockt werden, und erinnern wir sie, dass „der Finanzminister“ das Geld nicht mit nach Hause nimmt. Und ja, natürlich müssen wir auch widersprechen, wenn irgendwer behauptet, Menschen seien keine Mitmenschen und hätten in unserer Gesellschaft keinen Platz.

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